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Big Sur. Jens Rosteck
Читать онлайн.Название Big Sur
Год выпуска 0
isbn 9783866483880
Автор произведения Jens Rosteck
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Vier Minuten Sehnsuchtsmusik, vier Minuten appetitanregender Kurzfilm. Ein Ständchen. Ein kleines Fest der Lebenslust also, ein Bekenntnis zu einem Ort und einer Region, in der außergewöhnliche Glücksmomente gleich im Sekundentakt möglich scheinen. Am Anfang, noch bevor die Gitarre einsetzt und Alanis’ Stimme anhebt, lauschen wir für eine Weile der beeindruckenden Brandung, bekommen gigantische Wogen zu sehen, gegen die jeder Wellenbrecher machtlos wäre, spüren die Kraft des Meeres, das sich, laut Songtext »mit maskuliner Urgewalt«, in Felsnischen und an Steilküsten austobt, die Strände überschwemmt und den Klippen ordentlich zusetzt, eine fauchende, schwer bezähmbare Bestie. Die Windschutzscheibe und der Rückspiegel ihres in die Jahre gekommenen Flitzers dienen der Interpretin als Fenster in eine magische Welt. Und der Liedtext selbst setzt die entscheidenden Assoziationen frei, klappert all die Ausnahmegestalten ab, die Big Sur in der Vergangenheit ihre Aufwartung gemacht haben, damit es zu einer solchen Berühmtheit werden konnte. Eine ganze Ahnenreihe wird von Alanis ins Feld geführt, hemmungsloses Namedropping abgespult. Jack Kerouac und Henry – Miller natürlich – sind ihre Gewährsleute, Anaïs – Nin selbstverständlich – und Richard Brautigan ihre Garanten. Big-Sur-Urgestein. Ganz unbescheiden fügt sie sich und die früheren prominenten Bewohner und Besucher dieser Küste zu Paaren zusammen und nennt sich dabei zu allem Überfluss auch noch zuerst: Es geht um eine erfolgreich stattgefundene Ichfindung. »Me and Anaïs and Henry and Jack«, heißt es, oder auch: »Me and the Ohlone, the Esselen, the Salinan«, womit schon drei Stämme der indianischen Urbevölkerung genannt wären, die hier vor Urzeiten umhergestreift und auch ansässig waren, bevor der weiße Mann sie vertrieb und ausrottete. »Me and Julia, Helmuth«, singt Morissette und ist auf diese Weise auch mit den Pionieren, ersten Siedlern und legendären Ranchgründern der Big-Sur-Gründerzeit per Du; dass sie sie fast alle nur mit Vornamen erwähnt und sich selbstbewusst mit ihnen auf eine Stufe stellt, soll eine imaginäre Vertrautheit suggerieren – begegnet ist sie keinem der vielen Genannten, und auch gekannt hat sie keinen davon. Was zählt, ist, dass sie sich mit ihnen verbunden fühlt, in ihrer Aufbruchsstimmung und Verrücktheit, in ihrem Abenteuergeist, ihrer Begeisterungsfähigkeit und ihrem entdeckerischen Mut. Alanis gehört somit einer jüngeren Generation von Big-Sur-Verehrerinnen und -Verehrern an, die um die ruhmreiche und mythische Vorgeschichte des Landstrichs bestens Bescheid weiß. Sie ist einem Faszinosum erlegen, bekennt sich dazu und versteht sich nun als Erbin illustrer Vorgänger.
»Me« ist die zentrale Song-Silbe, ein lang ausgehaltener Spitzenton, der jeden Satz einleitet, jede herbeigewünschte Paarung beherrscht: Jeder der aufgerufenen Vorläufer ist von nun an ihr Partner. Und auch sonst kennt Alanis sich aus, wirft mit Codeworten wie »Molera« und »Ventana«, die Parks und Kultorte der Küste bezeichnen, nur so um sich, steigt den beliebten Bluff Trail hinauf, hat die entscheidenden Begriffe und Stichwörter parat. Wieder und wieder zählt sie visuell »typische« Highlights auf wie sich selbst überlassene Holzstämme, behelfsmäßige cabins und allgegenwärtige Frösche, hat selbstredend an einem »Schamanen«-Frühstück in einer kleinen Bucht teilgenommen. Fehlen darf ebenso wenig, dass die Bixby Creek Bridge, eines der wichtigsten landmarks am Highway, kurz in den Blick gerät. Sämtlich dienen sie als Belege für ihre Anwesenheit und ihr Angekommensein: gefilmte und besungene Postkartenmotive. Ihr Herzschlag, so verrät sie uns, werde bereits von den Wassergeräuschen im Wald bestimmt. Hier darf sie sich barfuß in der Natur verlieren, hier wähnt sie sich von ihrer Umgebung verstanden und gewärmt. Sie fühlt sich zugehörig. So ist es nur folgerichtig, dass sie bei jedem Refrain zum selben Schluss kommt, dass sie an jedem Strophenende mit Nachdruck bekräftigt: »Alle Straßen führen nach Big Sur, alle Fährten nach Hause laufen in Big Sur zusammen.« Ob sie sich hier nur vorübergehend aufhält oder für immer anzusiedeln gedenkt, bleibt offen. Aber zu ihrem home, ihrer Heimat, ist diese Küste, an der sie kristallklare Luft atmen und reichlich Ballast ihrer eigenen Vorgeschichte abwerfen kann, für sie mittlerweile unzweifelhaft geworden.
Fast beschleicht uns Zuschauer das Gefühl, von Alanis Morissette ein Big-Sur-Werbevideo vorgeführt zu bekommen, so »perfekt authentisch« ist hier alles, mit Inbrunst und Euphorie, in Szene gesetzt. Lässt sich eine noch emphatischere Hommage an den westlichsten Punkt des weiten amerikanischen Westens überhaupt vorstellen? Doch die magnetische Anziehungskraft, die diese Gegend am Ende der Welt auf sie ausübt, wirkt glaubwürdig und ansteckend. Ihr Enthusiasmus und auch ihr Stolz auf die gerade erworbene »Einbürgerung« haben etwas Unwiderstehliches. Was sie uns zu berichten hat, was sie uns präsentiert, das ist – wir nehmen es ihr ab – wahrhaft spektakulär.
Die letzten Szenen finden in der Abenddämmerung statt, die letzten Takte gehören dem sunset und dem Verebben der Emotionen. Ein ins Unendliche geweiteter Pazifikhimmel färbt sich erst orange, dann lila und schließlich blutrot. Einmal rollen die Wellen sogar für einen kurzen Moment rückwärts. Eine Gruppe friedlicher junger Menschen, nur noch als schwarze Silhouetten vor sattem Blau auszumachen, springt auf und wirft Hölzer und Stöckchen in die Luft – und geht so auf Tuchfühlung mit dem Universum.
Und Alanis? Sie entdeckt eine Tramperin am Straßenrand, setzt zurück, fordert sie zum Einsteigen auf. Die junge Frau, die sich zu ihr setzt und ihr zulächelt, ist niemand anders als sie selbst. Begierig, mitzufahren. Voller Optimismus. Zu allen Schandtaten bereit. »Me and me«, so könnte der nächste Refrain anfangen. Mit großen Namen braucht sie sich nun nicht länger zu schmücken, mit ihrem Vorwissen nicht länger anzugeben. Alanis, mittlerweile Schicksalslenkerin und Fahrgast zugleich, Alanis, die Wurzeln schlagen möchte und deren Glücksgefühle sich ganz von allein verdoppelt haben, ist frei.
Linus oder Die Angst
Ende Januar, an einem nicht allzu kühlen Wintermorgen des Jahres 1960, brach Linus Carl Pauling zu einem längeren Spaziergang außerhalb der Deer Flat Ranch auf, die der zweifache Nobelpreisträger seit 1956 mit seiner Frau Ava Helen bewohnte. Ihre Ranch, die herrliche Ausblicke auf den Ozean gewährte, anfangs nur mit dem Allernötigsten ausgestattet war, weder über einen Telefonanschluss noch Elektrizität verfügte und erst später zu einem komfortablen Domizil umgebaut wurde, befand sich im südlichen Abschnitt von Big Sur. Geschützt von einer kleinen Ausbuchtung der Küste, mehrere Meilen unterhalb von Gorda, aber noch nördlich von Ragged Point, unweit der Salmon Creek Falls und am Ende einer Abzweigung des Cabrillo Highway. Keine zwei Stunden, so die Planung, sollte Paulings Strand- und Waldbummel dauern. Es wurden vierundzwanzig.
Der damals Achtundfünfzigjährige, ein deutschstämmiger Chemiker aus Portland, Oregon, den man für seine bahnbrechenden Forschungen, etwa auf dem Gebiet der Quantenchemie, vielfach ausgezeichnet hatte, war in mehrfacher Hinsicht ein höchst ungewöhnlicher Wissenschaftler. Als Wegbereiter der Molekularbiologie galt er in universitären Kreisen als Pionier und veritables Genie, war anerkannt und unumstritten, erntete größte Bewunderung. Doch zählte er auch zu den ersten maßgeblichen Skeptikern, was die Nutzung der Atomenergie und den Umgang mit Nuklearwaffen anging, und wandelte sich, erschüttert durch entsprechende Erlebnisse und Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und danach, allmählich zum Friedensaktivisten und erklärten Widersacher der Atomrüstung. Er sah es, gerade weil er allseits als Autorität wahrgenommen wurde, als seine Pflicht an, die Menschen auf allen Kontinenten über die Konsequenzen dieser bedenklichen Entwicklung aufzuklären und über die Gefahren des Wettrüstens sowie die Gesundheitsrisiken von Atomtests zu informieren.
Schon 1943 hatte er ein Angebot Robert Oppenheimers zur Mitwirkung am berühmt-berüchtigten »Manhattan Project« ausgeschlagen, damals indessen aus familiären Gründen. Einige Jahre später hatte er Albert Einsteins achtköpfigem »Emergeny Committee of Atomic Scientists« angehört, was ihn noch stärker zu einem friedliebenden, verantwortungsvollen und unbeirrbaren Ausnahmeakademiker formte. Paulings Engagement als Vorreiter eines neuen, wissenschaftlich begründeten Pazifismus trug ihm