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diese Stadt die Fähigkeit erlangt, dem Innern des Menschen, seiner ambivalenten Natur, mit aller Deutlichkeit metaphorisch Ausdruck zu verleihen. Lange noch wird das Empfinden des Besuchers dazu neigen, wenigstens vorübergehend der Bestürzung und Niedergeschlagenheit Raum zu geben. Historiker werden die Ereignisse sorgfältig untersuchen – doch eignen diese sich auch für eine Meditation, für Gedanken, die aus unauslotbaren Regionen der Seele emporsteigen, um die unbeschreiblichen Tiefen menschlichen Wesens zu ergründen.

       Die Altstadt breitet sich aus vor dem Meer, gegenüber der Insel Lokrum

      Eine Stadt, sehenswert, ganz friedlich, reich an Schätzen der Kunst, plötzlich schonungslos angegriffen, zum Bluten gebracht, misshandelt, erniedrigt, gepeinigt durch die Zerstörungswut eines unsinnigen Machtwillens, einer schrankenlosen Eroberungssucht.

      Dubrovnik – für mich eine Erinnerung, schmerzlich und wohltuend zugleich, ein häufig sich leise regendes Erlebnis, für immer eingraviert in mein Gedächtnis und verbunden mit einer linden Nostalgie. Genauer gesagt: Es handelt sich um den Palmsonntag 1991, als dieser Schmuckstein Dalmatiens und der Adria sich mir zeigte im Glanz eines beginnenden Frühlings, mit schon beängstigendem Geschehen im Hintergrund und einer Zukunft, die höchst bedrohlich aussah. Die Erinnerungen an meinen damaligen Besuch der Stadt sind vielseitig und überragen das Gewohnte. Sie führen zu Fragen, teilweise zu quälenden, die keine endgültigen Antworten finden werden. Wenngleich das Gedächtnis uns in die Vergangenheit zurückführt, so entfaltet es sich doch in der Gegenwart. Gedächtnis heißt ja Verinnerlichung, Er-Innerung. Unsere Erinnerungen sind jeweils ein gegenwärtiger Teil unseres Ichs, gebunden an einen bestimmten Zeitpunkt: Sei es, man gibt sich den im Bewusstsein flüchtig vorbeiziehenden Gedanken hin, sei es, man bemüht sich ganz gezielt, die Vergangenheit geistig wiedererstehen zu lassen, sie neu zu beleben, ja, sich sogar darin einzuhüllen.

      Stärken die Erinnerungen uns, machen sie uns froh, oder ist es nicht vielmehr so, dass sie schmerzliche Sehnsucht wecken oder gar Betrübnis? Das hängt wohl von ihrem Gehalt ab, auch von unserer jeweiligen Stimmung. Man sollte vielleicht am besten von einer Mischung sprechen. Bilder sind es in unserem Fall, aber auch eine Menge Ideen und Empfindungen, erfasst an einem einzigen, ganz ungewöhnlichen Tag und präzise gespeichert in den Fächern des Geistes. Nie kommen sie ganz zum Erlöschen, wie glimmende Kohlen sind sie geborgen unter der Asche des Alltags, bereit, sich plötzlich wieder zur Glut entfachen zu lassen, falls sich dazu die geistigen oder sonstigen Umstände einstellen.

      Über die Jahre hinweg kann ich Dubrovnik wiedererleben, so wie ich die Stadt erfahren habe an jenem Sonntag im März 1991, der damals schon nichts Gutes für den weiteren Verlauf ihrer Geschichte ahnen ließ. Ob ich es bewusst intendiere oder nicht, ich kann mich in meinen Träumereien und Sehnsüchten an diese Stadt erinnern, die man wohl zu Recht „die Perle der dalmatischen Küste“ nennt. Dann erlebe ich innerlich ihre Schönheit, die natürliche, wie auch die architektonische und künstlerische. Ich begegne den Bewohnern auf meinem Weg, genieße die laue Frühlingsluft und lasse mich von der Sonne wärmen. Die ruhige und gelassene Atmosphäre der Stadt erfüllt mich wieder, jedoch spüre ich auch die von gravierenden politischen Streitigkeiten ausgegangene Drohung, die an jenem Tag bereits auf ihr lastete. Die Mischung von Heiterkeit und Besorgnis, die ich dort empfand, kann ich heute noch gut nachempfinden, in ihrer ganz besonderen Eigenart und Tiefe.

      Dubrovnik, dieses unschätzbare Juwel europäischer Kunst und Geschichte, hat eine schlimme Zeit durchlebt. Lange Monate hindurch hat dort das Entsetzen geherrscht. Aggressive Barbarei und grober Unverstand haben die Lebensfreude zerstört. Bestürzende Nachrichten und Bilder, die von empörender Gewalt zeugten, erreichten uns. Sie haben meine Erinnerungen erschüttert und verändert in dem Sinne, dass sie die sonnigen Bilder der Stadt, die ich in mir trug, mit einem Anflug von Trauer verschatteten. Die Tragik der Ereignisse lässt sich nicht leugnen. Die gesamte Menschheit erfuhr in den Medien davon. Die Welt war wieder einmal ärmer geworden. Verdruss, Betrübnis, Trauer erfüllten viele Herzen und erinnerten notgedrungen an die zahllosen Geschehnisse ähnlicher Natur, die das Bild des 20. Jahrhunderts bereits so stark beeinträchtigt haben, indem sie Mord, Terror und Verwüstung verbreiteten und dabei abgrundtiefe Dimensionen des Widerwärtigen, des Bösen in der menschlichen Seele bloßlegten.

      Was lässt sich tun gegen Hass, Grausamkeit, Verbrechen, Krieg? An Menschen mit gutem Willen fehlt es nicht. Aber was kommt dabei heraus? Man kann sich befleißigen, dieser widerlichen Hydra die Köpfe abzuschlagen, doch wachsen sie immer wieder nach und vervielfältigen sich sogar. Zerstörungswut, ja. Man muss schon an unbeherrschbare Atavismen denken oder, in der Sprache der Theologie und der Metaphysik, an ein unaustilgbar Böses im Herzen der Menschen. Dennoch gibt es Mittel, Strategien, von Menschen gezeichnete Wege der Religion, der Politik, der Pädagogik, die imstande sein sollten, wenigstens Sicherungen einzuziehen, Barrieren zu errichten, Einhalt zu gebieten. Ist nicht beispielsweise die Europäische Union dazu ein beachtliches, von Erfolg gekröntes Beispiel? Auch tun die internationalen Organisationen ihr Möglichstes, die Vereinten Nationen an erster Stelle, doch ist ihre Effizienz, ihr Durchsetzungsvermögen, insofern zu gering, als sie keine Macht haben über das, was sich im Innern der Menschen zuträgt. So sind sie denn vielfach der Ohnmacht preisgegeben. Eine eigentliche Weltherrschaft ist auch nicht realisierbar. Sie müsste auf demokratischer Basis errichtet werden, ansonsten würde sie zur Diktatur herabsinken. Wieviel Demokratie lässt sich aber unter den jetzigen Umständen verwirklichen in den Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten? Die Schwierigkeiten erscheinen unüberwindbar.

      Meine Erinnerungen an Dubrovnik 1991 werfen immer wieder Fragen auf, alte und neue – solche, mit denen die Menschheit sich auf unterschiedliche Weise beschäftigt.

       Der Rundgang und die damit verbundenen Festungswerke

      I. Palmsonntag

      Es ist wiederum Palmsonntag. Viele Jahre sind vergangen seit meinem Besuch in Dubrovnik. Ich sitze zuhause an meinem Schreibtisch. Ein regnerischer Vormittag. Das Stück vom Wohnviertel, mit seinen Häusern und Gärten, das ich vor meinem Fenster erblicke, ist überzogen vom trüben Schleier eines kaum sichtbar zu Boden gehenden feinen Sprühregens. Ein gleichmäßiger, einfarbig bleichgrauer Himmel wölbt sich über der Stadt. Es wird heute der Sonne kaum gelingen, diese Wolkendecke zu durchdringen.

      Vor Kälte schaudern in den Gärten die Kirschbäume, bereits übersät von ihren feinen, zartrosigen Blüten, und die Magnolien sträuben sich sichtlich, jetzt schon pomphaft in Erscheinung zu treten: Noch leuchten sie nicht in ihrem prunkvollen Kleid aus Weiß und Lila, nicht gewillt, ihren üppigen Schmuck zu entfalten, weil die Unbilden der Witterung ihn verunstalten könnten. Die Forsythien, die bereits mit ihrer tief gelben Blütenpracht auftrumpfen, machen den Eindruck, sie hätten sich in der Zeit geirrt, inmitten von Sträuchern, die noch kahl sind und gerade erst begonnen haben, Knospen zu treiben. Sie bräuchten den Kontrast eines blauen Himmels und die Strahlen einer wärmenden Sonne. Bereits aufgeblühte Tulpen, eine Seltenheit noch, beugen, beschwert von der Feuchtigkeit, ihre faltenreichen, farbigen Köpfe, während die Narzissen, goldgelb oder weiß – die weißen tragen bekanntlich den schönen Namen „Poeten-Narzissen“ –, deren Blütenblätter die weit geöffneten, mit feinen Krausen geschmückten Kelche umrahmen, sich den Anschein geben, mit größerem Elan gegen das nasse Grau anzukommen.

      Palmsonntag, von den Franzosen auch „fête des Rameaux“ genannt, wohingegen die Engländer bescheidener, wie die Deutschen, von einem „Palm Sunday“ sprechen. Ich mag hier das Wort „fête“ nicht besonders, da ich nur schwerlich als „Fest“ einen Tag bezeichnen kann, der die Karwoche einleitet. Zwar gebe ich gerne zu, dass man die Freude des Osterfestes vorwegnehmen kann, indem man des triumphalen Einzugs Jesu in Jerusalem gedenkt. Das hindert aber nicht daran, dass die Reihe der Gottesdienste, die mit diesem Sonntag eröffnet wird, eigentlich ernsten Gedanken dienen soll, einer inneren Sammlung, einer Meditation, die sich nicht selten als Gebet herausstellt. Dazu gehört zweifellos ein gewisser Ernst, wenn nicht sogar eine Neigung zur Trauer. Die Passion weist den gläubigen

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