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wagten nicht, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Nur Carl summte leise vor sich hin. Er war offenbar bester Laune.

      Nach einer Weile verstummte sein Singsang. „He, Bohnenstange“, rief er von seinem Platz hoch oben im Regal. „Fadenarm. Wie lange willst du noch dasitzen und in diesen Spiegel starren?“ Der Marionettenmann ignorierte ihn. Aber Carl schien der Monolog ebenso recht zu sein wie eine Unterhaltung. „Dass du dich immer noch nicht langweilst! Was tut Emily gerade? Bohrt sie in der Nase? Sitzt sie auf dem Abort? Du vergeudest deine Zeit, Bohnenstange. Du vergeudest dein Talent! Ich mag dich nicht, aber ich respektiere dich als Alchemist. Wenn du dich ganz dem Studium der Alchemie widmen würdest, statt ständig in diesen Spiegel zu starren, hättest du vermutlich bereits den Stein der Weisen erschaffen. Ach, was rede ich, du könntest selbst Tote wiedererwecken. Aber wozu mache ich mir die Mühe?“ Er seufzte. „Es ist, als redete ich mit einer Bohnenstange.“ Der Marionettenmann hätte ihn am liebsten unter seinen Schuhsohlen zerstampft. Leider stand Carl unter dem Schutz des Wurmgottes. Der Wurmgott hatte den Marionettenmann angewiesen, den Kopf zu verwahren.

      Emily und William schliefen schon Stunden, als Emily sich regte. Sie schlug die Augen auf. Nur eine Sekunde lang schien es dem Marionettenmann, als blickte sie geradewegs zu ihm …

      Vorsichtig rückte sie von William ab und stieg aus dem Bett. Sie öffnete den Kleiderschrank, steckte ihren Arm bis zur Schulter hinein und brachte einen Gegenstand zum Vorschein. Er blitzte im Mondlicht. Die Augen des Marionettenmannes weiteten sich. Es war ein Revolver. Was hatte sie vor? Eine ungute Ahnung beschlich ihn. Hatte sie ihre Todessehnsucht am Ende nicht überwunden?

      Sie wickelte den Revolver in eine Bluse, sodass er vor Blicken verborgen bliebe, und verließ das Zimmer, dann die Wohnung. Im Slalom wich sie den Pfützen aus, die sich auf den Straßen von Treedsgow gebildet hatten. Wie ein Geist, der durch die Straßen schwebte, wirkte sie in ihrem Nachthemd. Nach unbestimmter Zeit erreichte sie den Stadtrand und betrat einen Grünweg. Sie folgte seinem Verlauf zwischen umzäunten Kuhweiden hindurch, Hügel hinauf und hinunter, über eine kleine Holzbrücke, die sich über einen gluckernden Bach, einen Ausläufer des Sithwell, spannte, und zwischen einer Gruppe von Felsbrocken hindurch. Schließlich verließ sie den Grünweg und tauchte ein in einen dunklen Wald.

      Die Hände des Marionettenmannes begannen zu zittern. Würde er gleich sehen, wie Emily den Revolver hervorholte, den Lauf in den Mund nahm und ihr Hirn über das Laub verteilte? Zeigte der Spiegel ihm womöglich wieder die Zukunft? Aber über dem Verwunschenen Tal schwebte der gleiche Mond. Die Zeitebenen stimmten überein.

      Der Marionettenmann glaubte, die erwartungsvolle Stille des Waldes zu hören, die Worte des Windes im Laub der Bäume, den feuchten Waldboden, der unter Emilys Füßen schmatzte. Feenwürmchen tanzten durchs Unterholz. Wind kam auf, und ein Schauer weißer Blüten ging auf Emily nieder. Sie blieb stehen. Lauschte.

      Was flüsterten die Bäume?

      Zögerlich schlug Emily eine andere Richtung ein, als hätte der Wald ihr einen Hinweis gegeben. Nach einer Weile gelangte sie an eine Buche, wie der Marionettenmann sie bis dahin nur im Verwunschenen Tal gesehen hatte. Wulstige Astlochaugen und eine knorrige Nase ragten aus dem Stamm. Emily kam mit dem Gesicht ganz nahe dorthin, wo sich bei einem menschlichen Kopf das Ohr befand, und murmelte etwas. Das Laub der Buche erzitterte. Flüsterte. Der Marionettenmann hielt den Atem an. Ganz langsam richteten sich die geschlitzten Pupillen der Astlochaugen auf das Mädchen.

      Was hatte sie vor?

      Aber Emily streichelte bloß den Stamm und ging weiter. Je tiefer sie in den Wald gelangte, desto häufiger sah sie Nebelfetzen, die sich wie Watte in den Ästen der Bäume verfangen hatten. Sie streckte die Hände danach aus, und der weiße Dunst blieb an ihr haften. Bald trug sie ein Hochzeitskleid wie aus dem Märchen. Wenig später war nur noch eine Wolke zu sehen, die durch den Wald schwebte, und immer noch sammelte Emily Nebelfetzen. Verärgert stellte der Marionettenmann fest, dass die weißen Schleier ihm die Sicht raubten. Der Spiegel sah aus, als sei er von der anderen Seite beschlagen. Er wischte mit dem Ärmel darüber, obwohl er glaubte, dass es sinnlos war. Umso überraschter sah er, dass es funktionierte.

      Ihm stockte das Herz. Die Luft im Wald war klar. Nichts rührte sich. Emily stand da und sah direkt zu ihm auf. Sie hielt den Revolver mit beiden Händen umklammert. Der Lauf deutete geradewegs auf ihn.

      Unmöglich!

      Der Marionettenmann warf sich nach hinten im selben Augenblick, als Emily feuerte. Die Kugel durchschlug das Glas, sauste pfeifend über ihn hinweg und traf die gegenüberliegende Hüttenwand. Ein Stöhnen ging durch die Reihen der Schrumpfköpfe. Glassplitter verteilten sich in der Hütte, und der Marionettenmann kniff die Augen zusammen. Wie war das möglich?

      „Oh nein“, kam es von den Regalreihen. „Wie konnte das passieren?“

      Carl! Der Marionettenmann riss die Augen auf und kam auf die Beine. Er ließ den Blick über das Regal schweifen, fassungslos. Ihm wollte nicht einfallen, wo der Schrumpfkopf lag. Oben! Er hatte einen Platz ganz oben. Der Marionettenmann hob den Blick …

      … und atmete auf. Carl war unversehrt, doch starrte er mit weit aufgerissenen, leeren Augenhöhlen das Stundenglas zu seiner Rechten an. Es hatte ihm den oberen Glaskolben weggerissen.

      „Das“, sagte Carl, „war knapp.“

       Das Tagebuch

       35. URBAN 1713, MITTVIERT

      Das Fourier ist eine noble Absteige. Nobel jedenfalls für die Verhältnisse des Hafens. Das heißt, dass es dort einigermaßen sauber ist, und bullige Männer in schwarzen Anzügen dafür sorgen, dass handfeste Meinungsverschiedenheiten auf der Promenade ausgetragen werden. Es verfügt zudem über einen durchaus charmanten Billigluxus. Es ist alles vertreten von edlen Kronleuchtern, die so weit oben hängen, dass man sie nicht ohne Weiteres beschädigen, oder als die billigen Imitate, die sie sind, entlarven kann, über schmucke Vorhänge bis hin zum wichtigsten Accessoire: der Bühne. Dort präsentieren sich am Abend Komödianten, Sängerinnen und Tänzerinnen, die, je später es wird, bisweilen skandalös viel Bein oder gar ihr Höschen zeigen.

      Werktagmorgen beschloss ich, ins Fourier zu gehen in der Hoffnung, Diane zu treffen. Ich war ihr eine Erklärung schuldig. Während der Vorlesungen dieses Tages beschäftigte ich mich daher überwiegend damit, mir die richtigen Worte zurecht zu legen.

      Als ich am Nachmittag Emily mitteilte, was ich vorhatte, zeigte sie Verständnis. „Ich warte hier auf dich“, sagte sie und berührte unwillkürlich den Talisman unter ihrer Bluse. Unsere Veranstaltungen enden werktags immer zur selben Uhrzeit, und sie hatte mich bis vor die Tür meiner Wohnung begleitet.

      „Denkst du, du hältst es solange mit ihm aus?“, scherzte ich und nickte zur Tür. Ich sprach natürlich von Ed.

      Sie lächelte und verpasste mir einen Knuff. „Schließ schon auf.“

      Eine knappe Stunde später betrat ich das Fourier. Ein bulliger Mann im schwarzen Anzug beäugte mich misstrauisch, als wäre ich ein Unruhestifter. Ich ignorierte ihn, schritt den Mittelgang hinab und ließ den Blick auf der Suche nach Diane durch den Saal schweifen. Der Geruch von Politurmittel lag in der Luft. Zu so früher Stunde waren nur wenige Gäste anzutreffen. Die Beine von etwa zwei Dritteln aller Stühle, die verkehrt herum auf den runden Tischen standen, ragten der Saaldecke entgegen wie die Stämme junger Bäume. An einem der freien Tische erblickte ich Diane, unverkennbar durch ihr goldenes Haar. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt und rieb die Tischplatte mit einem Tuch ab und zwar derart energisch, als hegte sie gegen jeden einzelnen Quadratzentimeter eine persönliche Abneigung.

      Ich trat näher und räusperte mich leise. „Diane?“ Sie spannte sich an, als sie meine Stimme hörte. Ihre Rechte umfasste das Tuch so krampfhaft, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie wandte sich um und musterte mich mit einer Mischung aus Wut und Unglauben.

      „Was willst du jetzt noch?“

      Ihre Frage irritierte mich. „Ich will mit dir reden.“ Ich wollte ihr einfach die Wahrheit sagen. Dass mein Verhältnis zu Emily noch ungeklärt

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