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Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild. Carl Wilckens
Читать онлайн.Название Dreizehn Band 1-3: Das Tagebuch / Die Anstalt / Das Spiegelbild
Год выпуска 0
isbn 9783862827282
Автор произведения Carl Wilckens
Жанр Зарубежная классика
Серия Dreizehn -13-
Издательство Readbox publishing GmbH
„Was kümmert es dich? Bekommst du nicht, was du willst?“ Der Sänger rollte die nächste Zigarette und hielt sie hoch. End musterte sie kurz.
„Einverstanden. Aber wisset: Ihr werdet mir nicht glauben. Ihr werdet spöttisch lachen wollen, den Kopf schütteln und mich einen Narren schimpfen wollen. Lasst es! Denkt euch euren Teil, aber behaltet eure Gedanken für euch. Anderenfalls fahre ich nicht fort, ehe ich nicht eine weitere Zigarette bekommen habe.“
Der Sänger warf die Streichholzschachtel in Ends Zelle. „Ich werde sie nicht mehr brauchen. Lass sie nur die Wärter nicht sehen.“ Die Zigarette folgte. End zündete sie an und wieder rauchte er sie in aller Ruhe auf, ehe er ein weiteres Wort sprach.
„Bevor ich den Aufseher der South Harrow Colliery erschlug, dutzende Arbeiter meinem Beispiel folgten und die Revolte der Arbeiter zu einem Bürgerkrieg wurde“, begann er, „bevor das Militär in eine demonstrierende Menge schoss und die Aufstände eskalierten, ja, bevor ich nach Treedsgow kam und dort ein schreckliches Geheimnis lüftete, bevor die Swimming Island des berüchtigten Captain Black Ravens sank, war ich bloß der Sohn eines sehr reichen Mannes aus dem Bergmannsadel …“
End
Ich war ein unscheinbares Kind. Klein, mager und blass. Kein Vergleich zu heute. Ich hing stets am Rockzipfel meiner Schwester. Emily. Sie war fünf Jahre älter als ich. Wenn es darum ging, Neues auszuprobieren, ließ ich ihr immer den Vortritt. Wenn mich Albträume plagten, fand ich Zuflucht unter ihrer Bettdecke. Sie sorgte für mich. Sie nahm mich in Schutz und spendete mir Liebe, wenn ich mich danach sehnte.
Unsere Mutter war bei meiner Geburt ums Leben gekommen. Emily erzählte, dass sie die schönste Frau auf Erden gewesen sei. Mit einem traurigen Lächeln und stets liebevollen Augen. In meiner Vorstellung war sie ein Engel.
Wir wuchsen in der Obhut von Rico Fonti auf. Fonti stammte aus dem Süden, aus Izzian. Er war ein kleiner Mann. Er hatte dunkles Haar und buschige Augenbrauen, einen Spitzbart und einen kunstvoll gewichsten Schnurrbart. Sein strenger, durchdringender Blick kündete von Klugheit und Bildung. Er galt als einer der besten Lehrer überhaupt. Er beherrschte sieben Sprachen und verfügte über unvergleichliche Kenntnisse in unzähligen Wissenschaften. Lehrer wie er, die ihr Gebiet nicht nur beherrschen, sondern auch lehren können, sind so selten wie wahre Freundschaft. Fonti lehrte uns Lesen und Schreiben, Mathematik, Geschichte, Kultur und Geographie, Astronomie und Astrologie, Mythen, Religion und Philosophie, Naturkunde und Chemie sowie fremde Sprachen und Schriften einschließlich der norvolkischen Runen. Mein Vater bezahlte ihn.
Mein Vater.
Ich hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Ich wusste nur, dass er ein erfolgreicher Mann aus den Reihen des Bergmannsadels war. Reich an Einfluss und Geld. Gewiss trug er einen schwarzen Anzug, rauchte Zigarre und wachte aus der Ferne über mich und meine Schwester. Ich glaubte, dass ich und Emily ihn eines Tages treffen würden, sobald wir ausgebildet waren.
Doch haben wir unsere Ausbildung nie abgeschlossen … Wir blieben nie lange an einem Ort. Fonti erklärte uns, dass wir Erfahrung sammeln mussten. Wir reisten durch Dustrien und verweilten höchstens einen Monat in einer Stadt. Die Metropole Rust bildete da eine Ausnahme, war sie doch um ein Vielfaches größer als gewöhnliche Städte. Wir begegneten vielen Menschen: Händlern und Betrügern, Handwerkern und Bergmännern, Bettlern und Dieben …
Fonti lehrte uns, in diesen Menschen zu lesen. Ihre Mimik und Gestik zu deuten und ihre Absichten zu durchschauen. Er schenkte uns den Blick fürs Detail, und bald sahen wir nicht mehr die Gesichter unserer Gegenübers sondern Grenzflächen der Kommunikation. Weiteten sich die Pupillen eines Händlers beim Anblick eines Gegenstandes, den er erwerben wollte, bedeutete dies, dass man den Preis in die Höhe treiben konnte. Verhielt sich jemand offen, laut und lustig, hatte er meist etwas zu verbergen. Auch Kleidung verriet viel. Über Reichtum, Bescheidenheit und Selbstvertrauen.
Fonti ließ uns tagelang in der Obhut von Handwerkern und Landwirten, Heilern und Händlern, um deren Berufe kennenzulernen. Schon bald kannten Emily und ich die Bearbeitungsverfahren verschiedener Materialien wie Holz, Stein und Stahl. Wir konnten komplexe Konstruktionen zu Papier bringen und einfache sogar selbst fertigen. Wir erfuhren, welche Pflanzen essbar sind und wie man sie anbaut, welche Kräuter heilen und wie man sie richtig zubereitet.
Emily und ich lernten unverhältnismäßig schnell. In jedweder Hinsicht. Bescheidenheit wäre hier schlicht unangebracht. Lesen, Schreiben und Rechnen beherrschten wir jeweils bereits im Alter von fünf. Mit sieben Jahren stiegen wir in die höhere Mathematik ein. Wir lasen Texte auf höchstem Niveau. Wir kannten uns mit den Kulturen von Ländern aus, von denen viele nicht einmal wissen, dass sie existieren.
Aber die Theorie genügte Fonti nicht. Eines Tages verkündete er, dass wir Dustrien verlassen würden. Da war ich elf, meine Schwester sechzehn Jahre alt. Wir reisten nach Grey Heaven und verbrachten die Nächte in einer Hafenherberge, während unser Schiff abreisebereit gemacht wurde.
An unserem letzten Tag lagen Emily und ich nebeneinander auf einer Wiese unter einer Ulme. Es war ein Fleck Natur inmitten der grauen Hafenstadt. Das Gras wuchs hoch und verbarg uns vor Blicken. Das Sonnenlicht wärmte uns die Gesichter. Unsere Köpfe berührten sich fast, und wir lauschten dem Flüstern des Baumes.
Bäume erzählten uns Geschichten. Wenn der Wind durch ihre Kronen strich, verwandelte sich das Rauschen in unseren Ohren in Worte. Die Bäume berichteten von Dingen, die wirklich geschehen waren. Von Geheimnissen. Es mag unglaublich erscheinen, aber es ist wahr. Einige Male hatten wir auf diesem Wege erfahren, dass etwas am Fuße eines Baums vergraben lag. Wertsachen, Diebesgut … Aber viel interessanter waren die Geschichten, die die Bäume erzählten. Fedlum, die Ulme, unter der Emily und ich an jenem Tage lagen, war über dreihundert Jahre alt. Ich glaube, ihm war nicht klar, dass wir lauschten. Wenn Bäume flüstern, ist es etwas zwischen Reden und Denken. Sie können sehr direkt sein, aber die meiste Zeit lassen sie einfach ihre Gedanken schweifen. Der Wind, der durch ihre Äste streicht, ist ihr ausströmender Atem. An windstillen Tagen scheint es, als holten sie nach jedem Satz tief Luft. Im Winter schliefen sie und nur selten murmelten sie im Schlaf.
Wie die meisten Bäume fürchtete Fedlum sich vor Menschen. Viele seiner Freunde waren ihnen zum Opfer gefallen. Doch er mochte ihre Kinder. Seine Gedanken verweilten einige Zeit bei zwei Jungen, die sich gegenseitig die Mutprobe auferlegten, hoch hinauf zu klettern. Dann ließ er die Erinnerung an ein junges Liebespaar Revue passieren, das im Schatten seiner Krone heimliche Küsse tauschte.
Jäh dachte er wieder an die Kinder. Ein dünner Ast brach, und einer der Jungen stürzte in die Tiefe.
Ich schreckte hoch und sah zu meiner Schwester.
„Dem Jungen ist nichts passiert“, sagte sie. Sie setzte sich auf und strich mir durchs Haar. Das tat sie oft. „Komm, gehen wir. Signore Fonti sucht uns bestimmt schon.“ Wir standen auf.
„Wer als erster am Hafen ist …“ Sie fing an zu rennen.
„Das ist unfair.“ Ich beeilte mich, ihr zu folgen. Natürlich war Emily schneller. Sie hatte längere Beine und war schon zwischen den Häusern jenseits der Wiese verschwunden, noch ehe ich dieselbe Strecke zur Hälfte zurückgelegt hatte.
Das war das letzte Mal, dass ich sie sah.
Als ich die Straße Zur See erreichte, war sie bereits weit voraus. So schnell ich konnte, folgte ich der abschüssigen Straße.
„Vorsicht, Junge“, riefen die Menschen, einige verärgert, andere lachend. Je näher ich dem Hafen kam, desto intensiver wurde der Geruch nach Fisch und der Geschmack von Salz in der Luft. Schon konnte ich die Fregatte sehen, die Fonti für unsere Abreise vorbereiten ließ. Der Name des Schiffes leuchtete in goldenen Lettern auf dem Rumpf: Seven Worlds. Wieder spürte ich dieses Ziehen im Magen, das der Gedanke an das bevorstehende Abenteuer verursachte. Welche Wunder uns wohl erwarteten?
Dann bemerkte ich das Schiff am Horizont. Etwas damit stimmte nicht. Ich wurde langsamer. Es schien noch weit weg zu sein und trotzdem war es ungewöhnlich groß. Es hatte viele Masten. Die Segel