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zu diametral entgegengesetzten Schlüssen. Nach seiner Auffassung war das Reserve-Polizeibataillon 101 exemplarisch für einen genozidalen Antisemitismus, der seit Luther tief in der deutschen Nationalkultur verankert war. Die Polizisten hatten Goldhagen zufolge Juden ermordet, weil sie es gewollt hatten. Insbesondere die Befehlsverhältnisse überschießende Grausamkeit der uniformierten Massenmörder belegte nach Goldhagens Auffassung, dass die Polizisten keine »ganz normalen Männer« (Browning), sondern »ganz normale Deutsche« gewesen waren. Der Antisemitismus, bei Browning ein Ursachenfaktor unter anderen, war für Goldhagen der entscheidende Grund für das grausige Geschehen im Distrikt Lublin.41

      Nicht zuletzt wegen der Kontroverse zwischen Browning und Goldhagen wurden Polizeibataillone, besonders die ungewöhnlich dicht dokumentierte Hamburger Einheit, zum neuen Paradigma der Täterforschung. Polizeimajor Wilhelm Trapp statt SS-Obersturmführer Adolf Eichmann, Direkttäter statt Schreibtischtäter, auf diese Veränderungen lässt sich der Forschungstrend in etwa bringen.42 Der Historiker Klaus-Michael Mallmann verwendete in einem Aufsatz Ende der 1990er Jahre erstmals den plastischen Begriff des »Fußvolks«, der auch im Titel dieses Buches zu finden ist. Er bezog ihn aber ebenfalls auf militarisierte Polizeiverbände.43 Mit Blick auf die Täter wäre demzufolge nicht von »ganz normalen Deutschen«, sondern, im Sinne Brownings, von »ganz normalen Männern« unterschiedlicher Nationalitäten zu sprechen, die als »Fußvölker« mithalfen, die »Endlösung« zu realisieren.

      Der von Goldhagen als spezifisch deutsch herausgestellte eliminatorische Antisemitimus erweist sich im Spiegel neuerer Forschungen indes als gemeineuropäische Erscheinung jener faschistischen Internationale, die im Windschatten des »Dritten Reiches« und seines Achsenpartners Italien auf dem Kontinent entstanden war.44

      Wesentliche Impulse zur Erforschung der Trawniki-Männer gingen von der Strafverfolgung aus. Sie reicht in der Sowjetunion bis in das Jahr 1942 zurück, als diese Hilfspolizisten ihre größten Verbrechen begingen, und führt über die Vereinigten Staaten von Amerika nach Deutschland als Urheberstaat zurück.

      Der sowjetische Geheimdienst verfolgte Kollaborateure der deutschen Besatzer mit besonderem Eifer. Die juristische Grundlage bildeten zunächst die Artikel 58 des Strafgesetzbuches der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjet-Republik (RSFSR) von 1926 und der analog gestaltete Artikel 56 des Strafgesetzbuches der Ukrainischen SSR.45 Artikel 58 der RSFSR stellte einen weit gefassten Katalog »konterrevolutionärer Verbrechen«46 sowie die Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten oder Gruppen bei feindlichen Handlungen gegen die UdSSR unter Strafe.47 Üblicherweise wurde auf die Todesstrafe erkannt.

      Mithilfe des Artikels 58 ging die Sowjetunion zunächst gegen vermeintliche oder tatsächliche Nationalisten vor, die sich der sowjetischen Besatzungsherrschaft in den 1939/40 von der UdSSR annektierten Gebieten widersetzt hatten.48 Das Strafrecht war hierbei ein Instrument stalinistischen Terrors, neben Massenverhaftungen durch den Staatssicherheitsdienst (das NKWD) und Deportationen in die Lager der »Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager« (GULag).49 Nachdem die Rote Armee diese Gebiete im Laufe des Jahres 1944 wiedererobert hatte, ging die sowjetische Justiz gegen denselben Personenkreis erneut vor, nun aber unter dem Vorwurf des Landesverrats.50 Neben der individuellen Strafverfolgung wandte die UdSSR auch das Mittel kollektiver Repressalien an. So wurden die Wolgadeutschen ab Sommer 1941 als vermeintliches Sicherheitsrisiko nach Sibirien deportiert. Ein ähnliches Schicksal traf die indigene Bevölkerung der Krim und des Kaukasus. Gegen Wolgadeutsche wurden ab 1944 zusätzlich Strafverfahren nach Artikel 58 geführt.51

      Nach dem Scheitern der deutschen Offensive gegen Moskau führte das NKWD bereits im Frühjahr 1942 erste Militärstrafverfahren durch. Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR erließ ferner am 19. April 1943 die erste spezifisch gegen NS-Kriegsverbrecher und Kollaborateure gerichtete Rechtsvorschrift (Ukaz Nr. 43) über »Maßnahmen zur Bestrafung der deutsch-faschistischen Übeltäter […] sowie der Spione und Vaterlandsverräter unter den Sowjetbürgern und deren Helfershelfern«.52

      Auf Mordtaten der Deutschen und ihrer Verbündeten sowie Spionage und Vaterlandsverrat von Sowjetbürgern auf dem Territorium der UdSSR stand der Tod durch den Strang, der öffentlich vollzogen wurde. Zuständig waren Militärstrafgerichte. Für Beihilfe zu diesen Verbrechen waren 15 – 20 Jahre Lagerhaft vorgesehen. 1947 schaffte das Präsidium des Obersten Sowjets die Todesstrafe als Höchststrafe in der UdSSR ab und ersetzte sie durch eine 25-jährige Lagerhaft. Seit 1950 konnte dann aber doch wieder die Todesstrafe für Vaterlandsverrat und Spionage verhängt werden.53

      Im großen Maßstab wurden Verfahren durchgeführt, seit die Rote Armee ab Frühjahr 1943 von der Wehrmacht besetzte Gebiete laufend zurückeroberte. Hierbei ist zwischen einheimischen Beschuldigten und in Gefangenschaft geratenen Deutschen zu unterscheiden. Gegen beide Gruppen wurden anfänglich Schauprozesse gemäß Ukaz Nr. 43 abgehalten, später Geheimverfahren vor Militärstrafgerichten des sowjetischen Innenministeriums.

      Um die Abschreckungswirkung in den noch deutsch besetzten Gebieten zu erhöhen und die Westalliierten politisch unter Druck zu setzen54, führte die sowjetische Justiz im Juli 1943 einen öffentlichen Schauprozess in Krasnodar durch. Bei diesem ersten Prozess wegen NS-Verbrechen überhaupt waren elf Staatsangehörige der UdSSR unter dem Vorwurf der Kollaboration mit dem deutschen Sonderkommando 10 a (Einsatzgruppe D) angeklagt, das Gaswagen zur Vernichtung der Juden eingesetzt hatte.55 Im Dezember 1943 fand ein weiterer Schauprozess gegen drei Deutsche und einen Sowjetbürger in Charkow statt.56 Gegenstand auch dieses Verfahrens war u. a. die Ermordung der Juden. Nach Kriegsende, parallel zu den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher, folgten 1945/46 weitere Schauprozesse in sowjetischen Großstädten gegen hohe Offiziere der ehemaligen SS und Wehrmacht, darunter Anfang 1946 der ehemalige Höhere SS- und Polizeiführer Friedrich Jeckeln, der in Riga öffentlich gehenkt wurde.57

      Etwa 40 000 Sowjetbürger waren noch 1943 vom NKWD verhaftet worden. Die Zahl der Inhaftierten stieg bis in die ersten Nachkriegsjahre auf etwa 300 000. Bis 1952 dürfte die Mehrzahl von ihnen unter Ausschluss der Öffentlichkeit abgeurteilt worden sein, darunter zahlreiche ehemalige Trawniki-Männer und Polizisten, die allerdings meist mit dem Leben davonkamen.58 Ferner wurden Deutsche auf dem Gebiet der Sowjetunion abgeurteilt, vor allem 1949/50, als etwa 20 000 ehemalige Wehrmachtsangehörige und Besatzungsfunktionäre in Schnellverfahren zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurden.59

      Gezielte Ermittlungen gegen die ehemaligen Trawniki-Männer und Hilfspolizisten setzten etwa 1947 ein. Sie beruhten auf der Auswertung deutscher Dokumente, die die Rote Armee bei ihrem Vormarsch erbeutet hatte, und richteten sich vorrangig gegen ehemalige Rotarmisten, die nach Kriegsende in die UdSSR zurückkehrten oder von den Westalliierten dorthin repatriiert wurden. In Strafprozessen gemäß Artikel 58 wurde der Tatvorwurf meist pauschal erhoben. Für die Verurteilung genügte vielfach der Nachweis, im Lager Trawniki zum Waffendienst gegen die Sowjetunion ausgebildet worden zu sein. Dieser wurde durch Personalbögen und Versetzungsanordnungen aus der Lagerverwaltung, belastende Zeugenaussagen ehemaliger Kameraden und Geständnisse der Angeklagten geführt.60

      Der Staatssicherheitsdienst arbeitete mit Folter und Gegenüberstellungen, durch die Beschuldigte unter Druck gesetzt wurden.61 Ihre Aussagen waren oft formelhaft und von stalinistischer Rhetorik geprägt. Die Anklageschrift wurde den Beschuldigten meist erst unmittelbar vor dem Prozess zugestellt. Sie verzichteten ›freiwillig‹ auf einen Rechtsbeistand und wurden oft nur aufgrund ihrer eigenen Aussage verurteilt. Eine Berufung war nicht möglich. Nur ein Teil der Verurteilten kam wegen tatsächlicher NS-Verbrechen in den GULag. Seit 1955 wurden allerdings die meisten ehemaligen Wachmänner durch eine Amnestie nach Stalins Tod aus den Zwangslagern entlassen.62

      Gleichzeitig intensivierte das KGB in den 1950er Jahren seine Ermittlungen wegen NS-Verbrechen. Systematische Strafverfolgung richtete sich seit Anfang der 1960er Jahre auch gegen ehemalige Hilfspolizisten und Angehörige des SS-Ausbildungslagers Trawniki. Maßgeblich war nun nicht mehr der Artikel 58, sondern die Artikel 181 – 182 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation. Diese stärkten die Rechte der Angeklagten und schrieben den unabhängigen Zeugenbeweis verbindlich vor. Jedoch trugen die sowjetischen Verfahren wenig

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