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GEWALT, GIER UND GNADE. Jakob Sass
Читать онлайн.Название GEWALT, GIER UND GNADE
Год выпуска 0
isbn 9783864082511
Автор произведения Jakob Sass
Издательство Readbox publishing GmbH
Zum Zeitvertreib begann Adolf Haas Tagebuch zu schreiben. Zumindest ein Heft mit 140 Seiten aus der Zeit 1915 bis 1916 ist als eines der wenigen selbst verfassten Dokumente erhalten geblieben. Leider liegt dieses wichtige Schriftstück heute nicht öffentlich zugänglich in einem Archiv, sondern befindet sich im Besitz von seinen Nachfahren. Eine Kopie gelangte glücklicherweise in die Hände von Hans-Joachim Schmidt, einem der besten Kenner der Geschichte von Tsingtau und der deutschen Kriegsgefangenen in Japan. Seit 2002 veröffentlicht er die Ergebnisse seiner bemerkenswerten selbst finanzierten Recherchen auf seiner Homepage „Die Verteidiger von Tsingtau und ihre Gefangenschaft in Japan (1914–1920)“.57 Adolf Haas gehört zu den prominenteren Personen in seiner umfangreichen Datenbank. In dem erhalten gebliebenen, kleinformatigen Tagebuchheft widmete er sich meist nur mit kurzen Einträgen dem Lagerleben. Es ging um Ausbruchsversuche, Gottesdienste, Kaisers Geburtstag und den Monatslohn, mit dem sich die Gefangenen das Nötigste kaufen konnten. „Nichts Besonderes, die Behandlung geht noch“, notierte er knapp Anfang März 1915. Ausführlicher verarbeitete er seine Erinnerungen an die Kämpfe in Tsingtau. Er notierte alle Parolen von August 1914 bis zur Kapitulation, zählte die einzelnen Befestigungen auf, schrieb heroische Gedichte von anderen ab, versuchte sich aber auch an eigenen Reimen und Prosa – selbst die „Erinnerung einer freiw. Krankenschwester“ scheint aus seiner Feder zu stammen.
Die verschiedenen Einträge zeigen, dass die Erfahrungen an der Front und in Gefangenschaft Adolf Haas keineswegs den späteren Weg zum Nationalsozialismus geebnet haben. Für ihn gilt, was der Historiker Thomas Weber für den Meldegänger Adolf Hitler und die meisten Frontsoldaten feststellte: „Die Mehrheit dieser Männer wurde durch den Krieg weder brutalisiert noch radikalisiert oder politisiert, sondern kehrte mit einem mehr oder weniger intakten, vor dem Weltkrieg erworbenen Weltbild in ihre Heimatstädte, Dörfer und Weiler zurück.“58 Adolf Haas äußerte sich in seinem Tagebuch nur zweimal rassistisch über die Japaner. Einmal beschreibt er, wie sie das „gelbe Gesindel“ in Tsingtau mit MG-Feuer „weg geputzt“ hätten. Und als die japanischen Bewacher in Tokushima ihren Gefangenen nautische Instrumente abnahmen, erregte er sich: „Die gelben Hunde aber wir werden uns schon rächen u. wenn wir ihnen die ganzen Palmen hier, mit Eßigsäure tränken müßten die Schufte.“59 Seine rebellischen Gedanken setzte er wohl nie in die Tat um. Dass der Erste Weltkrieg und die jahrelange Gefangenschaft nicht die maßgebliche „‚Urkatastrophe‘ in der Biografie des späteren SS-Schergen Adolf Haas“ waren, meint auch Markus Müller. Der Lehrer für Deutsch und Geschichte aus Nister, ganz in der Nähe von Haas‘ Heimatstadt Hachenburg, hat sich als Erster intensiv mit dessen Tagebuch beschäftigt. Die beiden rassistischen Äußerungen müsse man, so Müller, „wohl noch im chauvinistischen Grundtenor des späteren Kaiserreiches lesen“.60 Seine Zeit als Soldat und Gefangener habe aber „sicherlich ihren Beitrag dazu geleistet, jede Form menschlicher Regung bei Bedarf zu unterdrücken“.
Markus Müller recherchierte auch für die Zeit nach den letzten Tagebucheinträgen. Als das Lager Tokushima Anfang April 1917 aufgelöst wurde, gehörte Adolf Haas mit 205 Gefangenen zu den Ersten, die in das nahe gelegene neue Musterlager im kleinen Ort Bandō (heute Naruto) kamen. Dass Bandō zum bekanntesten damaligen Kriegsgefangenlager in Japan wurde, lag vor allem an seinem äußerst verständnisvollen Lagerkommandanten Matsue Toyohisa. Er entstammte einer alten Samurai-Familie und hatte großen Respekt vor dem deutschen Militär. Im Gegensatz zu einigen anderen japanischen und den meisten deutschen Lagern, geschweige denn von Adolf Haas‘ späteren Wirkungsstätten, waren in Bandō die Bedingungen äußerst human. Es gab keine Zwangsarbeit, keinen überflüssigen Drill, dafür Selbstverwaltung und viele Freiheiten für die knapp tausend Gefangenen. Unter Matsue Toyohisa ähnelte das Lager bald einer deutschen Kleinstadt mit einem bunten kulturellen Angebot: Es gab mehrere Lokale, eine Bibliothek, Lagerdruckerei, Bäckerei und Konditorei, zwei Teiche zum Baden sowie Sportplätze für Fußball, Schlagball, Tennis und Turnen, außerdem Pachtland für Gartenbau und Viehzucht, Werkstätten für Handwerk und Kunst, Vortragsabende und sogar ein Orchester sowie Theater-, Puppenspiel- und Gesangsgruppen. Der gelernte Konditor Adolf Haas arbeitete in den Jahren 1917/18 nicht etwa in der prestigeträchtigen Konditorei „GEBA“, auf deren Backtradition sich noch heute japanische Bäckereien und Konditoreien wie „Doitsuken“ („Deutsches Haus“) berufen.61 Haas half dagegen in der Lagerbäckerei, ganz gewöhnliche Brötchen und Brote für die täglichen Rationen zu backen.62
Blumen auf dem Tisch, Fotos, Bilder und Zeitungsausschnitte an der Wand, Insassen mit Pfeife und Musikinstrument – so sieht kein gewöhnliches Kriegsgefangenlager aus. Das Foto stammt höchstwahrscheinlich aus dem japanischen Lager Bandō (ca. 1917–1921) und zeigt Adolf Haas (vorne rechts, sitzend in weißer Uniform) mit einem Brot und einem großen Schneidemesser.
Dem Adressbuch des Lagers von 1917/18 zufolge engagierte sich Haas offiziell in keiner der „vielen kulturellen oder sportlichen Einrichtungen des Gefangenenlagers“, schreibt Markus Müller.63 Es ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, dass sich der Mittzwanziger über Jahre den kulturellen und sportlichen Angeboten komplett entzog: Immerhin hatte er in seinem Tagebuch eifrig eigene und fremde Lyrik gesammelt. In Osaka hatte er begeistert berichtet, dass „schöne Gedichte vorgetragen wurden“ und dass es bald „Turngeriste“ geben werde. „Es ist ja dies auch ein sehr schöner Sport.“64 Vor allem seine spätere laienhafte Kunstliebe spricht dafür, dass ihn das Lagerleben in Bandō nachhaltig prägte. Vom 8. bis 19. März 1918 konnten beispielsweise Gefangene und japanische Besucher in der „Ausstellung für Bildkunst und Handfertigkeit“ 450 im Lager angefertigte Gegenstände wie Spielsachen, Holzarbeiten, Theaterkostüme, Kunstwerke und Lebensmittel bestaunen. Auch die groß angekündigte Aufführung von Beethovens Neunter Sinfonie am 1. Juni 1918 durch das Lagerorchester mit einem Chor aus 80 Männern ließen sich wohl die wenigsten Gefangenen entgehen.65 Das Konzert ist der Höhepunkt des deutsch-japanischen TV-Dramas „Ode an die Freude“ („Baruto no gakuen“, 2006), das anschaulich die Geschichte des Lagers erzählt, wenn auch ein wenig romantisiert.66 Eine wichtige Rolle spielt zufälligerweise ein junger Bäcker. Heute zählt die Neunte Sinfonie zu den beliebtesten Stücken in Japan. Seit 1982 wird sie jedes Jahr an verschiedenen Orten erneut aufgeführt, in Osaka sogar mit 10.000 japanischen Laiensängern.
Trotz der vielseitigen Ablenkung und Freiheiten litten die Gefangenen nicht selten unter Langeweile, dem Mangel an Privatsphäre sowie der jahrelangen Ungewissheit über den Kriegsverlauf und ihre Heimkehr. Am schlimmsten erlebten sie die „Stacheldrahtkrankheit“ im letzten Jahr in Bandō. Die Nachricht von der Niederlage Deutschlands hatte sie Ende 1918 bitter überrascht. Mit dem Ersten Weltkrieg endete jedoch nicht sofort ihre Gefangenschaft. Das besiegte Deutschland konnte weder Schiffe schicken noch eine Rückreise finanzieren und Japan kooperierte erst nach der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages im Juni 1919.67 Mehrfach hatte Adolf Haas über die Jahre mit einem „Fräulein Gertrude Stahl“ aus Hachenburg geschrieben. Im Juli 1919 kritzelte er auf einer Postkarte aus der Lagerdruckerei, die für Spenden für die „notleidenden Kameraden in Ost-Sibirien“ warb: „Gertr. ich glaube, man ist hier in Gefangenschaft ein andrer Mensch geworden. man ist irre geworden an der Menschheit.“68 Auf ihre Frage, wann er nach Hause kommen werde, antwortete Haas: Wohl 1920, sollte dem nicht Matthias Erzberger im Wege stehen, der Chef der Waffenstillstandskommission, der als Befürworter des Versailler Vertrages von nationalen Rechten gehasst wurde und 1921 ermordet werden sollte.
Seinen 26. Geburtstag musste Adolf Haas am 14. November 1919 noch in Gefangenschaft feiern. Einen Monat später war er nach fünf Jahren endlich wieder ein freier Mensch. Rund ein Viertel der Bandōer entschied sich wegen der unsicheren Lage in der Heimat, nach Tsingtau oder China zurückzukehren, in Niederländisch-Indien meist als Polizist zu arbeiten oder in Japan zu bleiben. Dort trugen sie dazu bei, dass sich die deutsch-japanischen Beziehungen in den 1920er-Jahren schnell normalisierten.69 Adolf Haas zog es nach Hause. Die zweimonatige Reise mit dem Schiff „Hōfuku Maru“, zusammengedrängt mit mehr als 940 Personen, wurde seine letzte Seefahrt. An seine Zeit