Скачать книгу

es ganz recht – ganz recht …

      End­lich wur­de sie so müde, dass al­les um sie her und in ihr ver­schwamm. Mit wüs­tem Kopf stand sie auf und kroch tau­melnd in ihr Bett.

      *

      Aga­the hat­te ihre Mut­ter nicht mehr lieb. Heim­lich trug sie die Ge­wis­sens­not und den Schmerz dar­über – eine zu schwe­re Bür­de für ihre Kin­der­schul­tern. Ihre Hal­tung wur­de schlaff, in ih­rem Ge­sicht­chen zeig­te sich ein ver­drieß­li­cher, mü­der Zug. Aber der Arzt, den man be­frag­te, mein­te, das käme von dem ge­bück­ten Sit­zen auf der Schul­bank.

      Ei­ni­ge Zeit spä­ter wur­de Aga­thes Va­ter als Ver­tre­ter des Lan­drats in eine klei­ne­re Stadt ver­setzt. Hier gab es kei­ne hö­he­re Töchter­schu­le und Aga­the be­kam eine Gou­ver­nan­te.

      All­mäh­lich er­hol­te sie sich und wur­de wie­der mun­ter. Wahr­schein­lich ver­hielt sich al­les gar nicht so, wie Eu­ge­nie ge­sagt hat­te, dach­te sie nun. Weil es ihr zu un­mög­lich er­schi­en, ver­gaß sie ihre ver­wor­re­ne Weis­heit zu­letzt so ziem­lich. Nur hin und wie­der durch ein Wort von Er­wach­se­nen, eine Stel­le in ei­nem Buch, durch ein Bild ge­weckt, zu­wei­len ohne jede Ver­an­las­sung wach­te die Erin­ne­rung an die Stun­den in Wu­trows Gar­ten und in den dunklen Kor­ri­do­ren in ih­rem Ge­dächt­nis auf und quäl­te sie wie ein schlech­ter Ge­ruch, den man nicht los wird, oder wie die Mit­wis­ser­schaft ei­nes trü­ben, ver­häng­nis­vol­len Ge­heim­nis­ses.

      III.

      Frau Heid­ling heg­te das un­be­stimm­te Ide­al ei­nes in­ni­gen Ver­hält­nis­ses zwi­schen ei­ner Mut­ter und ih­rer ein­zi­gen Toch­ter. Doch wuss­te sie durch­aus nicht, wie sie es be­gin­nen soll­te, ein sol­ches zwi­schen sich und Aga­the her­zu­stel­len. Sie sorg­te mit pein­li­cher Pf­licht­treue für de­ren An­zug, für Zahn­bürs­ten, Stie­fel und Kor­setts. Aber wenn Aga­the mit ei­nem Aus­bruch ih­res bren­nen­den In­ter­es­ses für al­les und je­des in der Welt: für die Rät­sel in Ne­ros Cha­rak­ter und für Bür­gers Lie­be zu Mol­ly, für die Rin­ge des Sa­turn und die Au­fer­ste­hung der To­ten zu ih­rer Mut­ter kam, sah sie im­mer nur das­sel­be halb ver­le­ge­ne, halb be­schwich­ti­gen­de Lä­cheln auf dem blas­sen, kränk­li­chen Ge­sicht. Und ge­ra­de dann wur­de ihr meist das Wort ab­ge­schnit­ten mit ei­ner von den un­auf­hör­li­chen Er­mah­nun­gen: hal­t’ Dich ge­ra­de, Aga­the – wo ist Dein Zopf­band wie­der ge­blie­ben! Wirst Du denn nie ein or­dent­li­ches Mäd­chen wer­den? Das reiz­te sie bis zu Trä­nen und un­ge­zo­ge­nen Ant­wor­ten.

      Frau Heid­ling frag­te sich oft er­staunt, ob sie selbst nur ein­mal so schreck­lich leb­haft und ex­al­tiert ge­we­sen sein kön­ne – jetzt war ihr doch al­les, was au­ßer­halb ih­rer Fa­mi­lie und ih­res Haus­hal­tes vor­ging, sehr gleich­gül­tig. Ihr Mann hielt die in sei­ne Form ge­klei­de­te geis­ti­ge Be­schei­den­heit an der Frau vor al­lem hoch, und liebt man einen Mann, so sucht man doch un­will­kür­lich ge­nau so zu wer­den, wie er es gern hat. Ja – und die vie­len Wo­chen­bet­ten und der Tod von klei­nen Kin­dern – das macht den Kopf ei­ner Frau recht müde. Aber da­für hat man sei­ne Pf­licht im Le­ben er­füllt. Frau Heid­ling konn­te sich oft ängs­ti­gen, dass Aga­the durch die­ses un­ru­hi­ge Um­her­fah­ren ih­rer Ge­dan­ken noch ein­mal auf Ab­we­ge ge­ra­ten wer­de.

      Mit der Gou­ver­nan­te hat­te das Mäd­chen folg­lich die hef­tigs­ten Sze­nen. Fräu­lein wur­de ganz von dem Plan be­herrscht, den wohl­ha­ben­den Apo­the­ker des Städt­chens oder einen ält­li­chen Ge­richts­rat da­hin zu brin­gen, sie zu hei­ra­ten. Aga­the ver­ach­te­te sie des­halb aus vol­lem Her­zen. Mit bit­te­ren Ge­füh­len mach­te sie sich aber klar, dass nicht nur zwi­schen Fräu­lein und ihr, son­dern auch zwi­schen El­tern und Kin­dern eine un­aus­füll­ba­re Kluft be­ste­he. Ein­sam und von nie­mand ver­stan­den, wer­de sie an die­sem Kum­mer ster­ben müs­sen. Mit ei­nem wah­ren Schwel­gen in grau­sa­men Ra­che­ge­lüs­ten konn­te sie sich dann die Reu­e­trä­nen ih­rer Mut­ter, die Verzweif­lung des Va­ters vor­stel­len. Papa hat­te sie üb­ri­gens doch lie­ber als ihre Mut­ter. Zwar lach­te er meis­tens, wenn sie eine Mei­nung äu­ßer­te, aber er zank­te doch we­nigs­tens nicht so viel. Ei­gent­lich war es noch ein Trost, dem Ge­dan­ken nach­zu­hän­gen, sie sei viel­leicht gar nicht das rech­te Kind ih­rer El­tern und dar­um kön­ne sie sie nicht so heiß lie­ben, wie es ihr sehn­lichs­ter Wunsch war. Denn sonst – sonst wäre sie ja ein ganz schlech­tes, ver­dor­be­nes Kind ge­we­sen.

      Frau Heid­ling er­kun­dig­te sich bei an­de­ren ver­trau­ens­wür­di­gen Frau­en, wie her­an­wach­sen­de Mäd­chen zu be­han­deln sei­en. »Man soll ja nicht mur­ren«, sag­te sie seuf­zend, »aber es ist doch recht wun­der­lich vom lie­ben Gott ein­ge­rich­tet, dass die Mut­ter, die die Kin­der ge­bo­ren hat, nach­her gar kei­ne Kraft mehr üb­rig be­hält, sie auch zu er­zie­hen. Aga­the greift mich furcht­bar an.«

      Über­all riet man ihr »die Pen­si­on«. Sie sah also, dass das Übel, wel­ches sie quäl­te, ein weit­ver­brei­te­tes war, und das be­ru­hig­te sie voll­stän­dig.

      Da sie in ih­rem frü­he­ren Wohn­ort, der Haupt­stadt der Pro­vinz, man­nig­fa­che Be­zie­hun­gen un­ter­hielt, wand­te sie sich dort­hin, um von ei­nem ge­eig­ne­ten In­sti­tut zu hö­ren. Sie wähl­te, da­mit ihre Toch­ter sich in der Frem­de nicht ver­las­sen füh­len möge, die An­stalt, wo sich meh­re­re frü­he­re Freun­din­nen von Aga­the be­fan­den, un­ter ih­nen Eu­ge­nie Wu­trow.

      *

      »Du – ge­ste­he mal gleich, wer ist denn Dein s­wee­the­ar­t

      So lau­te­te eine der ers­ten Fra­gen, die ihre Mit­schü­le­rin­nen an Aga­the rich­te­ten, nach­dem die Vor­ste­he­rin sie in das Ar­beits­zim­mer ge­führt hat­te, wo die jun­gen Mäd­chen mit Hef­ten, Bü­chern und Hand­ar­bei­ten um einen großen Tisch sa­ßen.

      Aga­the lern­te be­reits seit ei­nem Jah­re Eng­lisch, aber das Wort s­wee­the­ar­t war in der Gram­ma­tik noch nicht vor­ge­kom­men. Das sag­te sie schüch­tern und wur­de furcht­bar aus­ge­lacht.

      Aga­the be­wohn­te mit Eu­ge­nie den­sel­ben Schlaf­saal. An­fangs wur­de sie von der kin­di­schen Furcht be­un­ru­higt, Eu­ge­nie kön­ne ir­gend wel­che An­spie­lun­gen auf die Ge­sprä­che ma­chen, die sie als klei­ne Mäd­chen mit­ein­an­der ge­führt. Aber Eu­ge­nie schi­en die Erin­ne­rung dar­an voll­stän­dig ver­lo­ren zu ha­ben. Sie war ein hüb­sches und schon recht ele­gan­tes Mäd­chen ge­wor­den. Aga­the fass­te, zu ih­rer ei­ge­nen Ver­wun­de­rung, so­fort eine hef­ti­ge Lie­be für sie. Es gab nun kein grö­ße­res Ver­gnü­gen, als mit Eu­ge­nie Wu­trow zu­sam­men zu sein, sich an sie zu schmie­gen und sie zu küs­sen. Eu­ge­nie be­han­del­te die Zu­nei­gung ih­rer Kind­heits­ge­spie­lin wie die Ver­eh­rung ei­nes Man­nes. Bis­wei­len war sie kalt und sprö­de und wies Aga­thes Lieb­ko­sun­gen her­be ab. Aga­the konn­te sie we­der durch das Aner­bie­ten, die Re­chen­auf­ga­ben für sie zu lö­sen, noch durch schwär­me­ri­sche Brie­fe, die sie auf das Kopf­kis­sen ih­rer Freun­din nie­der­leg­te, er­wei­chen. Plötz­lich war Eu­ge­nie dann aber wie­der ent­zückend nett.

      Aga­the litt neu­er­dings viel an Zahn­weh und ge­schwol­le­nen Ba­cken. Wenn sie des Nachts hin­ter dem Wand­schirm – der Schlaf­saal wur­de in die­ser Wei­se zu ver­schie­de­nen Pri­vat­käm­mer­chen ge­teilt – auf ih­rem La­ger stöhn­te

Скачать книгу