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ins Auto retten können, als eine Horde angriffslustig aus dem Unterholz auf sie zugestürmt war.

      „Letztes Jahr“, hatte Malte Fittkau weiter geplaudert, „da haben wir am Seglerhafen ein totes Schwein aus dem Bodden gefischt. Ein Brocken.“ Er hatte dabei die Arme weit ausgestreckt. „Das wäre ein Braten gewesen. Ist im Eis eingebrochen und nicht wieder rausgekommen.“

      „Werden die Schweine denn auf der Insel gejagt?“

      „Meist nicht. Der Bürgermeister hat sich extra eine Flinte gekauft. Aber dann kamen die Naturschützer. Biosphärenreservat! Wir lassen der Natur ihren Lauf!“, hatte Fittkau geantwortet und dabei kurz mit der Hand eine Scheibenwischerbewegung vor seinem Gesicht gemacht. „Schau mal bei deiner nächsten Patrouille etwas tiefer in den Wald am Dornbusch. Schön durchgepflügt. Ob das der Natur so gut tut?“

      „Aber ich habe noch nie ein Schwein gesehen.“

      „Warst du schon mal nachts am Leuchtturm?“

      Rieder hatte zwar in den sechs Monaten, in denen er jetzt auf Hiddensee Dienst tat, aus der Ferne nachts oft das blinkende Licht der Leuchtturms auf der Nordspitze der Insel gesehen und als beruhigend empfunden. Aber zu später Stunde war er noch nie dort oben gewesen.

      „Wir können ja mal eine Tour machen und nach den Schweinen schauen“, hatte Fittkau angeboten. Rieder hatte offen gelassen, ob er diese Offerte wirklich annehmen wollte.

      Stefan Rieder war im April auf die Insel gekommen. Zuvor war er Hauptkommissar bei einer Mordkommission in Berlin gewesen. Heute fiel es ihm zuweilen schon schwer, sich an dieses frühere Leben zu erinnern. Es war für ihn weit weg. Die Gewalt in Berlin. Die ewigen Schichten im Kommissariat. Die endlosen Nächte, wenn Verdächtige beschattet werden mussten. Die Aktenstapel ungelöster oder laufender Fälle. Das Einzige, was ihm fehlte, war sein Partner Tom Schade. „Jung, mach dir mal kein’ Kopp“, war immer einer seiner Lieblingssprüche gewesen, wenn ihnen ein Fall die letzte Kraft zu rauben schien. Schades rheinischer Lebensmut hatte einfach gutgetan und war ansteckend gewesen. Doch irgendwann hatte auch das Rieder nicht mehr aufgebaut.

      Eines Morgens hatte Rieder am schwarzen Brett eine Stellenausschreibung der Polizeidirektion Stralsund entdeckt. Sie suchten einen Polizisten für ein Projekt zur Verbrechensprävention in den Tourismusgebieten an der Ostseeküste. Testort sollte die Insel Hiddensee sein. Er hatte die Stellenanzeige einfach abgerissen und noch am Abend die Bewerbung zur Post gebracht. Seine Zeugnisse waren gut. Mehrfach war er für die Aufklärung von komplizierten Fällen belobigt worden. Seine Besoldungsgruppe passte. Stralsunds Polizeidirektor Bökemüller hatte zwar zunächst einige Bedenken gegen den Mann aus der Hauptstadt, dann hatte er aber doch Rieders Bewerbung, inklusive Rückkehrrecht nach Berlin innerhalb von zwei Jahren, zugestimmt.

      Anfang April war Rieder im Polizistenhimmel angekommen. Auf der Insel Hiddensee. Statt Autolärm Meeresrauschen. Statt aggressivem Gebrüll Testosteron-gesteuerter Jugendlicher entspannte Touristen, die über die Insel wanderten.

      Ein Quartier hatte Rieder im Wiesenweg in Vitte gefunden. Dort hatte er ein kleines Kapitänshaus gemietet. Es lag mitten auf einer grünen Wiese. Der Zaun zur Straße war überwuchert von einer Rosenhecke, die seit Rieders Ankunft rosa blühte. Jetzt im frühen Herbst begannen sich die Blüten in rote Hagebutten zu verwandeln.

      Hier auf der Insel war Rieder seit langem der Wechsel der Jahreszeiten wieder richtig bewusst geworden. Als er ankam, standen in den Vorgärten noch Narzissen und Tulpen. Dann, im späten Frühjahr versanken die Hänge des Dornbuschs im Insel-Norden im gelben Meer des Ginsters. Der Sommer kam, die Zeit der Kirschen und der Königskerzen. Nun kündigten die prallen violetten Brombeeren auf dem Friedhof in Kloster und die orangefarbenen Beeren des Sanddorns den Herbst an. Ein wenig hatte Rieder Angst vor dem Winter, wenn das Leben auf der Insel erstarb. Auf seine Frage, was denn der Hiddenseer außerhalb der Saison tun würde, hatte Malte nur ein Wort gesagt: „Warten.“

      Malte Fittkau kam über die Wiese geschlendert. Er wohnte auf dem Nachbargrundstück und betrieb eine kleine Ferienpension. Mit Kapitänsmütze, Latzhose und Gummistiefeln wirkte er wie ein traditioneller Hiddenseer Fischer. Allerdings hatte er das Handwerk nie ausgeübt. Er verfügte zwar noch über ein paar Fischrechte im Bodden, die er von seinem Vater geerbt hatte, nutzte sie aber nicht einmal für den Eigenbedarf. Die Tracht war eher als Inselfolklore für seine Gäste gedacht.

      Ohne seinen Nachbarn Malte hätte Rieder vielleicht schon an seinem Wechsel von Berlin nach Hiddensee gezweifelt. Doch Malte hatte Rieder auf der Insel Tür und Tor geöffnet und ihn auch mit der Lebensart der Insulaner vertraut gemacht. Malte kannte einfach jeden und wusste alles. Sein heimlicher Spitzname war „Inselfunk“. Er stand Rieder bei den kleinen Widrigkeiten des Lebens zur Seite – anders als in der Großstadt gab es hier keine Baumärkte und kaum Handwerker, wenn man ein Ersatzteil brauchte oder etwas zu reparieren war. Dafür gab es Maltes goldene Hände.

      „Wieder fit?“, fragte Malte und deutete auf Rieders zerschundene Arme.

      „Geht schon.“ Der Polizist wollte nicht als städtischer Softie erscheinen.

      „Dann können wir weitermachen.“

      „Was?“

      „Den Sanddorn quetschen.“

      Rieder sah seinen Nachbarn verständnislos an.

      „Die Beeren müssen durchs Sieb für den Saft. Ich habe sie schon mal ein bisschen abgekocht, damit die Schale etwas weicher ist und die Saftpresserei leichter geht.“

      „Aha. Gibt’s da nicht ’ne Saftpresse oder so was?“

      „’ne Saftpresse?“ Malte schüttelte befremdet den Kopf.

      Rieder folgte Fittkau zu seinem Häuschen, einem langgestreckten alten Fischerhaus mit Reetdach. In dem kleinen Hof, der durch die vielen Anbauten um das Haus und die Schuppen entstanden war, standen die Plastikeimer mit den gelben Beeren und ein leerer Bottich. Daneben lagen ein Küchensieb und ein Quirl.

      Rieder nahm das Sieb und hielt es ins Licht. „Da soll was durchkommen?“

      „Das passt schon“, antwortete Fittkau. Er nahm ihm das Sieb aus der Hand und füllte es mit Beeren. Dann begann er mit dem Quirl die Beeren im Sieb zu zerreiben. Der Saft tropfte dickflüssig in den Bottich. Doch die Schalen der Beeren waren immer noch so hart und das Mark der Beeren so breiig, dass das Sieb schnell verstopft war.

      „Mach mal weiter!“ Fittkau übergab Rieder Sieb und Quirl. Malte verschwand in einem seiner Schuppen. Rieder kam ins Schwitzen. So sehr er auch rührte und quetschte, der Bottich füllte sich nur langsam.

      Fittkau kam mit einem Korb voller Flaschen wieder heraus.

      „Das Sieb ist zu klein“, maulte Rieder. Malte reagierte nicht, sondern ging mit den Flaschen ins Haus.

      ‚Wenn die alle mit Saft gefüllt werden sollen‘, dachte sich Rieder, ‚dann muss ich die ganze Nacht rühren.‘

      Fittkau machte ihm ein Zeichen, mal anzuhalten. Er schaute in den Bottich, der jetzt gerade halbvoll war. Dann setzte er einen Trichter auf eine Flasche und füllte nun ganz vorsichtig etwas Saft aus dem Bottich hinein. Dann hielt er die Flasche hoch und nickte. Offenbar war er mit der Qualität des Sanddornsaftes zufrieden. „Sieht gut aus. Bin gleich wieder da.“

      Fittkau verschwand mit dem Bottich im Haus, kam aber gleich wieder mit dem leeren Gefäß zurück. „Während ich drinnen den Saft aufkoche und in die Flaschen fülle, kannst du hier weitermachen.“

      Dann stellte er den Bottich wieder hin und machte eine kreisende Bewegung, damit Rieder mit dem Quetschen der Beeren fortfahre.

      Langsam ging die Sonne unter. Rieder sah vor lauter Rühren nicht, wie sich der Himmel im Westen der Insel blutrot verfärbte. Erst als Fittkau das Außenlicht an seinem Häuschen anmachte, wurde ihm klar, wie lange er jetzt schon Sanddorn durch das Küchensieb matschte.

      Rieder stand auf. Das Brennen auf den Armen war verschwunden. Dafür schmerzte sein Rücken. Er streckte sich und lief ein paar Schritte. Dabei sah er, wie eine Frau hektisch an die Tür seines

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