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über Nacht sind 25 Mitschülerinnen verschwunden. Natürlich haben wir uns sofort gefragt, was da denn los war. Die Antwort der Lehrer, kurz und lapidar: »Das sind alles Jüdinnen. Die mussten weg und haben schon die Stadt verlassen.« Meine Reaktion: Um Gottes willen, ich muss raus aus meiner Schulbank, sofort nach Hause laufen und schauen, ob ich meinen Freundinnen wenigstens noch ein Bussi oder irgendetwas mitgeben kann, denn die haben ja gestern noch gar nicht gewusst, dass sie weg müssen.

      Ich hatte ganz unterschiedliche Freundinnen, aus ganz armen Familien und auch aus gutbürgerlichen beziehungsweise sehr reichen Verhältnissen – und allen ist es gleich ergangen, es war schauerlich. Ich bin in die Häuser gelaufen, um nach ihnen zu suchen. Bei manchen stand die Wohnungstür offen, und es hatte sich schon der Hausmeister in der jüdischen Wohnung breitgemacht. Das ging alles ruck, zuck, sie übersiedelten alle von ihren Kellergeschoßen in diese tollen Wohnungen.

      Rechtlich war es abgedeckt, innerhalb weniger Stunden waren die Wohnungen arisiert. Noch heute denke ich mir, wie schnell es gehen könnte, dass sich alles zum Bösen wendet, wenn eine politische Kraft am Werk ist, die für so viele Menschen sinnvoll erscheint.

      Nicht alle meiner Freundinnen waren jüdisch. Meine allerbeste Freundin, deren Eltern fanatische Nazis waren, hat in der Neubaugasse im 1. Stock gewohnt. Im Erdgeschoß war eine riesige Parfümerie, in der ihr Vater als ganz normaler Angestellter einer geregelten Arbeit nachging. Als ich sie besuchte, sah ich, dass die ganze Familie in die arisierte Wohnung des Parfümeriebesitzers gezogen war. Meine Freundin tippte sich auf die Stirn und meinte, ihre Eltern wären verrückt geworden. Sie war unglaublich zornig auf ihren Vater.

      Wir Kinder waren ja größtenteils recht vernünftig und haben die Welt der Erwachsenen mit Erstaunen und sehr viel Argwohn beobachtet.

      Ihr Vater hat das Geschäft übernommen und sich dort schließlich halb zu Tode gearbeitet. Als der Krieg aus war, musste die ganze Familie fliehen. Sie ließen sich in Tirol nieder, dort habe ich sie oft besucht. Als Kind von Nazieltern hatte man keine Chance, egal welche Einstellung man selbst hatte. Ich war froh um unsere eigene Welt – die nichts mit jener der Erwachsenen zu tun hatte.

      Eine meiner besten Freundinnen war die ungarische Jüdin Agi Boroš, mit der ich die Volksschule besuchte. Auch sie habe ich von einer Sekunde auf die andere nicht mehr gefunden. Sie hatte rechtzeitig mit ihrer Familie nach Ungarn fliehen können. Nur ihr Vater weigerte sich, zu gehen. Die Vorstellung, sein geliebtes Wien zu verlassen, war ihm unmöglich, also blieb er. Wir wohnten damals schon in der Rotenturmstraße, die Familie Boroš und wir waren Nachbarn. Ihr Vater lebte nach der Flucht seiner Familie als Untermieter im Nachbarhaus. Ich traf ihn meist abends oder nachts auf der Straße – dann, wenn alles leer war und er weniger Angst haben musste, entdeckt und geschnappt zu werden. Ähnlich wie meine älteste Schwester lebte er mehr oder weniger geschützt, aber in völliger Anonymität und immer in Angst. Ich steckte ihm ab und zu ein Stück Brot zu oder auch eine andere Kleinigkeit. Manchmal half ich ihm einfach dabei, ein Stück zu gehen, denn er war sehr krank und gebrechlich. Kurze Zeit später kam er ins Spital. Ein paar Mal habe ihn noch besucht. Als er starb, hat er mir sein einziges Hab und Gut vermacht: einen Koffer mit Unterwäsche und Kleidung.

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      Mit Agi Boroš, meiner besten Freundin, Mitte der 1980er-Jahre.

      7. Mai 1990

      Morgen, 8. Mai, soll »Kriegsendetag« sein. Der Tag, an dem ich 1945 von der Rotenturmstraße aus zur Peterskirche ging und als alle Glocken läuteten! Wir weinten und küssten einander – im Freien! Ich weiß noch, wie glücklich ich war!

      Nach dem Krieg war die ungarische Grenze für kurze Zeit offen und meine Freundin Agi konnte nach Wien zurückkehren. An der Grenze wurde sie von Samaritern empfangen. Man fragte sie, wohin sie denn wolle. Sie meinte nur: »Rotenturmstraße 19, da wohnt meine Freundin, und die heißt Zeller.«

      »Die Familie kenn ich – die haben da ja so eine kleine Bar, die Bibi-Bar«, meinte einer der Samariter, nahm Agi mit und lieferte sie bei uns ab.

      Sie wohnte danach bei uns, bis ihre Ausreisepapiere für die USA fertig waren. Später reiste sie von den USA nach Kanada weiter und ließ sich dort nieder. Wir blieben in Kontakt, haben uns über all die Jahre nie aus den Augen verloren und einander immer wieder besucht.

      Für mich war das Merkwürdige an der ganzen Geschichte, dass ich immer voller Scham ihr gegenüber war, sie hingegen immer voller Fröhlichkeit. Einige Male habe ich sie gefragt, wie sie uns – und damit meinte ich uns Österreicher – denn vergeben könne, denn immerhin habe man ihr die Heimat gestohlen und alles, was für sie wichtig und von Bedeutung war. Agi zuckte nur mit den Schultern und meinte, es gäbe überall nette und schreckliche Menschen, egal wo man sei. Wenn es irgendwo mehr schreckliche als nette gebe, dann ziehe man eben weg. Eine unglaubliche Haltung, die ich immer bewundert habe.

      Natürlich hat meine Freundin nicht unrecht – überall gibt es anständige und auch schreckliche Menschen. Mein Vater gehörte da eindeutig zur Kategorie »anständig«. Er hatte fast ausschließlich jüdische Freunde und war in der Lage, vielen zu helfen. Es war wie eine Kettenreaktion: Kaum hatte sich herumgesprochen, dass sich mein Vater für seine jüdischen Freunde einsetzte, kamen immer mehr und baten ihn, ihnen bei der Ausreise zu helfen. Mein Vater hatte überall hin Verbindungen – wie das zustande kam, ist mir völlig unklar. Und er hatte ein gewisses Auftreten. Dadurch ist ihm vieles gelungen.

      Aus Dankbarkeit wollten einige jener Menschen, denen er helfen konnte, ihm entweder Gemälde da lassen, manche sogar ihre Wohnungen überschreiben – wir hatten ja nur eine winzige Wohnung. Aber mein Vater hat weder einen Groschen genommen noch ein Gemälde, noch irgendeinen Gegenstand von Wert behalten oder angenommen. Er hat gesagt: »Das kommt so etwas von überhaupt nicht infrage.«

      Seine Überzeugung war, den Menschen zu helfen, so gut er es eben vermochte. Dafür zu sorgen, dass sie zu ihren Tickets kamen, in Sicherheit ausreisen konnten und möglichst unbehelligt blieben.

      Er hat mir erzählt, wie wichtig es war, dass sie ihn als Verbindungsmann hatten, denn wenn sie auf sich allein gestellt waren, wurden sie geschlagen, getreten und angeschrien. Durch sein Auftreten und auch die Bestimmtheit, die mein Vater ausstrahlte, hat es zumindest mit den Ausreisepapieren geklappt. Er konnte fast allen seinen jüdischen Freunden und Bekannten helfen, halbwegs sicher aus Wien rauszukommen. Für ihn war das eine Selbstverständlichkeit, keine Heldentat.

      Natürlich ging all dies nicht spurlos an meinem Vater vorüber, aber auch er fand eine Möglichkeit, mit dem Grauen umzugehen. Um seinen eigenen Schmerz über die vielen verlorenen Freunde zu verbergen, tat er oft so, als würden sie einfach auf eine geplante Reise gehen – und so war dann alles nicht so schlimm.

      Jahrzehnte später schrieb ich in meinem Tagebuch über meinen Vater:

      27. September 1989

      Ich denke an meinen Vater. Wenn ich so dasitze und meine gealterten Hände und Schenkel sehe, dann erinnere ich mich an den Schmerz, den ich empfand, als mein Vater in diesem Zustand war. Ich war unendlich traurig und fasziniert, wenn ich meine Brüder und Schwägerinnen ansah, die irgendwie in ihrem Verhalten zeigten: Es ist bald vorbei. Diese Brutalität kam mir unsagbar schmerzlich zu Bewusstsein.

      Obwohl: Und was hatte ich getan? In der Rotenturmstraße 19 bin ich hinter seinem Sarg hergelaufen – die Treppen runter, so hastig, allein gelassen und kindlich, als wäre ich gerade vier Jahre alt geworden. Oh Gott! Es ist ein Sekundenleben, das wir alle führen.

      Nach der Volksschule steckten meine Eltern mich in die Hauptschule am Loquaiplatz 4. Das Gymnasium haben sie mir offenbar nicht zugetraut. Doch schon bald stellte sich heraus, dass ich in der Hauptschule ziemlich unterfordert war. Meine Brüder Fritz und Willi meinten, ich sollte doch lieber das Gymnasium besuchen, dann hätte ich wenigstens die Matura und könnte, wenn ich wollte, studieren. So wurde beschlossen, dass ich aufs Gymnasium in die Rahlgasse wechseln sollte.

      Das erste Schuljahr, das ich in der Hauptschule abgeschlossen hatte, wurde mir nicht angerechnet, ich musste extra noch eine Aufnahmeprüfung machen und kam dann in die erste Klasse. In der Rahlgasse blieb

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