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antwortete nicht. Gavin ließ seine Hand nicht los.

      Ich begriff, was Mut war; jemanden mehr zu lieben, als man sich selbst liebt.

      Meine Mutter und Nila Castile kamen mit einer Schubkarre zurück. »Wir setzen dich hier rein, Daddy«, sagte Nila zu ihm. »Wir können dich da hinschieben, wo Miz Rebecca sagt, dass sie Leute mit Autos abholen.«

      Mr. Thornberry atmete lange und tief ein, hielt ein paar Sekunden die Luft an und stieß sie dann wieder aus. »Verdammt«, flüsterte er. »Verdammtes altes Herz in einem verdammten alten Idioten.« Bei dem letzten Wort brach seine Stimme ein wenig.

      »Lassen Sie uns Ihnen auf die Beine helfen«, sagte Mom.

      Er nickte. »Na gut«, meinte er. »Ist wohl Zeit zu gehen, was?«

      Sie bugsierten ihn in die Schubkarre, aber Mom und Nila merkten sehr schnell, dass sie es trotz Mr. Thornberrys Magerkeit schwer haben würden ihn zu schieben und seinen Kopf über Wasser zu halten. Ich erkannte die missliche Lage: Auf der überfluteten Straße würde Gavin untergehen. Die Strömung konnte ihn wie einen Maiskolben davonreißen. Wer würde ihn über Wasser halten?

      »Wir werden noch mal zurückkommen müssen, um die Jungs zu holen«, beschloss Mom. »Cory, du nimmst die Lampe. Du stellst dich mit Gavin auf den Tisch hier.« Die Tischplatte war von Wasser überspült, aber wir würden außer Reichweite der Flut sein. Ich tat wie befohlen, und Gavin kletterte ebenfalls auf den Tisch. Wir standen mit der kleinen Kiefernholzinsel unter unseren Füßen da, ich mit der Lampe in der Hand.

      »Also gut«, sagte Mom. »Cory, du bewegst dich nicht vom Fleck. Wenn du dich bewegst, versohle ich dich dermaßen, dass du dich für den Rest deines Lebens daran erinnern wirst. Hast du das verstanden?«

      »Ja, Ma’am.«

      »Gavin, wir sind sofort wieder da«, sagte Nila Castile. »Wir müssen Grandpap rausbringen, damit ihm jemand helfen kann. Hörst du?«

      »Ja, Ma’am«, gab Gavin zurück.

      »Ihr Jungs hört auf eure Mütter«, meldete sich Mr. Thornberry zu Wort. Seine Stimme war rau von Schmerzen. »Ich geb euch beiden den Gürtel zu schmecken, wenn ihr nicht hört.«

      »Ja, Sir«, sagten wir im Chor. Ich nahm an, dass Mr. Thornberry sich gegen das Sterben entschieden hatte.

      Mom und Nila Castile begannen das Unterfangen, Mr. Thornberry in der Schubkarre durch das braune Wasser zu schieben. Jede von ihnen hatte einen Schubkarrengriff gepackt und Mom hielt die Taschenlampe in der anderen Hand. Sie hielten die Schubkarre in so steilem Winkel wie möglich, und Mr. Thornberry reckte den dürren Hals, an dem die Venen hervorstanden. Ich hörte meine Mutter vor Anstrengung ächzen. Aber die Schubkarre bewegte sich und sie schoben sie durch das im Türrahmen wirbelnde Wasser auf die überflutete Veranda hinaus. Am Fuße der aus zwei Betonblöcken bestehenden Treppe reichte das Wasser Mr. Thornberry bis an den Hals und spritzte ihm ins Gesicht. Sie gingen weiter. Die Strömung erfasste sie von hinten und half ihnen, die Schubkarre zu schieben. Ich hatte meine Mutter noch nie für eine körperlich starke Frau gehalten, doch ich nehme an, man weiß nie, was ein Mensch leisten kann, bis eine Situation kommt, in der er es leisten muss.

      »Cory?«, fragte Gavin nach einer Minute oder so.

      »Ja, Gavin.«

      »Ich kann nicht schwimmen«, sagte er.

      Er rückte näher an mich heran. Er hatte zu zittern begonnen, jetzt, wo er nicht mehr für seinen Grandpap mutig sein musste.

      »Das ist okay«, sagte ich. »Du wirst ja auch nicht schwimmen müssen.« Hoffte ich.

      Wir warteten. Mit Sicherheit würden sie bald wiederkommen. Das Wasser leckte an unseren durchnässten Schuhen. Ich fragte Gavin, ob er irgendwelche Lieder singen konnte, und er sagte, dass er On Top of Old Smoky kannte. Er begann es in einer hohen und zittrigen, aber nicht unangenehmen Stimme zu singen.

      Sein Singen – eigentlich eher ein Jodeln – erregte die Aufmerksamkeit von etwas, das plötzlich durch die offene Tür hereingepaddelt kam. Bei dem Geräusch stockte mir der Atem. Ich hielt die Lampe so, dass das Licht in die Richtung des Geräuschs fiel.

      Es war ein brauner Hund mit schlammverklebtem Fell. Seine Augen glänzten wild im Licht. Sein Atem ging keuchend, als er durch das Zimmer und Treibgut von Papier und anderen Sachen auf uns zuschwamm. »Na komm schon, Dicker!«, sagte ich. Ob er dick oder dünn war, spielte keine Rolle; der Hund sah aus, als bräuchte er Grund unter den Pfoten. »Na komm!« Ich gab Gavin die Lampe und der Hund wimmerte und jaulte, als eine langsame Welle durch den Türrahmen glitt und ihn auf und nieder schaukelte. Wasser klatschte gegen die Wände.

      »Na komm, Dicker!« Ich bückte mich, um den strampelnden Hund hochzuziehen. Ich packte seine Vorderpfoten. Er sah mir ins Gesicht wie ein wiedergeborener Christ, der an Jesus appelliert. Seine rosafarbene Zunge hing ihm im trüben gelben Licht aus dem Maul.

      Ich zog den Hund an seinen Pfoten heran und fühlte, wie er zitterte.

      Irgendetwas machte Krrrps.

      So schnell.

      Und dann kamen der Kopf und die Schultern aus dem dunklen Wasser und plötzlich war nach der Mitte des Rückens kein Hund mehr da, keine Hinterbeine, kein Schwanz, keine Hinterpfoten, nichts außer einem klaffenden Loch, aus dem ein Strom von schwarzem Blut und dampfenden Eingeweiden fiel.

      Der Hund gab ein leises Wimmern von sich. Mehr nicht. Aber die Pfoten zuckten und sein Blick war auf mich gerichtet, und die Qual, die ich in seinen Augen sah, werde ich nie vergessen können.

      Ich schrie auf – was ich schrie, werde ich nie wissen – und ließ das Ding fallen, das einst ein Hund gewesen war. Es klatschte ins Wasser, ging unter, trieb wieder hoch, und die Pfoten versuchten immer noch zu paddeln. Ich hörte Gavin kreischen; etwas, das wie WillstewasserMars? klang. Und dann spritzte das Wasser um den halbierten Kadaver auf, der seine Eingeweide wie einen grausigen Schweif hinter sich herzog, und ich sah die Haut irgendeiner Kreatur aus der Wasseroberfläche brechen.

      Die Haut war mit rautenförmigen Schuppen in Herbstfarben bedeckt: hellbraun, glänzendes Lila, tiefes Gold und gelbbraunes Rostrot. Auch alle Farbschattierungen des Flusses waren zu sehen, von Spiralen in Schlamm-Ocker bis hin zu Mondscheinrosa. Ich sah einen Wald von Muscheln an der Haut kleben, graue Narbentäler und Angelhaken, die rot von Rost waren. Ich sah einen Körper, stämmig wie eine uralte Eiche, der sich langsam im Wasser drehte, als hätte er alle Zeit der Welt. Der Anblick hypnotisierte mich trotz Gavins Angstschreien. Ich wusste, was ich hier vor mir hatte, und obwohl mein Herz hämmerte und ich kaum atmen konnte, dachte ich, dass diese Kreatur so schön wie jeder Teil von Gottes Schöpfung war.

      Und dann erinnerte ich mich an den gezackten Reißzahn bei Mr. Sculley, der wie ein Messer in dem Stück Holz steckte. Schön oder nicht – Old Moses hatte soeben einen Hund durchgebissen.

      Er hatte immer noch Hunger. Es geschah so schnell, dass mein Verstand kaum Zeit hatte, es wahrzunehmen: Der Kiefer öffnete sich und Zähne glänzten. Auf einem Zahn steckte außer einem zappelnden silbernen Fisch ein alter Stiefel fest. Das Maul saugte die verbleibende Hälfte des Hundekadavers mit einem wilden Aufwirbeln von Wasser ein und schloss sich dann so zart und gefühlvoll, wie unsereins einen sauren Lutschbonbon im Lyric genoss. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf ein schmales hellgrünes Katzenauge in Baseballgröße, das von einer gelatineartigen Haut geschützt war.

      Und dann fiel Gavin vom Tisch ins Wasser, und die Lampe, die er in der Hand gehalten hatte, erlosch mit einem Zischen.

      Ich dachte nicht daran, dass ich mutig sein musste. Ich dachte nicht daran, dass ich Angst hatte.

       Ich kann nicht schwimmen.

      Das war es, woran ich dachte.

      Ich sprang an der Stelle vom Tisch, an der Gavin hinuntergefallen war. Das Wasser war so voller Schlamm, dass es sich schwer anfühlte. Es reichte mir bis an die Schulter, was bedeutete, dass Gavin bis zu den Nasenlöchern drinstecken musste. Er schlug und trat um sich, und als ich ihn an der Taille packte, musste er gedacht

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