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Stowell richtete seine großen, traurigen Augen wieder auf den dunklen Schemen, der neben ihm hing, und sagte mit zärtlicher Stimme: »Niemand kann dir jetzt mehr wehtun, Candy. Und wir haben dich gefunden … wir haben dich gefunden.«

      Draußen fiel plötzlich ein Schuss. Stowell raste zur Tür, seine eigene Waffe sprang ihm fast in die Hand und seine Augen suchten nach einer Gefahr. Doch er sah nur Junior Lumley auf der Lichtung stehen, die Waffe im Anschlag. »Da hat sich was bewegt, Sheriff. In den Büschen«, sagte er mit zittriger Stimme.

      Stowell ging zu der Stelle. Lumleys Kugel hatte ein streunendes Tier niedergestreckt, das nun vor Schmerzen wimmerte. Das Wimmern klang nicht nach einem Hund. Der Klagelaut steigerte sich plötzlich zu einem lauten, gruseligen Kreischen, bevor er verstummte und alles wieder ruhig war.

      »Vorsichtig, Sheriff … vorsichtig«, warnte Lumley hinter ihm.

      Stowell trat mit dem Fuß nach dem toten Opossum. Dessen rasiermesserscharfe Zähne waren deutlich zu sehen, weil es das Maul in einer erstarrten Grimasse des Schmerzes verzogen hatte. Stowell biss die Zähne zusammen und versuchte, seinen Ärger zu kontrollieren. Zu Lumley gewandt sagte er streng: »Du steckst jetzt diese verdammte Wumme ein und lässt sie dort, Junior.«

      »Aber, Sheriff …«

      »Geh zu dem gottverdammten Wagen zurück, damit du den anderen den Weg zeigen kannst.«

      »Sie bleiben hier bei der Leiche?«

      »Geh, Junior, geh!«

      »Ich gehe, Calvin, ich geh ja schon!«

      Lumley verschwand über den Holzweg. Stowell rief ihm hinterher: »Und wenn die anderen hier sind, dann nennst du mich Sheriff, Junior! Sheriff!« Manchmal hätte Calvin Stowell den Sohn seiner Schwester am liebsten erwürgt.

      Er sah wieder auf das tote Opossum am Boden und die kleine Blutlache auf der Erde, die im Kontrast zu dem unbesudelten Boden unter der Leiche des Copeland-Mädchens stand. War sie woanders getötet und erst später hierhergetragen worden? Aber wieso sollte man sie an den Fersen aufhängen, damit jeder, der vorbeikam, ihre Leiche sehen konnte? Und wenn sie woanders zerstückelt worden war, wo sollte das gewesen sein? Ohne Zweifel wäre dort alles voller Blut. Der Rundbrief des FBI hatte auf einen Killer hingewiesen, der das Blut der Leiche mitnahm, aus welchen abgefuckten rituellen oder vampirischen Gründen auch immer.

       Einige Stunden später.

      Der Anblick des Leichnams in seiner unnatürlichen, umgedrehten Position, der in der Mitte des Tatorts hing, ließ Jessica Coran unkontrolliert zittern. Als das Eis in ihren Venen langsam aufzutauen begann, wurde sie für einen Moment wütend auf Otto Boutine. Er hatte ihr nicht gesagt, dass es so erschütternd sein würde. Er hatte sie nicht auf das ganze hässliche Ausmaß an Brutalität vorbereitet, das an der Leiche zu sehen sein würde. Aber es wäre vielleicht sinnlos gewesen, es auch nur zu versuchen; vielleicht konnte tatsächlich niemand einen darauf vorbereiten, da zu stehen und sich auf einen derart diabolischen Anblick zu konzentrieren.

      Aber sie musste sich konzentrieren. Es war ihr Job. Dafür war sie über den halben Kontinent gereist. »Alles klar, Jessica?«, fragte Boutine neben ihr.

      Alle im Raum starrten sie plötzlich an. Die Männer waren wohl neugierig, wie sie auf etwas reagieren würde, das ihrer Ansicht nach nicht geeignet war für die Augen einer Frau.

      »Ja ja, alles klar, Otto.« Sie versuchte sich trotz des Horrors vor ihr zusammenzureißen, doch eine Stimme in ihrem Kopf schrie: Renn! Renn weg, Mädchen! Vielleicht war sie noch nicht bereit für die Verantwortung, vielleicht hatte sie Ottos Vertrauen gar nicht verdient. Aber eine zweite Stimme in ihrem Inneren, die sie an ihren verstorbenen Vater erinnerte, sagte ruhig: Steh deinen Mann, Jess.

      Als sie erneut den verstümmelten Arm ansah, der fast unmittelbar unter der zerfetzten Schulter lag, aus der er gekommen war, zögerte sie erneut. Der Anblick der verstümmelten Brust und der Vagina war wie ein Schlag in den Magen. Sie ging zu der Wand, an der dicke, massive Zedernscheite aufgeschichtet waren. Sie versuchte ein wenig Trost zu finden, indem sie das Zedernholz anfasste, glatt und hart und sauber.

      Otto legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter und flüsterte: »Ich denke, du gehst besser noch mal raus und kommst wieder rein, Jess. Ich begleite dich.«

      »Gib mir nur eine Minute, okay?«

      Otto nickte und strich eine Locke seiner langen, graumelierten Haare aus dem Gesicht. »Sicher … sicher …«

      Sie war froh, dass er nicht sah, wie die nächste Welle der Desorientierung über sie hinwegspülte. Ihr Gleichgewichtssinn schien in ihrem Kopf Achterbahn zu fahren. Fenster und Türen waren geöffnet worden, aber der Geruch der relativ frischen Leiche im Raum hing wie eine schwere Nebeldecke über dem Ort. Nach den ersten Tagen der Zersetzung war Verwesungsgeruch leichter zu ertragen, aber der erste Eindruck, der an einen Rehkadaver erinnerte, der vor einer Jagdhütte an einem Baum hängt, füllte das Hirn mit urtümlichen Eindrücken von Blut und Tod. Nicht einmal das Licht des Stromaggregats der Polizei konnte den düsteren Horror dessen vertreiben, was hier passiert war.

      Aber es war eine Tatsache, dass der Mord noch nicht lange her war, der Ottos Aufmerksamkeit erregt und dafür gesorgt hatte, dass sie in einen Jet in Richtung Wekosha, Wisconsin, gestiegen war, zusammen mit dem besten psychologischen Profiler des ganzen Landes. Es war die Aussicht, einen Tatort vor sich haben, der noch nicht durch Verwesung oder den Zahn der Zeit zerstört worden war – oder durch die Dämlichkeit irgendeiner örtlichen Polizeibehörde, die nicht dafür gewappnet war, mit Fällen von sexueller Verstümmelung durch einen möglichen Serientäter umzugehen.

      Otto hatte so eine Ahnung, dass dieser Tod in der Kleinstadt Wekosha einige Gemeinsamkeiten mit früheren Fällen aufwies, die sich über den gesamten Mittleren Westen erstreckten; Fälle, die andere längst zu den Akten gelegt hatten, Boutine aber immer noch schlaflose Nächte bereiteten. Alles Morde, bei denen das FBI nur wenig Hinweise hatte.

      Ihr Job hier bestand darin, das Verbrechen rechtsmedizinisch zu rekonstruieren, als eine Art »Negativ« des Bösen, das hier vorbeigekommen war. Daraus ließe sich vielleicht ein klares Bild des Killers ermitteln, vielleicht auch nicht.

      Die Hüttenwände, der Boden, die Decke, die Objekte im Raum, all das half schweigend und barg Geheimnisse, die allein sie der Welt verständlich machen konnte. Sie musste die unsichtbaren, mikroskopischen Beweise aus dem größeren, schockierenden Gesamtbild extrahieren, das sich ihnen bot.

      Es war keineswegs der erste Leichnam eines Folteropfers, den sie gesehen hatte, aber irgendwie war hier, in freier Wildbahn, alles ein wenig anders. Der Leichnam wurde nicht in einem ordentlich verschlossenen Sack mit Reißverschluss in ein hell erleuchtetes forensisches Labor geliefert und es gab keine Wasserschläuche oder Operationstische aus rostfreiem Stahl. Stattdessen baumelte hier ein verstümmelter Körper an seinen Fersen mit einem Seil befestigt von der Decke, die Kleidung zerfetzt und verstreut, die Haare ein gruseliges Flechtwerk, die blutlosen Glieder wie die einer Schaufensterpuppe.

      Es ist etwas anderes, wenn man weiß, dass man stirbt … wenn man auf furchtbare Weise stirbt … wenn das eigene Leiden verlängert wird …

      Sie hatte den Blick abgewandt und sah nun wieder nach oben auf die Leiche. Die Zähne zusammenbeißend zwang sie sich, stark zu sein. Woher sie es wusste, konnte sie nicht sagen, aber ihr war klar, dass das Opfer langsam gestorben war, sich seines schrecklichen Schicksals voll bewusst.

      Zu wissen, dass der eigene Tod unmittelbar bevorsteht …

      Ein beengter Raum. Keine andere Frau zu sehen, außer ihr und der Leiche, die leicht hin und her schaukelte, weil irgendwer sie berührt hatte oder dagegengestoßen war.

      Flüstern, unverständliche Unterhaltungen, abgestandene uralte Gerüche, eine dunkle Höhle … eine schreckliche Art zu sterben.

      In all dem Lärm und dem Durcheinander aus örtlichen Gesetzeshütern und Bundesbeamten, hier in Wekosha, Wisconsin, wollte Dr. Jessica Coran, Rechtsmedizinerin aus Quantico, Virginia, aus den Labors des FBI, am liebsten ganz wie im Film melodramatisch allen befehlen, sofort

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