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      Dianes Augen blitzten im Licht der Feuerwerkskörper, obwohl ihr Gesicht im Schatten lag.

       Neun. Zehn.

      „Ich habe dich geliebt, William.“ Bei diesen Worten klang sie wieder wie sie selbst. „Ehrlich.“

       Elf.

      „Kannst du bis dreizehn zählen?“

       Zwölf.

      „Kannst du?“

      W. D. Walker

       1. ÄHRENGOLD 1713, VIERTABEND

      Etwas Schreckliches ist geschehen.

      Ich erwachte früh. Ich wäre gerne sofort zu Emilys Wohnung gegangen, aber ich sagte mir, dass es das Beste sei, sie ausschlafen zu lassen.

      Wäre ich doch bloß gegangen.

      Ich öffnete das Fenster und ließ die kühle Morgenluft herein. Die Straßen Treedsgows lagen leer und friedlich da. Ich konnte gebackenes Brot riechen. Ich ließ mich am Schreibtisch nieder und schlug zum ersten Mal seit Langem mein Tagebuch auf. Durch die Wand hörte ich dumpf Eds Schnarchen. Er war erst vor wenigen Stunden heimgekehrt – ich war nicht umhingekommen, es zu bemerken, hatte er sich doch den Zeh gestoßen und laut geflucht – und würde wohl noch bis zum Nachmittag schlafen. Eine Weile blätterte ich durch die Seiten und schnappte Bruchstücke meiner Vergangenheit auf.

       Heute lernte ich Emily End kennen … Ist das ein Glücksbringer? … halte es für das Beste, voneinander Abstand zu halten … In meinem Bett lag ein Mädchen … Bleib bei mir … Ich stelle dir frei zu springen, Walker …

      Schließlich griff ich zum Füllfederhalter, tunkte ihn ins Tintenfass und schrieb über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Meine Gedanken liefen in einem Trichter zusammen. Zuletzt fühlte sich mein Kopf wunderbar leicht an. Ich legte den Füllfederhalter nieder. Ich wusste genau, was zu tun war. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, Emily gewiss schon wach. Ich zog mich an und verließ das Haus.

      Wenig später betätigte ich die Seilzugklingel zu Emilys Wohnung. Niemand öffnete. Da bemerkte ich, dass die Tür zum Treppenhaus nur angelehnt war. Ich dachte mir nichts dabei. Schließlich hatten in der vergangenen Nacht viele Menschen getrunken, gewiss auch der ein oder andere Bewohner dieses Hauses. Da konnte es vorkommen, dass jemand vergaß, die Tür zu schließen.

      Ich stieg die Treppen hinauf in den dritten Stock. Emilys Tür war längst wieder glatt. Der Hausbesitzer hatte einen Schreiner herbestellt und Dianes Botschaft entfernen lassen. Ich klopfte.

      Ihre Tür schwang auf.

      Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Ich legte eine Hand an das Holz und übte leichten Druck aus.

      „Emily?“

      Stille. Beinahe vollkommen. War da ein schwaches Atmen?

      „Emily?“, fragte ich lauter.

      „Hilfe.“ Das war ihre Stimme! Leise und kraftlos. Ich stieß die Tür auf, betrat das Esswohnzimmer und rutschte auf einer Blutschliere aus, ein rotglänzendes Lächeln auf den Bodenfliesen. Ich strauchelte und wich zurück. Noch mehr Blut bedeckte den Boden, klebte auch an den Möbeln und der Wand. Ein Stuhl war umgekippt. Was war hier geschehen? Wo war Emily?

      Ich durchquerte den Raum, darauf bedacht, nicht in das Blut zu treten. Trotzdem hinterließen meine Schuhsohlen rote Abdrücke.

      „William.“ Schwach, zittrig.

      Da war sie: Sie lehnte zusammengesunken an der Wand. Rote Handschuhe aus Blut, die ihr bis über die Ellbogen reichten, überzogen ihre Unterarme. Ihr weißes Nachthemd war rotverschmiert. Vor ihr lag ein Messer. Zentimeterlange Schnittwunden klafften in ihren Armen. Wie viel Blut hatte sie verloren? Zwei Liter? Drei? Sie blickte auf. Blanke Angst lag in ihren aufgerissenen Augen. Ich hastete zu ihr und geriet kurz ins Schliddern. Behutsam fasste ich sie an den schmalen Schultern. Ihre Haut war eiskalt.

      „Hast du hier irgendwo Verbände?“, fragte ich. Ich war überrascht, wie ruhig meine Stimme klang. Emily öffnete den Mund, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Ich hastete zu ihren Küchenschränken. Ich riss Schubläden und Schränke auf, schaute auch in der Kommode ihres Esswohnzimmers nach. Nichts. Unaufhörlich rann das Leben aus den Schnitten an Emilys Armen.

      Kurzentschlossen zog ich mein Hemd aus, nahm das Messer und schnitt den Stoff in Streifen. Ich kniete mich neben sie, bettete einen ihrer Arme auf meine Oberschenkel und wickelte die Stoffstreifen fest darum. Emily reagierte nicht. Entweder war sie ohnmächtig …

      … oder tot.

      Ich verband ihre Unterarme. Erst dann wagte ich, ihren Puls zu fühlen. Da war er, schwach, aber da. Ich stand auf, rannte aus der Wohnung und hämmerte gegen die Tür gegenüber. „Einen Arzt!“, schrie ich. „Holt einen Arzt. Aufmachen. Macht auf!“

      „Was soll dieser Lärm?“ Die Stimme kam aus dem Stockwerk tiefer im Treppenhaus. Ich ließ von der Tür ab und sprang die Stufen hinab. Auf halbem Wege kam mir ein Mann entgegen – derselbe Mann, den ich vor einigen Vierteln um eine gute Stunde Schlaf gebracht hatte, weil ich versucht hatte, in Emilys Wohnung zu gelangen.

      „Emily“, keuchte ich. „Sie verblutet. Wir brauchen einen Arzt. Schnell!“ Der Mann sah meine blutverschmierten Arme. Er riss die Augen auf. Ohne ein Wort wandte er sich um und hastete die Treppen hinab. Ich kehrte in Emilys Wohnung zurück an ihre Seite.

      „Halte durch“, murmelte ich. „Bitte, halte durch.“ Wer hatte das getan?

      Die Minuten verrannen, und drückende Stille umfing mich. Wann kam Hilfe? War der Mann überhaupt los, um welche zu holen? Oder hatte er das Blut gesehen und war einfach davongerannt? Ich betrachtete Emilys Gesicht. Sie war leichenblass, ihre Haut eiskalt. Durfte ich sie allein lassen? Alles in mir sträubte sich dagegen. Als fürchtete ich, der Tod warte nur auf die Gelegenheit, mit ihr allein zu sein. Mir graute vor der Vorstellung, hierher zurückzukehren und sie tot vorzufinden. Doch es gab nichts mehr, das ich für sie tun konnte. Wenn keine Hilfe kam, würde sie sterben.

      Da ertönten hastige Schritte im Treppenhaus. Ich rannte zur Tür und riss sie auf.

      „Hierher“, rief ich. Zwei Männer mit Koffern erschienen am Treppenabsatz. Einer von ihnen, ein kleiner Mann mit dichtem Bart und Glatze, atmete pfeifend.

      „Sie liegt dort. Beeilung.“ Die Ärzte hasteten wortlos an mir vorbei in Emilys Wohnung, legten ihre Koffer auf den Tisch und klappten sie auf. Sie warfen weiße Kittel über und fingen an, Emily zu untersuchen. Minutenlang herrschte Schweigen, während die Ärzte arbeiteten und Atem schöpften. Kritisch musterten sie meine provisorischen Verbände.

      Der Kleinere hielt mit fragendem Blick eine Schere hoch.

      Der andere schüttelte den Kopf und hob Einhalt gebietend die Hand.

      „Puls schwach“, meinte der Kleinere daraufhin. „Wir müssen sie ins Hospital bringen.“ Sie erhoben sich, traten vor ihre Koffer und fingen an, eine Trage aufzubauen.

      Erneut ertönten Schritte im Treppenhaus. Die Tür schwang auf, und zwei Männer betraten die Wohnung: Konstabler Lovelace und der Detektiv, den man auf Dianes Fall angesetzt hatte. Lovelace Augen fixierten kurz mich, sprangen zu Emily, dann wieder zu mir.

      „Habe ich Ihnen zu viel versprochen, Harper?“, fragte er, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Ich sagte doch, das dürfte interessant werden.“ Harper antwortete nicht, sondern musterte die Wohnung mit professioneller Miene.

      „Was wollen Sie hier?“, fragte ich.

      „Wir wurden informiert, dass hier ein Mord geschehen sei“, sagte Lovelace. „Es überrascht mich nicht, Sie hier zu treffen, Mr. Walker.“

      Ich sah abwechselnd von Lovelace zu Harper. „Was meinen Sie?“

      „Sie sind jetzt zum zweiten Mal in einen Mord verwickelt“, sagte Lovelace mit gefühlskalter Miene. „Das macht Sie zum

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