Скачать книгу

ist nur…« Er stieß die Worte abgehackt heraus und wagte nicht, den Mann anzusehen. »In mir sitzt eine Angst, ich weiß nicht waurm. Immer hab ich Angst. Früher kannte ich so ein Gefühl gar nicht. Aber seitdem sie tot sind… meine Eltern meine ich… da sitzt sie in mir. Sie quält mich, sie läßt mich nicht schlafen. Mir ist es manchmal, als wackelte ein Stein über meinem Kopf, der jeden Moment herunterfallen könnte. Verrückt, was?«

      »Gar nicht. Der Tod der Eltern hat euch aus eurem behüteten Alltag herausgewirbelt. Ganz normal, daß du dich wie ein Blatt im Wind fühlst.«

      »Genauso ist es«, stieß er erleichtert aus, glücklich, daß der Mann ihn verstand. »Ich habe nie darüber nachgedacht, nicht im Traum ist mir der Gedanken gekommen, daß meine Eltern sterben könnten. Daß ein Leben ohne sie möglich war… das habe ich nie in Erwägung gezogen. Ich mag mit Susanne nicht darüber sprechen, Susanne ist wunderbar. Aber ich habe immer Angst, daß ihr auch etwas passieren könnte. Wenn sie länger als fünf Minuten fortbleibt, bin ich in Panik. Wie soll das weitergehen? Das kann doch nicht immer so bleiben! Ich hab’ einmal versucht, mit Thomas darüber zu sprechen, aber zum Glück empfindet er nicht so. Lea, ja, die sieht manchmal so komisch aus, so verloren, so wie die Waisenkinder auf den Fotos.«

      Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter, es würgte Jonathan im Hals. Und nicht das kleinste Wort fiel ihm ein, das er dem Jungen zum Trost sagen konnte. Jonathan spürte, daß alle Flosken, die man für gewöhnlich auf Lager hatte, hier nicht angebracht waren.

      Es bleibt nicht so… Zeit heilt Wunden, Zeit hilft…

      »Sieh mal, unser Patient ist eingeschlafen. Ich habe mir überlegt, Hannes, wir brauchen eine große Kiste, sie muß so hoch sein, daß sie nicht heraushüpfen kann. Und verletzen darf sie sich natürlich auch nicht.«

      Johann krauste die Nase, die Tränen hingen noch an seinen Wimpern, für einen Jungen hatte er beinahe zu lange Wimpern. Jedes Mädchen mußte ihn darum beneiden.

      »Aber wohin stellen wir die Kiste? Charlie wird sich vermutlich nicht mit ihr anfreunden. Der Kerl ist ja eifersüchtig auf alle Tiere.«

      »Wir lassen sie einfach hier«, bestimmte Jonathan fröhlich. »Sie ist doch hier gut aufgehoben. Du kannst natürlich so oft herüberkommen, wie du willst. Vielleicht können wir uns die Arbeit mit dem Füttern teilen.«

      Johann glühte vor Eifer, für den Augenblick hatte er seinen Kummer vergessen.

      »Toll. Was fressen Möwen denn?«

      »Wir werden das in meinem schlauen Buch nachlesen. Jeden Tag können wir natürlich keine Fische für sie fangen, sie wird sich schon mit bescheidener Kost zufrieden geben müssen«, lachte Jonathan und legte dem Jungen wie selbstverständlich die Hand auf die Schulter, so, als wären sie gleichaltrige gute Freunde.

      »Sie… Sie sind einfach knorke«, stieß Johann heraus und wurde brandrot dabei. »Dämlich von uns, daß wir in Ihnen unseren Feind sahen. Wir haben Sie sogar mit einer bekloppten Nachbarin verglichen.«

      »Vielleicht habt ihr nicht wirklich mich gemeint«, tröstete Jonathan den Jungen. »Ihr habt einfach einen Feind gesucht, ein Feind kann für Ferientage eine tolle Unterhaltung sein.«

      »Wie Sie das verstehen«, staunte Jonathan ehrlich. Er schluckte, setzte dann leise hinzu: »Ich kann mir nicht helfen, aber manchmal erinnern Sie mich an unseren Vater. Dabei sah er ganz anders aus, als Sie. Aber er war… er war so prima, wie Sie sind.«

      Jonathan schlug dem Jungen auf die Schulter, daß der sogar ein wenig in die Knie ging.

      »Du hast mir ein verflixt großes Kompliment gemacht. Danke. Ich finde euch aber auch super, sogar Charlie, wenn er sich die Kehle aus dem Hals bellt. Und natürlich Susanne.«

      »Sie fühlen sich nicht mehr gestört, wenn wir Radau machen?«

      »Sieh mich nicht an, als wäre ich ein Menschenfresser. Nein, ich fühle mich nicht durch euch gestört.«

      »Ich kapier das ja«, behauptete Jonathan altklug, »als Sie sauer waren über den Kinderlärm, da kannten Sie uns noch nicht. Da wußten Sie noch nicht, wie nett wir sind. Wirklich, wir sind eine richtig nette Familie.«

      Tränen sprangen in seine Augen. »Uns fehlen nur die beiden wichtigsten Personen. Aber zum Glück haben wir ja Susanne.«

      Einträchtig bastelten sie eine Unterkunft für die Möwe. Sie fanden in dem Schuppen, der voll Gerümpel war, eine Kiste, sie polsterten sie mit Sand und Gras aus.

      Als Lea herangestürzt kam und sie an die Zeit erinnerte, sahen sich die beiden Arbeiter betreten an.

      »So spät ist es schon!« Johann sah betreten auf seine Uhr.

      »Da soll jemand an die Zeit denken, wenn man so wichtige Arbeiten zu erledigen hat«, verteidigte er sich. »Susanne hatte doch keine Angst? Oder ärgert sie sich?« wollte er ängstlich wissen.

      »Nee«, beruhigte die kleine Schwester den großen Bruder. Lea trug einen bunten Badeanzug und rote Sandalen an den nackten Füßen. Jonathan musterte das Kind mit einer Zärtlichkeit, die ihm gar nicht bewußt war. Kein Gramm Fett war an dem Kind zu viel, wie süß das Gesicht war, die Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten, die ihr fröhlich auf der Schulter wippten.

      »Zeig mal«, forderte sie den Bruder eifrig auf, als der ihr von der Möwe erzählte. »Du Arme«, bemitleidete sie das Tier und strich zärtlich über das Köpfchen.

      »Au, sie hat mich gehackt«, beschwerte sie sich entrüstet.

      »Sie kennt dich eben nicht. Mich hat sie schon akzeptiert. Sie ist verdammt schlau, sag ich dir. Sie weiß genau, daß ich ihr das Leben gerettet habe. Jonathan und ich werden sie füttern. Immer abwechselnd.«

      »Wieso nennst du ihn Jonathan?« Lea musterte den Bruder eifersüchtig. Eigentlich war sie der Meinung, daß der Mann ihre Errungenschaft war.

      »Weil er mir gesagt hat, daß ich ihn so nennen soll«, trumpfte Johann auf. »Er und ich sind Freunde. Du, er ist einfach umwerfend, einfach toll«, vertraute er dem Mädchen leise an. Johann war ins Haus gegangen und kam mit einer dickbauchigen Flasche zurück.

      »Ein Mitbringsel«, nickte Lea und tat, als wäre sie mit den Gepflogenheiten der Gesellschaft bestens bertraut. »Hoffentlich kein Rotwein, den trinkt Susanne nicht gern, dabei hat Papa ihr immer gepredigt, daß Rotwein gesunder und bekömmlicher ist. Aber manchmal kann Susanne schrecklich stur sein«, setzte sie seufzend hinzu.

      »Laß sie man, wie sie ist. Sie ist in Ordnung, und ob sie Rot- oder Weißwein trinkt, das ist doch ihr Bier.«

      Lea warf beleidigt den Zopf in den Nacken und musterte ihren Bruder ärgerlich. »Gehen wir, oder willst du Susanne noch länger warten lassen? Schließlich ist es kein Vergnügen, bei dieser Hitze auf dem Minikocher Reibekuchen zu backen. Und Thomas ist so quengelig wie Fridolin, wenn er sich langweilt. Der hat Susannes Nerven heute morgen ganz schön strapaziert.«

      »Ich werde mich heute nachmittag mit ihm beschäftigen«, versprach Jonathan. »Mir wird schon etwas einfallen, womit ich ihn unterhalte. Er ist doch nicht krank, oder?«

      »Nee. Das ist typisch Thomas«, nörgelte Lea, sie ging dicht neben Jonathan und überlegte, ob sie einfach ihre Finger in seine Hand schieben sollte. Aber auf keinen Fall wollte sie bei ihm wie ein Kind erscheinen. »Er macht oft Theater, er schiebt sich in den Vordergrund. Wenn er bei Mama die erste Geige spielen wollte, dann hat er sogar über Bauch- oder Kopfschmerzen geklagt. Mama ist immer darauf hereingefallen. Manchmal hat sie sich dann auf sein Bett gesetzt und ist bei ihm geblieben, bis er eingeschlafen ist. So ein Angeber. Bei Susanne versuchte er das heute auch. Wenn er stöhnt oder jammert, rennt sie schon zu ihm. Er liegt im Liegestuhl, nicht mal Charlie hält es bei ihm aus, der hat auch schon die Kurve gekratzt. Würde mich nicht wundern, wenn Susanne durch die Rennerei heute ein paar Pfund abgenommen hat.«

      Schon bekam Johann ein flaues Gefühl in den Magen, sein Gewissen zwickte ihn.

      »Statt mich um ihn zu kümmern, bin ich durch die Dünen

Скачать книгу