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gibt es hier Mord und Totschlag«, sagte Stahnke.

      4.

      »Moin mitnanner!« Mit lautem Ächzen ließ sich Bodo Schmidt auf die Bank fallen. Die Sitzbank ächzte zurück, und die drei anderen alten Männer, die schon vorher auf ihrer angestammten Bank am Langeooger Bahnhof gesessen hatten, wackelten mit den Köpfen. Das konnte als stumme Begrüßung gedeutet werden, oder auch als Zeichen altersbedingter Muskelschwäche, was aber nur auf Harm Bengen zutraf, dessen Kopf allein schon von seiner überschweren Brille nach vorne gezogen zu werden schien. Tatsächlich aber lag das allgemeine Wackeln daran, dass Bodo Schmidts Kugelbauch in den zurückliegenden Wintermonaten noch weiter angeschwollen war.

      »Moin«, erwiderte Ocko Onken als Einziger und mit Verspätung. »Und herzlichen Glückwunsch!«

      »Wieso Glückwunsch? Bei mir gibt’s doch nichts zu feiern«, sagte Schmidt verdutzt.

      »Und ob!« Onken, der mit seinem schlohweißen Vollbart und der verbeulten Schiffermütze wie ein Klischee-Ostfriese aus dem Fernsehzoo aussah, griente breit: »Nämlich dass Walfang heutzutage verboten ist!«

      Klaas Reershemius, ein Hutzelmännchen mit spitzem, vorstehendem Kinn, krähte los vor Vergnügen, Harm Bengen kicherte wie irre, und Onken, der ebenso wie sein Banknachbar schon auf die achtzig zuging, würdigte seinen eigenen Witz mit einem heiseren Glucksen. Auch Schmidt lachte mit. Übelnehmen galt nicht, nicht in dieser Runde, nicht auf dieser Bank. Als Mitglied der Langeooger Viererbande war man hart im Nehmen. Und im Austeilen noch härter.

      »So ein Wal, der hat doch ’n Klütjeleben«, krächzte Reershemius. »Dauernd im Tran und die meiste Kraft im Schwanz. Bloß Haare hat er keine. Was, Bodo?« Mit seinem Handstock deutete er auf Schmidts Glatze, in der sich die Frühlingssonne spiegelte.

      »Jau, dor sechst du wat«, rief Schmidt durch das erneut aufbrandende Gelächter. »Darum wäre Harm ja auch gerne ’n Wal geworden. Aber als Zahnwal isser ja durch die Prüfung gefallen – mangels Masse. Und Barten wollen ihm auch keine mehr wachsen.«

      »Tja, Harm, so sücht dat ut! Jetzt bleibt dir vom Wal bloß noch der Fischgeruch!«, sekundierte Onken.

      Harm Bengen, der so an seinem fleckigen hellblauen Oberhemd hing, dass er es kaum jemals wechselte, verschlug es für einen Moment die Sprache. In einem seltenen Anflug von Verlegenheit nahm er seine dicke Brille ab, spuckte auf beide Gläser und begann, die Schlieren darauf mit einem Zipfel des besagten Oberhemds zu verreiben.

      Bodo Schmidt grunzte. Den üblichen Frontalangriff, mit dem jedes Mitglied der Viererbande unfehlbar rechnen musste, das als Letztes zu den vormittäglichen Sitzungen auf der Bahnhofsbank erschien, hatte er elegant abgebogen. Jetzt konnte das Tagesgeschäft beginnen. Zufrieden warf er sich mit vollem Gewicht gegen die Rückenlehne. Wieder wackelten alle Köpfe bis auf seinen.

      »Und?«, fragte Schmidt, »was gibt’s Neues? Wieder allerhand buntes Volk aus Deutschland eingetroffen?«

      »Hou!«, erwiderte Reershemius. Dieses Wort – wenn es denn eines war – konnte grundsätzlich alles bedeuten. Eine echte ostfriesische Allzweckwaffe.

      »Da kannste einen drauf lassen«, übersetzte Harm Bengen. »Ischa nu Ostern. Da kommen sie wieder alle angehoppelt.«

      »Die Alten wie die Jungen«, fiel Ocko Onken ein. »Vor allem die Jungen, hordenweise. Man fragt sich, wo die alle herkommen.«

      »Wo die Jungen herkommen?« Reershemius beugte sich vor, stützte sich auf seinen Stock und leckte sich die blassen, schmalen Lippen. »Das weiß du nicht?«

      »Nicht mehr«, keckerte Harm Bengen. »Zu lange her, was? War wohl noch vorm Krieg, dein letztes Mal, was?«

      »Erster Weltkrieg oder Zweiter?« Bodo Schmidts Wampe wogte vor Lachen.

      »Dann müssen wir den jungen Mann wohl mal ein bisschen aufklären.« Klaas Reershemius konnte sich nur mit Mühe auf der Bank halten, trotz seines Stocks.

      »Als ob du noch wüsstest, wozu das kleine Ding gut ist, das du jede Nacht beim Pieseln dreimal in der Hand hältst«, feuerte Bodo Schmidt von der Seite. Reershemius verschluckte sich.

      »Und als ob du dein Ding seit dreißig Jahren überhaupt noch mal gesehen hättest, außer im Spiegel«, attackierte Onken. Damit war er den Schwarzen Peter wieder los. Und Bodo Schmidt, eben noch so guter Dinge, hockte wieder im Zentrum des erneut aufbrandenden Hohngelächters.

      Ein Schrilles Pfeifen unterbrach das Lachen und Lästern. Der Inselzug mit seinen bunten Waggons näherte sich vom Fährhafen her. Erwartungsvoll beugten sich die Mitglieder der Viererbande vor.

      Das Ritual war immer dasselbe. Kaum dass der Zug zum Stehen gekommen war, quollen die Touristen über die offenen Plattformen aus den Wagen, liefen ein paar eilige, ziellose Schritte, blickten sich suchend um und hasteten dann auf die große Glastür des Bahnhofsgebäudes zu. Jedenfalls die Neulinge taten das. Die Erfahreneren jedoch, die, die schon einmal oder öfter auf Langeoog Urlaub gemacht hatten, schlenderten in aller Ruhe den Bahnsteig entlang zur Seitenfront des Gebäudes, dorthin, wo die kleinen Containerwagen mit dem Reisegepäck abgestellt wurden, die auf einem flachen Waggon mitgereist waren. Dann allerdings kamen auch die Erfahrenen in Wallung. Die Bahnbediensteten lösten nur noch schnell die seitlichen Verschlüsse der Containerwagen, dann brachten sie sich in Sicherheit, und die Reisenden fielen auf der Suche nach ihren Koffern über die Wagen her. Ob es nun die Neulinge oder die Inselroutiniers waren, die dabei ihre Ellbogen beherzter einsetzen, war schwer zu entscheiden.

      »Lernen die eigentliche keine Zahlen mehr heutzutage?«, meckerte Reershemius. »Die Gepäckwagen haben Nummern dran, die kann man sich doch wohl merken.«

      »Sind aber teilweise zweistellige Zahlen«, gab Onken zu bedenken. »Und diese Leute da kommen vom Festland.«

      »Aus Deutschland«, korrigierte Bodo Schmidt.

      »Auch wieder wahr«, gab Reershemius zu.

      »Vielleicht merken die sich heutzutage auch nichts mehr, weil die ja meist alle verstöpselt sind«, ließ sich Harm Bengen vernehmen, die flaschenbodendicke Brille wieder auf der Nase. »Das lenkt ja ab, sagt man.«

      »Verstöpselt?« Allein dieses Wort klang aus Bodo Schmidts Mund lüstern und schmierig. »Meinst du wirklich?«

      »Ja, sicher.« Harm Bengens Kopf wackelte noch eifriger als sonst. »Kann man doch sehen, wie denen überall die Schnüre raushängen.«

      »Ich glaube, die merken nicht nur sich nichts mehr, die merken überhaupt nichts mehr«, knarzte Onken. »Die mit den Stöpseln, die können ja schon mal nicht mehr hören, was um sie herum vorgeht. Und die mit diesen Spielzeugtelefonen in der Hand, wo sie dauernd draufgucken, die sehen nichts anderes mehr. Die könnteste statt nach hier auch nach München schicken, die würden den Unterschied nicht merken.«

      »Oder nach Gifhorn auf ’n Rübenacker«, behauptete Harm Bengen.

      »Oder in die Wüste«, steigerte Klaas Reershemius.

      »Oder nach Norderney«, sagte Bodo Schmidt.

      Allgemeines Gestöhne und Kopfschütteln. »Nee, das nun doch nicht«, widersprach Ocko Onken. »Langeoog oder Norderney, das kann ja wohl selbst ein Blinder mit Krückstock unterscheiden.«

      »He«, maulte Harm Bengen und plierte durch seine Brille. »Nu’ mal fein vorsichtig hier. Pass auf, was du sagst.«

      »Genau, vorsichtig«, warnte Klaas Reershemius und rammte seinen Stock auf den Boden. »Selber Krücke.«

      »Was seid ihr denn plötzlich alle so empfindlich?«, wunderte sich Ocko Onken.

      »Ja, stimmt. Was ist denn mit euch?«, pflichtete Bodo Schmidt bei.

      »Du sei mal schön still, oller Pottwal«, grummelte Harm Bengen. Klaas Reershemius nickte stumm.

      »Ist euch eigentlich schon aufgefallen, dass die Kinder nie was tragen?« Ocko Onken wechselte das Thema. »Ich meine, Koffer, Taschen

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