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ihr genau zu. Dr. Coran war seiner Meinung nach ein sehr angenehmer Anblick. Er erinnerte sich daran, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Ihm war die Luft weggeblieben. In dieser Umgebung war sie natürlich ein starker, unübersehbarer Kontrast zu der von Männern dominierten Szenerie, aber selbst in einem Raum voller gut aussehender Frauen würde sie seiner Meinung nach noch herausstechen. Jessica hatte langes, kastanienfarbiges Haar, das eine wilde Mähne bildete, wenn sie es nicht zurückband. Ihr seidiger Teint wirkte vor dem marineblauen Anzug mit der weißen Spitzenbluse makellos, doch jetzt lag die Kostümjacke draußen im Auto auf ihrem Mantel und war von einer Leinenschürze ersetzt worden, die ihren Minirock bedeckte. Das lenkte jedoch nicht von ihrer schlanken Figur ab. Otto sah, wie Stowell und so manch anderer ihr ab und zu einen Blick zuwarfen.

      Großartige Gene, machte er sich klar. Mit 17 war sie ein großes und gertenschlankes Mädchen gewesen mit einer erstaunlichen Grazie für ihr Alter. Sie war so groß wie ihr Vater und hatte sein wissendes Glitzern in den Augen, dazu die rauchige Stimme ihrer Mutter und deren hohe Wangenknochen. Sie hatte diese charakteristische Die-Arbeit-geht-vor-Einstellung, die ihren Vater beim Militär so unersetzlich gemacht hatte. Boutine hatte Dr. Oswald Coran als einen der besten medizinischen Ermittler kennengelernt, den er je getroffen hatte, so wie auch jeder andere, der mit dem Mann zu tun gehabt hatte – darunter Familienangehörige vermisster Soldaten, Senatoren, Generäle und Präsidenten. Coran hatte einige kontroverse Autopsien geleitet, seine Expertise war sehr gefragt, wenn es darum ging, Zweifel bei einer Ermittlung auszuräumen – beispielsweise vor zwei Jahren, als zwei Senatoren binnen einer Woche durch Flugzeugabstürze ums Leben kamen.

      Oswald Coran war an einer lähmenden Krankheit gestorben, die ihm durch Muskelschwäche die Kontrolle über seine Glieder genommen hatte. Nur sein Geist war unversehrt geblieben, gefangen in einem nutzlosen, verwelkten Körper. Für einen solchen Mann war das wie eine Höllenstrafe gewesen. Es gab Gerüchte, sein plötzlicher Tod sei das Ergebnis von Sterbehilfe gewesen, aber dem wurde nie nachgegangen. Tragischerweise starb Jessicas Mutter bei einem Autounfall, kurz bevor ihr Vater krank wurde. Irgendwie hatte Jessica es überstanden und ihre Assistenzzeit am Bethesda Marinekrankenhaus beendet, an dem ihr Vater Chef der forensischen Abteilung gewesen war.

      Laut Jessicas Vater achtete die Navy im Gegensatz zur Army darauf, dass ihre medizinischen Praxiskräfte die nötige Ausbildung bekamen. Er bestand darauf, dass sie entweder bei der Navy oder auf einer medizinischen Privatschule ausgebildet wurde. Sie wählte Letzteres, aber als »Navy-Spross« war ihr Leben von Entwurzelung, Veränderung und ständigen Brüchen geprägt. Trotz ihres sanften Äußeren war sie deswegen sehr tough und hatte keinen Schimmer, wie umwerfend sie aussah. Ihre Vorstellung von Schönheitspflege bestand darin, die Haare zusammenzubinden und ein wenig Parfüm aufzulegen – mehr brauchte sie auch gar nicht zu tun.

      Sie hielt sich in dieser Nacht zurück, überließ Boutine die Führung, aber jeder der Anwesenden wusste, dass sie das Sagen hatte, dass sich etwas verändert hatte, als sie sich an die Arbeit machte. Charisma, der X-Faktor, was immer es war, das die Menschen um sie herum beeindruckte – sie hatte jede Menge davon. Otto wusste, er hatte nicht viel mehr als die Fähigkeit, andere einzuschüchtern und zu verängstigen.

      Er hatte sie bei der Zeremonie getroffen, als man ihren Vater zum Chef der forensischen Abteilung in Bethesda gemacht hatte. Damals war sie vielleicht 16 oder 17 gewesen. Seitdem war sie noch hübscher geworden.

      Unvermittelt stand sie auf und streckte die Beine aus, die sich schon verkrampft hatten, weil sie die ganze Zeit in der Hocke saß. Sie drehte sich um und bemerkte, dass er Löcher in die Luft starrte. Fast höflich fragte sie: »Bist du am Tagträumen, Otto? Ausgerechnet jetzt?«

      Er ließ sich nicht anmerken, was in ihm vorging, und schoss zurück. »Abwehrmechanismus.« Ob sie auch nur ahnte, dass sie Gegenstand seiner Gedanken war?

      »Hilf mir mal«, sagte sie. »Ich brauche die Pinzette, die ich drüben bei meiner Tasche gelassen habe, und noch ein Reagenzglas, bitte.«

      Er steckte seine nicht entzündete Pfeife ein und nickte: »Sicher, sicher … sonst noch was?«

      Otto spürte, wie die anderen Männer sie ansahen. Vermutlich waren sie auf ihn neidisch. Nicht weil er schon so lange beim FBI war oder so viel erreicht hatte, sondern weil er sie persönlich und beruflich kannte.

      »Die Familie hat ein Recht darauf, dass das zu einem Abschluss gebracht wird«, sagte Dr. Samuel Stadtler in ihr Ohr. Der grauhaarige, verkniffen aussehende örtliche Pathologe trieb sich schon seit Stunden am Rand des Tatorts herum und nervte den Sheriff mit seinem Gerede, weil er von Jessica in keiner Weise darum gebeten worden war, zu helfen.

      »Es könnte eine Weile dauern, bevor ich Ihnen die Leiche übergeben kann, Dr. Stadtler«, sagte sie ihm. »Und ich will bei der Autopsie dabei sein, verstehen Sie?«

      »Ich verstehe mehr, als Sie glauben«, sagte er geheimnisvoll. »Zum Beispiel weiß ich, dass Mord das Federal Bureau of Investigation normalerweise nicht interessiert. Ich weiß, dass Stowell Sie dazugeholt hat, und ich weiß, wie Sie arbeiten, nämlich ohne einen Gedanken an die Familie zu verschwenden.«

      Otto trat dazwischen, als er das hörte und merkte, wie all die andern Polizisten begierig darauf warteten, dass es zum Showdown zwischen dem alten Landarzt und der jungen Ärztin kommen würde. Otto sagte: »Das ist jetzt Sache der Bundespolizei, Dr. Stadtler …«

      Aber Jessica schnitt ihm das Wort ab und baute sich direkt vor Dr. Stadtler auf. »Und Sie können entweder kooperieren oder von dem Fall komplett abgezogen werden. Es liegt an Ihnen.«

      »Ich habe hier die Zuständigkeit, Doktor«, blaffte Stadtler sie an.

      »Nein, nein, haben Sie nicht. Außer, wenn uns die Behörden hier zum Gehen auffordern, erst dann«, konterte sie. »Und jetzt, Sir, schlage ich vor, da Sie sich ja so viel Sorgen um die Familie machen, setzen Sie sich mit ihnen zusammen und helfen ihnen, mit ihrer Trauer fertig zu werden.«

      Stadtlers Gesicht war rot angelaufen und er fand keine Worte, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen. Er sah sich nach Unterstützung um, aber als er keine fand, marschierte er hinaus. Sie hörte, wie er sein Auto anließ, und dann das Holpern und Knirschen des rollenden Wagens auf dem mit Unkraut überwachsenen Waldweg.

      Otto drehte sich zu ihr und sagte: »Du wirst noch häufiger feststellen, dass die Leute vor Ort sich von uns bedroht fühlen, wenn wir hinzugezogen werden.«

      »Gott, ich hoffe, ich hab nicht alles noch schlimmer gemacht.«

      »Nein, nein, wie du mit ihm umgegangen bist, war wie aus dem Lehrbuch.«

      Sie lächelte das erste Mal an diesem Abend. Ottos Stirn war eines seiner beeindruckendsten Merkmale, da sie so dominierend und breit war. Sein mächtiger Schädel ging in einen sanft schmaler werdenden Kiefer und ein markantes Kinn über. Er hatte ein langes Gesicht mit einer Vielzahl an verschiedenen Ausdrücken, die alle ein ums andere Mal schwer zu lesen waren. Er war groß, fast schon majestätisch; seine aufrechte Haltung und zupackende Art machten stets Eindruck. Und jetzt durchdrangen Ottos Augen, eine Mischung aus Stahlblau und Schneeweiß, den Nebel ihrer Müdigkeit, und für einen Moment sah sie den Schmerz hinter diesen Augen, den Geist eines Dämons, vielleicht auch zwei oder drei. Dämonen, die Sorgenfalten in sein Gesicht meißelten. Sorgen, denen er keinen Ausdruck verleihen konnte.

      »Werd mal besser hier fertig«, sagte er und wandte die Augen von ihrem durchdringenden Blick ab, als versuchte er, der Frage darin zu entgehen.

      »Ja, richtig.«

      Boutine wandte sich wieder den anderen Männern zu, die er an der kurzen Leine hielt und sie zurück zur Arbeit befahl. Er sagte ihnen genau, was Dr. Coran wollte und brauchte, bis er allen so auf die Nerven gegangen war, dass eine missmutige Stille das überfüllte kleine Todesloch einhüllte. Otto trat nach draußen, um ein wenig frische Luft zu schnappen.

      Jedem hier war dieses Mordopfer nahegegangen, hatte sie auf eine Art und Weise berührt, wie niemand je berührt werden wollte. Sie bemerkte erst jetzt, wie sehr es Otto mitgenommen hatte.

      Die Vorstellung, dass in dieser Welt jemand existierte, der ihr alles Blut aussaugen wollte, es

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