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die anderen Mitglieder der Organisation sie für ebenso konsensual hielten, wie man selbst es tunlichst tun sollte. Man musste die Juden nicht hassen; es genügte, sein eigenes Handeln auf die Tatsache einzustellen, dass der NS-Staat die Verfolgung der Juden zum Programm erhoben hatte und man daher dem eigenen Gegenüber antisemitische Motive ungefährdet unterstellen konnte. Ein Verstoß gegen solche realen Konsense zog die Gefahr sozialer Ausgrenzung nach sich.101

      Moderne Organisationen zeichnet aus, dass sie ihren Mitgliedern Spielräume für selbstbestimmtes Handeln eröffnen und an die Leistungsbereitschaft ihrer Mitglieder appellieren.102 So gesehen, ist der von dem britischen Historiker Ian Kershaw geprägte Topos des »dem Führer Entgegenarbeitens«103 nicht zwangsläufig Ausdruck vorauseilenden Gehorsams, sondern kann als »ganz normale«, nicht spezifisch nationalsozialistische Identifikation mit Organisationszwecken interpretiert werden.

      Nationalsozialistische Organisationen machten es ihren Mitgliedern jedoch nahezu unmöglich, diese zu verlassen. Es gab beispielsweise keinen Zwang, SS-Mitglied zu werden, aber die SS übte Zwang in der Art und Weise aus, wie sie ihren Mitgliedern den Austritt erschwerte. Gruppendruck, den auch Browning als wichtige Ursache hervorgehoben hatte, genauer: »Kameradschaft« spielte hierbei eine wesentliche Rolle. Dies gilt in besonderem Maße für eine militärisch, nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam, organisierte Polizeieinheit im geschlossenen Einsatz, die sich von tödlichen Feinden umgeben wähnte.104

      Moderne Organisationen lassen künftige Mitglieder darüber im Unklaren, was von ihnen erwartet wird. Organisationen müssen darauf bauen können, dass ihre Mitglieder bereit sind, der Organisationsleitung zuzugestehen, dass sie nicht alle auf den Einzelnen zukommenden Aufgaben vorab definiert, sondern es bei recht allgemeinen Zweck- und Funktionszuschreibungen belässt. Mtglieder stellen der Organisation folglich »eine Art Blankoscheck für die Verwendung ihrer Arbeitskraft« aus:

      »Dadurch entsteht eine folgenreiche Indifferenzzone, innerhalb der sie zu den Befehlen, Aufforderungen, Anweisungen und Vorgaben der Vorgesetzten nicht Nein sagen können, ohne die Mitgliedschaft in ihrer Organisation grundsätzlich infrage zu stellen. Der Vorteil für die Organisationsleitung liegt auf der Hand: Die Organisationsmitglieder geloben eine Art Generalgehorsam gegenüber zunächst nicht weiter spezifizierten Befehlen und Weisungen. So ermöglichen sie der Führung, die Organisation sehr schnell und ohne umständliche interne Aushandlungsprozesse an veränderte Anforderungen anzupassen.«105

      Gewaltorganisationen sind daran interessiert, diese Indifferenzzonen auszuweiten, damit Zweifel an der Legitimität einer Gewalthandlung (etwa eines Befehls zur Erschießung wehrloser Frauen und Kinder) organisationskonform beseitigt werden können. Dies geschieht in der Regel mit dem rechtlichen Instrument der Legalisierung, kann aber auch durch die gedankliche (in diesem Fall zutreffende) Unterstellung geschehen, es sei der »Wunsch des Führers«, dass diese Taten verübt werden, also durch den Appell an die Konsensfiktion gemeinschaftlichen Handelns.106

      Die »Arisierung« jüdischen Eigentums trug erheblich dazu bei, die Bindung zwischen Führung und Geführten in der nationalsozialistischen »Zustimmungsdiktatur« zu stärken.107 Geld spielte Kühl zufolge auch in den nationalsozialistischen Gewaltorganisationen eine wichtige Rolle. Zu den materiellen Anreizsystemen gehörte die Besoldung der Polizisten. Die legale und illegale Bereicherung am Eigentum Ermordeter habe darüber hinaus zwar keine zentrale Motivation zur Organisationsmitgliedschaft, aber einen willkommenen Mitnahmeeffekt dargestellt.108 Solche informalen Belohnungen erleichterten das Mittun, waren aber stets geeignet, die Integrität der Organisation durch Verhaltensweisen zu gefährden, die Himmler von den vorgeblich hohen Moralstandards der SS, ihrer Tötungsmoral im Sinne Welzers, abgrenzte.109

      Kühl hat wiederholt darauf hingewiesen, dass sich sein Ansatz dazu eigne, auch nichtdeutsche »Fußvölker« des Holocaust zu analysieren.110 Treffen Kühls Thesen also auch auf die ukrainische Hilfspolizei zu? Wenn ja, lassen sie sich auf »anormale« Organisationen wie die Trawniki-Männer sinnvoll anwenden? Waren diese Organisationen womöglich beide nicht »normal«, weil es soziologisch eben doch einen Unterschied ausmacht, ob eine Organisation Briefe verschickt oder Massen von Menschen tötet?111

      Indem Trawniki-Männer und ukrainische Hilfspolizisten in den Blick genommen werden, behandelt die vorliegende Darstellung nichtdeutsche Polizeiformationen, von denen eine im Kühlschen Sinne als »normal« anzusprechen ist, aber nicht im geschlossenen Einsatz war, sondern die städtische Schutzpolizei verstärkte, die andere mit der Person des Lubliner SS- und Polizeiführers Odilo Globocnik eng verbunden war und ursprünglich zu dem »anomalen« Zweck ins Leben gerufen wurde, nationalsozialistische »Rassenpolitik« zu ermöglichen.

      Wie viel Zwang wurde ausgeübt, wie hoch war der Grad oder doch zumindest die Fiktion der Freiwilligkeit zum Eintritt in die beiden Organisationen? Rekrutierte die SS vorzugsweise solche Personen als Wachmänner, von denen sie annahm, dass sie das Feindbild vom »jüdischen Bolschewismus« teilten, an der deutschen Vernichtungspolitik also aus eigenen ideologischen Antrieben partizipieren würden? War das Motiv der Selbstverpflichtung stark genug, um die Teilnahme an Gewaltverbrechen aus teilweise eigenem Antrieb hervorzubringen? Welche Möglichkeiten hatten Wachmänner und Polizisten, sich zu entziehen? Welche Austrittsoptionen boten die Organisationen an, welche Belohnungs- und Zwangsmittel standen ihnen gegenüber, um den Verbleib in den Organisationen sicherzustellen? Wie war die für die beiden Polizeiformationen einschlägige Rechtslage im Generalgouvernement? Welche Rolle spielten die alltäglichen Gewaltinszenierungen und -erfahrungen auf den Straßen einer deutsch besetzten Großstadt und in den Vernichtungslagern der »Aktion Reinhardt«?

      Nach Stefan Kühls Auffassung ist die gegen jüdische Opfer eingesetzte exzessive Gewalt dadurch zu erklären, dass der Auftrag zum Massenmord die Mitglieder der Organisationen mit neuen Aufgaben belastet. Die Organisationsleitung formuliert einen Appell, die Indifferenzzone erneut auszuweiten und die Selbstdarstellung des präsumptiven Töters mit der neuen Realität in Einklang zu bringen. »Exzessive Gewalt gegen andere«, so Kühl, scheint ein »Reparaturmechanismus in der Selbstdarstellung zu sein«112, eine Überwindung von Selbstzweifel und Törungshemmung durch dehumanisierende, demütigende Gewaltpraxen. Diese These könnte die Brutalität der Trawniki-Männer erklären, die schon von deutschen Vorgesetzten hervorgehoben wurde. In der zeitgeschichtlichen Forschung wurde sie vor allem von Helge Grabitz betont.113 Insoweit scheint ein Unterschied zu den ukrainischen Hilfspolizisten bestanden zu haben, über die solches Verhalten eher selten berichtet wurde. Brachten die in Kriegsgefangenenlagern angeworbenen Trawniki-Männer womöglich eine weiter zurückreichende Gewaltsozialisation aus der Sowjetunion mit, die zur Brutalisierung der neuen Organisation beitrug? Ob überschießende Gewalt bei ihnen häufiger war als in der Hilfspolizei, ist aber eine offene Frage.

      Die Quellenlage des vorliegenden Buches ist im Vergleich zu Studien über die Polizeibataillone lückenhaft. Die Akten der Lemberger Schutzpolizei sind gänzlich verloren gegangen oder vernichtet worden. Hier kann ersatzweise auf erhalten gebliebene Akten der ukrainischen Hilfspolizei und deutsches Schriftgut anderer Dienststellen im Oblastarchiv der Stadt Lviv zurückgegriffen werden.114 Hinzu kommen die Überlieferung der Wehrmacht, Zeugenaussagen im Strafverfahren der Staatsanwaltschaft Stuttgart wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen in Lemberg und Umgebung sowie meist polnischsprachige Erinnerungsliteratur.115

      Die vorliegende Darstellung stützt sich in Teilen auf Monographien über die Judenvernichtung in Ostgalizien, die Dieter Pohl und ich unabhängig voneinander vorgelegt haben.116 Jedoch geht das Buch über diese Forschungsergebnisse insofern hinaus, als die Planung und Durchführung der Mordaktionen in der Hauptstadt des Distrikts Galizien und die ihr zugrunde liegende Einsatzplanung erstmals minutiös rekonstruiert werden.117

      Bezüglich der Trawniki-Männer stellt sich die Quellenlage wieder anders dar.118 Die Dokumentation des OSI bildet die umfangreichste Sammlung von Archivquellen, darunter zahlreiche Personalunterlagen. Auf deren Grundlage konnte erstmals die Rotation der Wachmänner in das Vernichtungslager Bełżec und aus dem Lager heraus rekonstruiert werden.

      Demgegenüber sind Zeugenaussagen aus sowjetischen Verfahren mit erheblicher Vorsicht zu verwenden,

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