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erst möglich machte.

      Indes: Allzu sehr war die große Mehrheit der DDR-Bürger dem alten (Denken und Fühlen in obrigkeitsstaatlichen Strukturen) verhaftet, als dass, in großer Zahl, neue Formen des Zusammenlebens, mehr noch des (individuellen wie gesellschaftlichen) Seins entstanden wären, entstehen konnten.

      Insofern war 1989/90 nicht das Jahr der Wende, sondern – in vielerlei Hinsicht, was darzustellen (namentlich) in den folgenden Bänden unseres Briefwechsels dezidiertes Ziel ist – das Jahr der vertanen Möglichkeiten. Die sich derart, in unserer Lebenszeit, erneut nicht bieten werden.

      Insofern ist – ex post betrachtet – 1989/90 kein Jahr der Freude (über den Aufbruch), sondern ein Jahr der Trauer (über all die Möglichkeiten, die vertan wurden).

      Vertan – so meine dezidierte Meinung; Akten indes, die meine Sicht der Dinge ultimativ beweisen könnten, werden sicherlich nicht mehr zu meinen Lebzeiten deklassifiziert –, vertan nicht nur, weil (nicht von ungefähr!) eine Adelheid Streidel Oskar Lafontaine den Hals aufschlitzte, weil Karsten Rohwedder – angeblich von einer nicht existenten 3. Generation der RAF – erschossen wurde und weil ein paar Jahre zuvor ein gewisser Michail Gorbatschow bestochen worden war (und hernach, bis dato, weiterhin fleißig und in größtem Stil bestochen wird – was alles käme ans Tageslicht, wenn dieser Mann reden würde), sondern vertan auch und insbesondere, weil die Masse der DDR-Bürger, obrigkeitsstaatlich erzogen, nicht einmal die Möglichkeiten erkannte, die sich ihr in diesem Jahr ´89/´90 boten. (Anm.: Vorangehende Aussagen werden selbstverständlich in diesem und/oder in den Folgebänden des Briefwechsels belegt.)

      Vielleicht auch, weil sie schlichtweg Angst hatten vor der Freiheit. Denn Freiheit ist ein Stück weit auch Anarchie – „altgr. Ἀναρχία anarchía: ´Herrschaftslosigkeit´, von ἀρχία archía ´Herrschaft´ mit verneinendem Alpha privativum“, wie Wikipedia, ausnahmsweise zutreffend, vermerkt (und wie, zur Etymologie, bereits zuvor ausgeführt wurde).

      Und das Fehlen von Herrschaft (anderer über sie) macht den meisten Menschen Angst. Weil sie diesen Zustand nicht kennen. Möglicherweise mit Chaos assoziieren. Auf jeden Fall aber mit (einer wie auch immer gearteten) Bedrohung verbinden.

      Und so strebten sie, die Bürger der (Noch-)DDR, vom Regen in die Traufe. Vom Pseudo-Sozialismus in den höchst realen Kapitalismus. Der ein immer neo-liberaleres Angesicht annahm.

      Suum cuique möchte man sarkastisch anmerken: Wer sich die Freiheit (die ihm im Wendejahr auf silbernem Tablett angeboten wurde) nicht erobert, hat sie auch nicht verdient.

      Wie dem auch sei: „Die Geschichte des Anarchismus in Deutschland durchlebte verschiedenste Phasen und organisatorische Ansätze – von anarchistischen Bombenanschlägen und der ´Propaganda der Tat´ über anarchistische Gruppen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung (ab 1918 repräsentiert in der anarchosyndikalistischen Gewerkschaftsbewegung / der FAUD) bis hin zu alternativen Lebenswegen und Siedlungsprojekten nach den Ideen von Gustav Landauer u.a.

      In der bayrischen Räterepublik kurz nach dem Ersten Weltkrieg waren anarchistische Ideen ebenso präsent wie 1968 und in der Alternativbewegung der 70er- und 80er-Jahre“ (Anarchistische Texte [Deutschland], https://www.anarchismus.at/geschichte-des-anarchismus/deutschland, abgerufen am 05.10.2019).

      Ich bin überzeugt, dass kaum einer derjenigen, die im kurzen langen Jahr der sog. Wende die Anarchie – jeder auf seine Art – probten, sich der langen und wechselvollen Geschichte des (deutschen) Anarchismus bewusst war. Aber die Menschen in der Noch-DDR probten sie, die Anarchie. Wenn auch nur für einige, für einige wenige Monate.

      Wollten frei sein von Unterdrückung, von der Herrschaft des Menschen über den Menschen.

      Und liefer(te)n uns Erfahrungen, Geschichten, Anekdoten, die Hoffnung geben.

      Hoffnung, dass es gerade in Zeiten des Umbruchs, der immer auch ein Aufbruch ist, möglich wird, sich von den alten Herrschaftsstrukturen zu befreien. Seien es die der DDR, eines Staates, der unter falscher Flagge, unter der eines angeblichen Sozialismus´/Kommunismus´ segelte, seinen es die unseres kapitalistisch-neoliberalen Herrschafts-Systems, seinen es die einer (geplanten wie bereits teilweise implementierten) neuen, will meinen: der Neuen Weltordnung.

      Indes: Wir brauchen keine neuen Ordnungen, von denen hatten und haben wir genug, wir brauchen vielmehr eine Emanzipation von all diesen Ordnungen, die nur eines im Sinn haben – die Knechtung der Masse, auf dass es einer kleinen Minderheit, den „Herren dieser Welt“ (gleich, in welcher oder über welche gerade aktuelle Gesellschaftsform sie herrschen) wohl ergehe.

      „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, [nach all] den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit.“ So Stefan Heym in seiner Rede am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz. Und weiterhin:

      „Welche Wandlung!

      Vor noch nicht vier Wochen: Die schön gezimmerte Tribüne hier um die Ecke, mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor den Erhabenen!

      Und heute? Heute Ihr! Die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist …

      ´Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.´ Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch.

      Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Laßt uns auch lernen zu regieren.

      Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht.

      Und wer immer sie ausübt und wo immer, muß unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut.

      Der Sozialismus – nicht der Stalinsche, der richtige –, den wir endlich erbauen wollen, zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.“

      Eine solche Demokratie – nicht eine Karikatur wie unsere sogenannte repräsentative Demokratie, in welcher die so genannten Repräsentanten das machen, was das Volk nicht will, mithin das, wofür es, das Volk, sie, die Repräsentanten, nicht gewählt hat, und in der jene, die fälschlicherweise Volksvertreter genannt werden, eben nicht die Interessen des Volkes vertreten, sondern die Belange derer, die sie gut für ihre Dienste bezahlen, manchmal auch erpressen mit gar mancher Schweinerei, die ihnen, den angeblichen Vertretern, den vermeintlichen Repräsentanten, nur deshalb zugestanden wurde, um sie erpressbar zu machen –, eine solche Demokratie im Sinne Heyms, des Alterspräsidenten des zweiten gesamtdeutschen Bundestages, wünsche ich mir, auch Anarchie im Sinne der freien Entfaltung des je Einzelnen, jedenfalls Demokratie wie Anarchie auf Grundlage eines freien Geistes im Sinne von Nietzsche.

      Mithin: Den aufrechten Gang im Heym´schen Sinne müssen wir lernen: Ob wir ihn letztlich als Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten oder Demokraten gehen ist oft und vielerorts beliebig (will meinen: dem Belieben des je Einzelnen anheim gestellt). Denn die, welche ihn, den aufrechten Gang üben, wollen nicht über andere herrschen; sie wollen nur Mensch sein unter Menschen.

      Die Zeit der Wende zeigt, dass es viele Arten des aufrechten Ganges gibt. Und dass viel versucht haben, diesen Gang zu gehen.

      Es war ihnen nur für kurze Zeit vergönnt – die „realpolitischen“ Verhältnisse haben sie schnell, allzu schnell wieder eingeholt.

      Aber sie werden diese Zeit nie vergessen. Weil sie plötzlich eine Ahnung hatten, wie sich Freiheit anfühlt.

      Wenn sie in diesem Sinne Anarchisten bleiben, wird die Saat, die vor 30 Jahren gesät wurde, bei der so dringend

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