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auf denen Ausgang und Ziel der Reise vermerkt waren. Diese „Fahrkarten“ konnten am „Schalter“ der Bahn erworben werden, und ein Schaffner im Zug knipste sie ab.

      Ziel der Fahrt waren oft einsame und kleine Bahnhöfe, von denen aus es zu Familienangehörigen ging. Manchmal marschierten die Reisenden endlose Alleen entlang. Rechts und links davon waren Felder, die abgegrenzt waren durch Straßengräben. Irgendwann tauchte am Horizont schließlich ein kleiner Ort auf: ein Dorf oder gar ein Städtchen. Im Winter lagen die Häuschen im Schnee; im Sommer flatterte Federvieh über den Anger. Die Alten beäugten die angekommenen Fremden misstrauisch.

      Die Besucher schliefen meistens bei ihren Verwandten (wo denn sonst?). Unter den Gästebetten standen Nachttöpfe oder Schüsseln, und wer größeres verrichten wollte, musste im Nachthemd über einen Hof gehen und das „Plumpsklo“ aufsuchen. Das war eine Bretterbude, in der ein Querbalken angebracht war, in dessen Mitte sich ein großes Loch befand. Die Holztür vor diesem „Donnerbalken“ war mit einem neckisch eingeschnitzten Herz verziert.

      Im „Gästezimmer“ gab es kein Radio, kein TV, kein Telefon, keine Dusche, kein Safe – nichts dergleichen. Stattdessen stand auf einem Schränkchen eine weiße Emaille-Schüssel mit dunkelblauem Rand und daneben eine ebensolche Kanne, die mit Wasser gefüllt war. Hier konnte der Gast seine Morgentoilette verrichten, und wenn er Glück hatte, waren auch Handtuch, Seife und ein Spiegel da.

      Angereist kamen die Besucher meist aus größeren Städten, und nach drei Tagen reisten sie wieder ab, denn: „Besuch und Fisch fängt vom dritten Tag an zu stinken.“ Für die Abreise war wichtig, den Fahrplan der Bahn zu kennen und die Umsteigebahnhöfe im Kopf zu haben.

      So reisten Menschen vor Erfindung des modernen Tourismus. Das war der industrielle Massentourismus, dem Corona ein jähes Ende setzte.

      Ist das Reisen damit am Ende?

      Die Gründe zu reisen sind vielfältig. Es wird wiederkommen. Aber wer weiß, in welcher Form?

       Wie immer: „Der Vorhang geht zu und alle Fragen bleiben offen.“

      23 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besuchte Andor Stolp1 die Heimat seiner Vorfahren. Als Kind war er hier gewesen; nun gehörte das pommersche Dorf zu Polen. Andor war schon in der großen Stadt zur Welt gekommen. Diese Reise war ein Geschenk an Andors Vater.

      Der hatte Pommern zwischen den Weltkriegen verlassen. Als fünfter Sohn hatte er keine Chance für sich in der alten Heimat gesehen. In der großen Stadt schaffte er es zum Kriminalbeamten.

      Bei Familientreffen war aber immer die Rede von der alten Heimat – oft sehr direkt. Kaufte sich eine Schwester des Vaters neue Schuhe, hieß es:

       „Pommersche Beene passen nicht in Pariser Schuhe!“

      Erinnert wurde an die Zwergschule, in der alle den Spruch gelernt hatten:

       „Der Kaiser ist ein guter Mann.

       Er wohnet in Berlin.

       Und wär das nicht so weit vor hier,

       So führ’ ich heute noch hin.“

      Auch dass man Ostern sehr früh aufstand, um Osterwasser vom See zu holen, wurde erinnert. Die fauleren Familienmitglieder bekamen es zu spüren:

       „Stiep, stiep Osterei,

       Gibst Du mir kein Osterei,

       Stiep ich Dir das Hemd entzwei!“

      Der Tanz der „Mudder Witsch“ war unvergessen:

       „Bald up de Hacken,

       Bald up de Teihn,

       Oh, Mudder Witsch,

       Wie geiht dat wunderschön.“

      Mittags gab es Pellkartoffeln. Für ihre elf Kinder und ihren Ehemann stellte die alte Mutter eine dampfende Schüssel auf den Tisch. Jeder piekte, und wer schnell mit der ersten Portion fertig war, konnte „Nachschlag fassen“. Die Langsamen schauten in die Röhre. Es galt in der Familie als sicher, dass alle ihre Mitglieder hierbei das schnelle Essen (fast Verschlingen) gelernt hätten.

      Kamen „Zigeuner“ ins Dorf, flohen die Menschen aus ihren Häusern, denn sie hatten Angst vor den Fremden.

      Strom gab es nicht, und die schönste Zeit war die „Schummerstunde“, wenn der Tag in die Nacht überging. Da saßen alle vor dem Haus, um sich gegenseitig Schauergeschichten zu erzählen.

      Vom Reisen hatte man offensichtlich nicht viel gehalten, denn dies war klar;

       „Ob Ost, ob West,

       Tu Huus is am best.“

      Dieses alte Pommern gab es nicht mehr. Das deutsche „Rackow“ – das Dorf – hieß nun „Rakowo“, und die Stadt „Lubow“ war in „Lubowo“ umgetauft worden.

      In Pommern

      Mit seiner Ehefrau Silke und seinem Vater fuhr der 39-jährige Andor in die alte Heimat.

      Der Vater schrieb das „Protokoll“:

      „Um 15:00 Uhr sind wir am 22. 9. in Andors PKW über den Kontrollpunkt Dreilinden in Richtung Transitbahn gefahren, um den Berliner Ring zu erreichen. Es ist Vorschrift, diesen Weg zu nehmen. Man hat dadurch einen Umweg von ca. 90 km – zuerst Richtung Westen, dann nach Süden, um endlich nach Osten zu kommen. Es regnete stark und es blieb auch so, bis wir gegen 22:30 Uhr in Neustettin ankamen.

      Die Einreisepapiere hatte Andor in einem Reisebüro in Berlin beschafft und dafür Visa, Zwangsumtausch in Zloty pp. pro Person ca. 120,- DM bezahlt. Auch Benzingutscheine waren darunter. Dann mussten wir für die Fahrt durch die DDR noch pro Person 5,- DM für die Ostvisa und 15,- DM für Autobahngebühren bezahlen.

      Die Grenzkontrollen Dreilinden und Stettin – diesen Übergang wollten wir benutzen – verliefen ohne Schwierigkeiten. Ich nahm noch einen Geldumtausch von 50,- DM vor. Wir brauchten es aber nicht und konnten diesen Betrag wieder in DM zurücktauschen. Den Zwangsumtausch kann man nicht zurücktauschen. Das Geld muss man also ausgeben oder verschenken, da eine Ausfuhr verboten ist.

      Am Kontrollpunkt Stettin versehen polnische und ostzonale Zöllner gemeinsam Dienst. Es wurde nun schon dämmrig, der Regen hörte nicht auf und nahm nachher noch an Heftigkeit zu. Hinter der Grenze wurden die ersten Benzingutscheine eingetauscht, und dann ging es über die Autobahn in Richtung Stargard/Pom. – so heißt es auch auf Polnisch. Andor saß die ganze Zeit am Steuer, Silke war ein guter Lotse, und so erreichten wir durch viele dunkle Wälder fahrend (keine Autos auf den Straßen, alles dunkel) den Stadtrand von Tempelburg – „Czaplinek“ – in Höhe des Bahnhofs. Von dort führt eine gute Straße – alle Straßen sind gut in Polen und gut beschildert – in Richtung Neustettin – „Sczecinek“.

      Überall sind viele Fichten angepflanzt worden, und in Höhe von Schwarzsee sahen wir ein Schild ‚Rakowo 6 km‘. Also ist hier eine neue Straße, auch diese durch Fichten führend. Dann kamen Lubow – „Lubowo“, Pielburg – ‚Pilo‘, Jellin – ‚Jellino‘ – und schließlich Neustettin. Wir fuhren die Bahnhofstraße in Richtung Stadt, fragten dort in einem Hotel nach unserem Hotel, das uns in Berlin zugewiesen worden war und in dem wir nur Übernachtungskosten entrichtet hatten und fanden es auch bald. Ich meine, dass es an der Warschauer Straße lag und ‚Pomorski‘ hieß, sicher früher mal ‚Pommern‘. Bis zum See und zu den Parkanlagen waren es von hier ca. 100 m. In unmittelbarer Nähe war auch das Rathaus. Dies waren alles die

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