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die Ge­mü­ter der Pen­sio­nä­rin­nen hef­tig er­reg­te, nicht zu der ge­lieb­ten Freun­din ste­hen konn­te. Etwa zehn der jün­ge­ren, die noch nicht kon­fir­miert wa­ren, hat­ten Re­li­gi­ons­un­ter­richt bei dem Di­rek­tor des In­sti­tuts, ei­nem Dok­tor der Theo­lo­gie und Phi­lo­lo­gie, Na­mens En­gel­bert. Er ge­hör­te dem Pro­tes­tan­ten­ver­ein an, war aus Ge­wis­sens­be­den­ken nicht Geist­li­cher ge­wor­den und sprach sei­nen Schü­le­rin­nen of­fen die An­sicht aus: er hal­te Je­sus Chris­tus nur für einen Men­schen, den rich­ti­gen Sohn der Ma­ria und des Jo­sef. Darob ent­stand ein großer Aufruhr un­ter den Mäd­chen. Die Toch­ter ei­nes eng­li­schen Pre­di­gers er­klär­te, ihre El­tern wür­den sie so­fort zu­rück­ru­fen, wenn sie so et­was von Dr. En­gel­bert hör­ten. Aga­thes from­mer Wun­der­glau­be em­pör­te sich ge­gen eine so nüch­ter­ne Auf­fas­sung der Er­lö­sungs­ge­schich­te. Dr. En­gel­bert gab sich aber be­son­de­re Mühe, ge­ra­de sie zu sei­ner An­sicht zu be­keh­ren. Es wa­ren nicht vie­le un­ter den jun­gen Mäd­chen, die welt­ge­schicht­li­che Fra­gen mit ei­nem so per­sön­li­chen In­ter­es­se er­fass­ten, wie Aga­the. Zum ers­ten Mal wur­de sie vor eine selbst­stän­di­ge Ent­schei­dung ge­stellt, Dr. En­gel­bert for­der­te stets Selbst­stän­dig­keit von sei­nen Zög­lin­gen. Aga­the blieb hart­nä­ckig ih­rem Gott-Hei­lan­de treu. Ohne Wun­der und ohne das Wal­ten über­ir­di­scher Mäch­te schi­en die Welt ihr öde und lang­wei­lig. Wo­hin sie schau­te, war al­les Le­ben, Ge­burt und Tod ihr nur ein Wun­der, sie fühl­te sich um­ge­ben von un­be­greif­li­chen Ge­heim­nis­sen, an die man nicht zu tas­ten wag­te.

      In den Re­li­gi­ons­stun­den gab es lei­den­schaft­li­che Dis­pu­ta­tio­nen, un­be­stimm­te, aber de­sto hef­ti­ge­re Aus­ein­an­der­set­zun­gen, bis Aga­the schluchz­te, und auch Dr. En­gel­bert, ei­nem weich­mü­ti­gen Idea­lis­ten, die hel­len Trä­nen in sei­nen großen Voll­bart lie­fen. Der Glau­bens­streit wur­de in den Frei­stun­den und bis in die Schlaf­sä­le hin­ein fort­ge­setzt. Eu­ge­nie stell­te sich gleich auf die Sei­te von Dr. En­gel­bert. Sie äu­ßer­te, dass nur ein be­schränk­ter Ver­stand an Wun­der glau­ben kön­ne. Aga­the beb­te in der Furcht, Eu­ge­nie möch­te sie für dumm hal­ten und ihr die Freund­schaft kün­di­gen. Aber die Aus­sicht in ein ewi­ges Le­ben voll En­gel­ge­sang und himm­li­scher Glo­rie konn­te sie der Freun­din doch nicht op­fern.

      Wel­ches Glück emp­fand Aga­the da­her, als Eu­ge­nie sie ei­nes Abends in ihr Käm­mer­chen her­über­hol­te und mit Cho­ko­la­de füt­ter­te. Eine äl­te­re, aus Gleich­gül­tig­keit ge­gen al­les Deut­sche ziem­lich duld­sa­me Eng­län­de­rin führ­te die Obe­r­auf­sicht über den Saal. Au­ßer Aga­the und Eu­ge­nie schlie­fen nur noch ei­ni­ge neu an­ge­lang­te Lands­männ­in­nen der Miss dar­in.

      »Aga­the, hast Du schon ein­mal einen Mann gern ge­habt?« frag­te Eu­ge­nie lei­se.

      »Aber Eu­ge­nie, wie kannst Du denn so et­was den­ken«, flüs­ter­te Aga­the er­schro­cken und wur­de dun­kel­rot.

      »Du hast kein Ver­trau­en zu mir«, sag­te Eu­ge­nie ver­letzt und schloss die Schach­tel mit der Cho­ko­la­de in ihre Kom­mo­de.

      »Geh’ nur, ich bin müde.« Sie blies das Licht aus und leg­te sich zu Bett. »Wenn Du of­fen wä­rest, wür­de ich Dir auch et­was ge­sagt ha­ben. Aber Du bist im­mer so ver­steckt. Du bist eine Tu­gend­heuch­le­rin. Ja, das bist Du.«

      Eu­ge­nie dreh­te sich nach der Wand. Aga­the saß zag­haft im Kor­sett und Un­ter­rock auf dem Bett­rand. Aus den an­de­ren Kam­mern drang ru­hi­ges At­men und ein zu­frie­de­nes Mur­ren, wel­ches die Eng­län­de­rin beim Schla­fen aus­zu­sto­ßen pfleg­te. Es war be­hag­lich warm im Zim­mer und roch nach Man­del­kleie und gu­ter Sei­fe.

      Aga­the ent­schloss sich end­lich, zu ge­ste­hen, dass sie ih­ren Vet­ter Mar­tin gern habe. Sie woll­te sich des Ver­trau­ens der an­ge­be­te­ten Eu­ge­nie wür­dig zei­gen.

      Eu­ge­nie hob den Kopf. »Habt Ihr Euch ge­küsst?«

      Aga­the be­teu­er­te, dass es nicht »so« wäre; sie habe ih­ren Vet­ter ja nur lie­ber als die an­de­ren Jun­gen.

      Eu­ge­nie streck­te sich auf ih­rem La­ger aus und leg­te den Arm un­ter den Kopf.

      »Aga­the, ich habe ge­liebt!« sprach sie nach ei­ner Wei­le dumpf und fei­er­lich.

      Aga­the schlug das Herz wie ein Ham­mer in der Brust.

      »Und – und – hast Du …?«

      »Ge­küsst –; ach – zum er­sti­cken! Und er mich!«

      Eu­ge­nie hat­te sich auf­ge­rich­tet, bei­de Arme um die Freun­din ge­wor­fen und press­te sie hef­tig an sich. Aga­the fühl­te, wie das Mäd­chen am gan­zen Lei­be beb­te.

      »Des­halb ha­ben sie mich ja in Pen­si­on ge­schickt! – Aber es wäre doch zu Ende ge­we­sen. Der Er­bärm­li­che! Aga­the – er war mir treu­los!«

      Sie warf sich in die Kis­sen zu­rück, aus den Fe­dern drang ihr er­stick­tes Schluch­zen.

      »Wer war es denn?«

      »Ei­ner aus un­serm Comp­toir … Weißt Du – das klei­ne Zim­mer, wo die Kis­ten mit den Zi­gar­ren­pro­ben ste­hen, wo es so dun­kel ist – da war es, da ha­ben wir uns im­mer ge­trof­fen. Ach – wie er schmei­cheln konn­te, wie er süß war und mich auf sei­ne Knie nahm, wenn ich nicht woll­te …«

      Eu­ge­nie küss­te Aga­the lei­den­schaft­lich und stieß sie dann fort. »Geh, Du bist ein Kind – ich hät­te Dir das nicht sa­gen sol­len.«

      Aga­the be­teu­er­te, dass sie kein Kind sei.

      »Schwö­re, dass Du es nie­mand er­zäh­len willst! Auch nicht Dei­ner Mut­ter. Hebe die Fin­ger in die Höhe! Schwö­re bei Gott!«

      Aga­the schwur. Sie war ganz be­täubt vor Stau­nen.

      »Er woll­te mir nach­rei­sen«, stieß die auf­ge­reg­te Eu­ge­nie her­vor.

      »Hier­her?«

      »Er soll nur kom­men! Mit den Fü­ßen sto­ße ich ihn fort! Er hat mich be­tro­gen! Der Schuft! Mit Rosa hat er’s zu glei­cher Zeit ge­hal­ten, und die hat al­les er­zählt, aus Ra­che! Ich has­se ihn!«

      »Eu­ge­nie – ach Du arme Eu­ge­nie! Ich ahn­te ja nicht, wie un­glück­lich Du warst«, flüs­ter­te Aga­the mit scheu­er Ver­eh­rung.

      »Nein, man sieht es mir nicht an«, sag­te Eu­ge­nie. »Am Tage ver­stel­le ich mich. Aber des Nachts –! Da will ich mir oft das Le­ben neh­men. Wenn ich dies Chlo­ro­form aus­trin­ke, bin ich tot. Ich tra­ge es im­mer bei mir!«

      Ent­setzt riss Aga­the der Freun­din das Fläsch­chen mit den Zahn­trop­fen aus der Hand und be­schwor sie un­ter Trä­nen, um ih­rer El­tern und ih­rer Freund­schaft wil­len das Da­sein zu er­tra­gen.

      Sie stand un­ter dem Zau­ber der großen klas­si­schen Lei­den­schaf­ten – Erin­ne­run­gen an Eg­mont, an Ama­lia und The­kla tau­mel­ten durch ihre Fan­ta­sie, die Freun­din wuchs ihr zu ei­ner un­er­hör­ten Grö­ße durch das Ge­ständ­nis, dass auch sie »ge­lebt und ge­liebt« habe.

      Nur das rach­süch­ti­ge Fa­brik­mäd­chen war ihr stö­rend in die­ser hei­li­gen Sa­che. Üb­ri­gens glaub­te sie nicht, dass der Com­mis treu­los sei. Er wür­de si­cher bald er­schei­nen und al­les

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