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wo sie nach wenigen Sekunden in einer Wolke aus Rauch und Blut explodierte. Es folgten Schreie, die von grausamen Schmerzen kündeten, vom Leiden und Sterben, eine Symphonie des Grauens.

      Der Verrückte am Boden stöhnte erneut und holte mich in die Realität zurück. Er richtete sich halb auf und funkelte mich aus dem gesunden Auge an. Die linke Hand presste er auf den Bauch, mit der rechten tastete er nach der Sichel. Speichel troff ihm von der Unterlippe.

      Ich wandte mich ab und rannte davon.

      „Lauf!“, schrie der Irre. „Mir entkommst du nicht.“ Ich hörte, wie er stöhnend auf die Beine kam und die Verfolgung aufnahm. Bald gelangte ich an die Kaimauer und lief einfach weiter auf einen Bootssteg. Zu spät wurde mir klar, dass ich in eine Sackgasse lief. Schon ertönten die Schritte meines Verfolgers auf dem hölzernen Untergrund.

      „Ich werde dich ausweiden!“

      Der Steg endete vor einem Schiff, das wie durch ein Wunder den Angriff der Piraten überlebt hatte – wenn auch nicht ohne Schaden zu nehmen. Nostalgie hieß es auf dem Rumpf. Ich rannte über die Brücke hinauf zum Hauptdeck. Überall lagen Schiffstrümmer. Zersprengte Fässer, deren Inhalt sich auf dem Boden verteilte: Tee, Korn, Gewürze, Schmucksteine …

      Ich riskierte einen Blick über die Schulter, stolperte über eine Leiche und wäre beinahe gestürzt. Mein Verfolger war mir dicht auf den Fersen. Ich rannte zum Hauptmast, der einen Meter über dem Deck abgeknickt war, und kletterte hinauf. Der Mast musste mit der Spitze irgendwo aufliegen, führte er doch aufwärts. Sein Ende verschwand im Trüben. Ich lief weiter. Mein Atem ging pfeifend. Der beißende Nebel brannte in meinen Lungen.

      Bald erkannte ich, wohin der Mast führte. Es war das Deck der Swimming Island. Das Krähennest der Nostalgie hatte sich in der Reling des Piratenschiffes verhakt. So hätte ich mühelos auf das Hauptdeck gelangen können. Aber spätestens dort hätte mein Verfolger mich eingeholt. Panisch suchte ich nach einer anderen Fluchtmöglichkeit. Mein Blick fiel auf das Segel. Es hing in Fetzen vom Rah. Das Tauwerk der Takelage hatte sich darin verheddert, und das Segel sich in einer Luke im Schiffsrumpf der Swimming Island verfangen.

      Ich zögerte nicht. Ich war damals ein Feigling, aber die Angst trieb mich zu einer mutigen Tat. Ich sprang. Im Fallen glitten meine Hände über das Segel und ich bekam eines der Taue zu fassen. Ein Ruck ging durch meine Arme. Mein Verfolger stieß einen überraschten Laut aus.

      „Glaubst du, so entkommst du mir?“, brüllte er. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie auch er sprang. Er flog nah an mir vorbei, während seine Hände hoffnungslos über das glatte Segeltuch glitten. Ich betete, dass er ins Wasser stürzte. Dann verriet mir ein neuerlicher Ruck, dass auch er Halt gefunden hatte. Kurz fürchtete ich, das Segel könne sich von der Luke im Schiffsrumpf losreißen. Doch es hielt. Ich vergeudete keine Zeit und kletterte durch das Durcheinander aus Tauen, Spieren und Segeltuch. Ich spürte ein Rucken, das durch die Seile ging, und wusste, dass mein Peiniger die Verfolgung erneut aufgenommen hatte. Ich fühlte mich wie eine Fliege, die einer wahnsinnigen Spinne ins Netz gegangen war.

      Unter großer Anstrengung erreichte ich die Luke und zwängte mich an der dahinter befindlichen Kanone vorbei aufs Batteriedeck. Zwielicht und klamme Kühle umfingen mich. Der Geruch von Rost lag in der Luft. Oder war es Blut?

      Ich rannte zum anderen Ende des Raums. Als ich einen von Öllampen notdürftig beleuchteten Gang betrat, hörte ich, wie mein Verfolger laut fluchend mit der Kanone rang. Ich rannte weiter, obwohl meine Oberschenkel brannten, als stünden sie in Flammen. Meine Schritte hallten laut auf dem eisernen Boden. Irgendwo tief unten im Schiffsrumpf ertönte ein stählernes Stöhnen. Ratten schlüpften aus Spalten in den Wänden, begleiteten mich ein Stück, fiepten und quiekten und verschwanden wieder. Hinter mir eilten die gekreischten Flüche dem Irren voraus, überholten mich und verloren sich in den Tiefen des Schiffes.

      Ich gelangte an eine Kreuzung, wandte mich nach rechts und lief geradewegs in einen Stolperdraht. Ich spürte kaum, wie er riss. Eine Explosion ertönte, und eine rostige Klinge klappte aus der Wand, sauste eine Handbreit über meinen Kopf hinweg und knallte mit ohrenbetäubendem Scheppern gegen die Wand. Ich verdankte mein Leben ausschließlich der Tatsache, dass ich so klein war. Vor Schreck blieb ich stehen und bemerkte vermutlich nur deshalb den Schacht, der sich in der mit Nieten gespickten Wand auftat. Ein Konstruktionsschacht oder Ähnliches. Er war gerade groß genug, dass ich hindurch passte. Mein Verfolger sicher nicht.

      Ich ging auf alle Viere. Die schnellen Schritte meines Peinigers und ihr Echo machten es unmöglich zu sagen, wie dicht er mir auf den Fersen war. Ich krabbelte in den Schacht …

      „Nein!“ Eine Hand umschloss mein Fußgelenk. „Du entwischst mir nicht, Bürschchen!“ Verzweifelt krallte ich mich an den Nietköpfen fest, die aus den Wänden ragten, und trat nach der Hand. Meine verschwitzten Finger fanden kaum Halt. Rutschten …

      Plötzlich war ich frei. Mein Verfolger hatte mir den Schuh mitsamt Socken ausgezogen. Panisch kroch ich vorwärts, bis ich außer Reichweite seiner Arme war. Der Irre kreischte vor Wut.

      „Du bist tot, Junge!“, brüllte er. „Einer wie du überlebt nicht im Unterrumpf. Und wenn du es doch schaffst, von hier zu entkommen, schneide ich dich auf und erwürge dich mit deinen eigenen Därmen.“ Ich kroch weiter, während mein Verfolger mir Drohungen und Verwünschungen nachschickte. Irgendwo am Rande meines Bewusstseins nahm ich wahr, dass ich leise wimmerte. Wasser lief mir aus Nase und Augen und tropfte auf den eisernen Grund.

      Bald umschloss mich wattige Schwärze. Die Rufe des Irren verstummten, und nur noch das stählerne Knarren aus den Tiefen des Schiffes und das Tropfen von Wasser waren zu hören. Nach einer Weile gelangte ich erneut an eine Kreuzung. Unschlüssig spähte ich in alle Richtungen. Zu meiner Linken knickte der Schacht nach einem Meter senkrecht nach unten ab. Rostige Sprossen wuchsen aus der Wand. Die braunen Schachtwände reflektierten schwach ein unstetes Licht, das am unteren Ende des Schachtes wohnte. Ob Kinder beim Bau dieses Schiffes geholfen hatten? Dieser Schacht war zu klein für einen ausgewachsenen Mann und doch eindeutig zum Herauf- und Herunterklettern gedacht.

      Ich wandte mich nach links und stieg die Sprossen hinab. Das Eisen ächzte. Während ich tiefer kletterte, wich die rostige Kälte allmählich miefiger Wärme. Der Schacht endete in einer Kammer mit niedriger Decke, die von einer Fackel erhellt wurde. Zur Hälfte füllte ein alter Mann sie aus, der unter einer lumpigen Decke schlief. Sie schien mehr aus Dreck als aus Stoff zu bestehen. Sein Schnarchen klang hohl in dem kleinen Raum. In der Hand hielt er eine fast leere Flasche. Allein der Geruch des Inhalts ließ meine Augen tränen. Auf dem Gesicht des Mannes, das zum größten Teil von einem verfilzten grauen Bart beherrscht wurde, hockte eine Ratte und knabberte an seinem Ohr.

      Ich betrachtete die Habe des Alten, die entlang der Wand aufgereiht war: ein rostiges Messer, ein Stück Schnur, ein schimmeliger Kanten Brot, ein zerbrochener Tonbecher, etwas, das aussah wie ein Knäuel Rattenschwänze, und ein halbes Buch. Hätte ich damals schon gewusst, wie wertvoll solche Dinge an diesem Ort waren, ich hätte sie allesamt gestohlen.

      Ich durchquerte den Raum und schob den Vorhang am anderen Ende zur Seite. Dahinter führte ein größerer Schacht aufwärts. Ich machte mich an den Anstieg und stieß vor einen schweren Eisendeckel. Ich musste all meine Kräfte aufbieten, um ihn beiseite zu schieben. Ich kletterte durch das Loch und fand mich in einem dunklen Gang wieder. Himmel, der Rumpf dieses Schiffes war ein einziges Labyrinth. Ich folgte dem Gang, bis dieser in einen größeren, beleuchteten mündete. Gewiss war ich auf dem richtigen Weg.

      Ich ahnte ja nichts.

      Es handelte sich hierbei um den Hauptgang der dritten Ebene im Unterrumpf, ein Gang, der einmal im Kreis durch die gesamte Ebene führte. Unzählige kleinere Gänge und Schächte zweigten davon ab, und selbst die abgebrühtesten Crewmitglieder der Swimming Island wagten sich nur bis an die Zähne bewaffnet hinein.

      Denn in diesem Gang lebte ein Bär. Eine gewaltige Bestie, so groß, dass sie den Hauptgang nicht mehr verlassen konnte. Das Monster musste als Jungtier hineingelangt sein und ernährte sich seither von jenen Dummköpfen, die es wagten, sein Reich zu betreten. Es fraß auch das Perl, das seine Opfer im Blut hatten, und die Droge machte es blutrünstig

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