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      Andor und Silke Stolp wurden Kern einer richtigen kleinen Familie. Bald nach der Eheschließung kam Töchterlein Maria zur Welt; vier Jahre später war Johann da. Von nun an reisten sie zur viert. Sie fuhren im PKW über Land, Bundesstraßen und Autobahnen entlang. Vorne saßen die Eltern Silke und Andor – der Vater fuhr „den Wagen“– und im Fonds waren die lieben Kleinen. Spätestens nach fünfzehn Minuten Fahrzeit kam von hinten die Anfrage: „Sind wir bald da?“ Oder der Hilferuf: „Ich hab‘ Hunger!“ Oder: „Ich muss mal!“ Auch „Hör auf zu stänkern!“, war oft zu hören. Die Mutter versorgte den Nachwuchs mit psychischer oder physischer Zuwendung. Der Vater hatte das Radio eingestellt, hörte Nachrichten oder summte die Melodien des Senders mit.

      Es ging hinaus in die Welt. Das Auto fraß Kilometer der Bundesstraßen. Fort war der heimatliche Ort, und neue Gegenden tauchten auf. Immer neues „Futter“ (Benzin) floss in den Schlund des Autos, und Tankwarte sprachen unbekannte Dialekte. „Wie weit wir schon sind! Das ist Freiheit!“ Vater Andor drehte das Radio noch lauter auf und sang bei allen Schlagern mit. Dann sendeten sie Kindergeschichten, und die Kleinen waren ganz Ohr. Die Route war auf der papiernen Landkarte vorgeplant. Nun waren die auf der Karte roten Linien graue Straßen, und was zu Hause Sekunden gedauert hatte – die Reise von A nach B – beanspruchteStunden. An manchen Kreuzungen wurde es knifflig: Wo sollte man fahren: „Rechts, links oder geradeaus?“ Die Mutter setzte die Brille auf, studierte die Karte, (das „verdammte Ding“!) und entschied über die weitere Route. Meist lag sie richtig. Die Gastgeber hatten die Betten schon gemacht.

      Dann tauchten sie auf: das Meer oder die Berge. Unendlich weit zog sich der Ozean dahin, und im anderen Fall lockten die Gipfel. Die Hänge waren gefleckt – weite Wälder wechselten sich mit weißen Schneefeldern ab. Je höher die Berge waren, desto häufiger waren Schneefelder zu sehen, und statt des dunklen Grüns der Wälder waren nun immer mehr nackte graue Felsen zu sehen.

      Andor und Silke verließen das Gefährt, schauten in die Runde, genossen die „ganz andere Luft“ und waren überglücklich, am Ziel zu sein: „Am Meer“ oder „In den Bergen“. Die Kinder indes maulten und waren müde geworden von der langen Fahrt.

      „Nun aber ab zur Unterkunft!“ Ein altes Schulhaus war leer und wartete, oder die „Gasteltern“ in der „Privatpension“ warteten. Wo aber waren sie? Andor und Silke studierten die Zettel mit den Adressen, fuhren Straßen und Gässchen in den erwählten Orten ab, fragten nach dem Weg und erreichten schließlich das gewünschte Haus.

      Im Schulhaus lag der Schlüssel unter dem Fußabtreter des Portals. Silke war es eingefallen, dass ihnen das zu Hause mitgeteilt worden war. Die Klassenzimmer waren zu Gästezimmern umgewandelt. Jeder Familie stand ein ehemaliger Klassenraum zur Verfügung. Die Gästefamilien stammten von überall her: Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Bayern, und sogar Österreicher waren da. In den Klassenräumen standen keine Stühle, Bänke und auch kein Lehrerpult mehr, dafür Doppelstockbetten. Die Klassenschränke waren ausgeräumt und warteten auf die Garderoben und Wäsche der Gäste. Alle Schultafeln hingen noch, und zur Freude der Gästekinder waren die Kreidekästchen gefüllt. Die ehemaligen Jungentoiletten waren zu Badezimmern für männliche Feriengäste umfunktioniert worden – egal, ob groß oder klein. Für die weiblichen Besucher gab es die früheren Mädchentoiletten. Das Lehrerzimmer war geteilt, und wer wollte und es sich leisten konnte, mietete hier einen Aufenthaltsraum zusätzlich zum Schlafzimmer in den Klassenräumen.

      Das Portal zum Schulhaus hatte stets geschlossen zu sein; alle Räume im Innern blieben dagegen unverschlossen – auch nachts. Den Schlüssel fürs Haus holte sich Familie Stolp anderntags im Rathaus beim Schulamt; dort war auch die Miete zu begleichen.

      Vorher hatten die Stolps ihnen notwendig erscheinende Informationen bei Urlaubern eingeholt, die schon ein paar Tage vor ihnen gekommen waren und nun als Experten galten. Dazu saßen alle in dem ehemaligen Hausmeisterzimmer, das zum „Gemeinschaftsraum“ umfunktioniert war. Dort befanden sich auch Gläser für Saft, Wasser, Wein, Bier oder Schnaps, und manche „becherten“ nicht unerheblich. Badestellen und -zeiten wurden erkundet, Tipps für Ausflugsziele herumgereicht, und auch, wo der günstigste und nächstgelegene Einkaufsladen war, wurde hier mitgeteilt.

      Silke und Andor fanden die anderen Urlauber sehr nett, nur zwei ältere Ehepaare saßen für sich und schienen aus der Reihe zu tanzen. Während die „Alten“ so dasaßen und den Abend genossen, tobten die Kinder in den Etagenbetten, stritten um ihre Schlafplätze: „Oben oder unten?“ Bald jedoch waren sie müde und schliefen ein.

      Fürs Frühstück holte der Vater Milch, frische Butter und Brötchen aus dem annoncierten Laden, dazu kamen Teile des mitgebrachten Proviants, die Mutter entnahm dem Schulschrank das bereit stehende Plastikgeschirr und dann wurde das Frühstück an dem Tisch eingenommen, den das Schulamt in die Mitte des Raumes gestellt hatte. Abgewaschen schließlich wurde in der ehemaligen Mädchentoilette.

      Dann begann der Urlaub!

      Um zehn Uhr zog die ganze Familie zum Strand, bepackt mit allerhand Utensilien: Decken, Mützen, Schirm, Crémes, Essen, Getränke, Kofferradio und Buddelzeug. Die „Alten“ fläzten sich im Badedress auf eine Decke, und die „Jungen“ buddelten im weißen Sand, schleppten Wasser herbei und hielten Ausschau nach Altersgenossen. Immer wieder gingen besorgte Blicke der Eltern zum Himmel hin mit der bangen Frage im Hinterkopf: „Wie wird das Wetter?“

      Das Wetter war das „A“ und „O“ der gesamten Reise. In Mitteleuropa regnet es bekanntlich oft, und dann ist an Baden oder Wandern nicht zu denken. Solche Tage können sehr lang und langweilig werden. Alle sind dann drinnen – im Schulhaus, in einer Kneipe oder in Geschäften. Spiele wie „Mensch ärgre Dich nicht“, „Scrabble“ oder „Uno, uno“ sollen die Zeit vertreiben. Aber die Ferienwilligen werden trotz allem allmählich griesgrämig. Hinterher, wenn der Urlaub vorbei ist, wird zu Hause dennoch stets verkündet: „Wir hatten herrliches Wetter!“

      Wanderungen in den Bergen waren stets ein zwiespältiges Vergnügen. Anfangs war die Wanderausrüstung noch ziemlich dürftig, dann kamen Wanderschuhe und –socken, Flanellhemden, Filzhüte, Stöcke und bei einigen sogar Lederhosen. Es ging hinauf in die Berge, je früher desto besser, denn „Am Morgen sind die Berge am schönsten.“ Aber zunächst kam der Anstieg durch Wälder, an Gehöften und Almen vorbei, über Geröllhalden und schließlich an Felswänden entlang. War das anstrengend! Lustig wurde es bei der Sennerin, wenn sie beim Anblick eines einsamen Bergsteigers ausrief: „Da kommt der Besamer!“ Dann protestierten die „Kleinen“, wenn dieselbe Dame erklärte: „Großstadtkinder denken, Milch kommt aus der Fabrik.“: „Wir sind doch nicht blöd!“

      Schließlich war der Gipfel da. Rundum waren Berge, Wolken und blauer Himmel zu sehen. „Ist das schön!“, jubelte die Mutter, während der Vater anfing, mit seinem Wanderstock in verschiedene Richtungen zu zeigen: „Da ist der ‚Rist-Höhenzug‘, hier der ‚Piz Luis‘, und das hier ist das ‚Elefantenhorn‘.“ Der Rest der Familie war beeindruckt.

      Am schönsten jedoch war es später in Berghütte unter dem Gipfel. Hier gab es Nudeln, Schweinswürstel, Rösti, Wein für die Mutter, Bier für den Vater und Säfte oder sogar Cola für die Kinder. Andor hatte gute Laune und spendierte hinterher für alle Eisbecher. So gestärkt konnte es weitergehen – nun bergab.

      „Bergab ist schwerer als bergauf“, hatten Miturlauber behauptet. Andor fand, das sei nicht wahr. Je näher sie jedoch ihrem Ziel im Tal kamen, desto häufiger richteten sie ihren Blick gen Himmel. Es zog sich etwas zusammen, und in irgendeiner Ferne konnte man das Grummeln eines Gewitters vernehmen. Gerade, als die Stolps ihre Unterkunft betraten, begann es zu schütten. Später in der Heimat aber versicherten die Urlauber: „Wir hatten herrliches Wetter!“

      Am Meer hatten die vier einmal einen Ausflug zur Insel „Helgoland“ gemacht. Die lag einsam etwa achtzig Seemeilen entfernt und hatte eine eigene Geschichte hinter sich: Eine fremde Macht – ihre Nachfahren wurden später „Freunde“, dann aber wieder nicht mehr – hatte diese Insel, die eigentlich ein Felsen im Meer war – okkupiert und als Abschussort

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