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Das Tagebuch

       30. URBAN 1713, RUHENACHT

      Seit letztem Viertmorgen, als Emily im Coffee-House Calvin auf mich zugekommen war, bin ich einmal täglich bei ihrer Wohnung gewesen – vergebens. Vielleicht war sie nie dort, aber ich hegte den Verdacht, sie wollte nicht mit mir reden. Obwohl sie mich zurückgewiesen hatte – für viele Männer Grund genug, nie wieder ein Wort mit ihr zu wechseln – sorgte ich mich um sie. Warum ignorierte sie mich? War sie enttäuscht, weil ich mich mit Diane traf?

      Emilys Wohnung liegt auf direktem Wege zum Hafen. Als ich gestern Abend auf dem Weg ins Fourier dort vorbeikam, sah ich Licht hinter den dünnen Vorhängen ihres Fensters brennen. Es war ein heißer Tag gewesen. Die Temperaturen hatten während der vormittäglichen Vorlesungen bei so manchem Professor dunkle Schweißflecken unter die Arme gezeichnet. Nun aber frischte ein Wind auf. Wolken überzogen den Himmel, und fernes Donnergrollen kündigte ein Unwetter an. Die Luft roch elektrisiert. Ich musste mich beeilen, wenn ich im Fourier sein wollte, bevor es losging.

      Trotzdem blieb ich stehen.

      Ich biss mir auf die Unterlippe und blickte auf zu dem Quadrat flackernden Lichts. Sollte ich bei ihr läuten? Es war schon spät. Diane dachte womöglich, ich bliebe fern. Ich riss den Blick vom Fenster los und ging weiter. Emily hatte die vergangenen Tage nicht mit mir reden wollen. Warum sollte es jetzt anders sein?

      Jäh kam mir der dramatische Gedanke, dass dies der Augenblick war, da ich mich zwischen Emily und Diane entscheiden musste. Ich blieb erneut stehen, drehte mich um und heftete den Blick ans Fenster. Was mochte Emily treiben?

      Etwas war ungewöhnlich. In den vergangenen Tagen hatte nie Licht in ihrer Wohnung gebrannt. Um zu verheimlichen, dass sie zu Hause war? Bedeutete das im Umkehrschluss, dass sie jetzt bemerkt werden wollte? Brennendes Licht, ein Hilferuf. Hoffte sie auf mich? Mir kam ein abwegiger Gedanke und ich frage mich immer noch, wieso ich ihn nicht gleich über Bord warf: Vielleicht wusste Emily, dass ich heute auf dem Weg zu Diane an ihrer Wohnung vorbeikam. Vielleicht hatte sie deshalb Licht gemacht. Um mich zu einer Entscheidung zu zwingen. Die Vorstellung ließ Ärger in mir aufkeimen.

      Ich wandte mich ab und erstarrte, bevor ich nur einen Schritt tun konnte.

      Vor mir stand im schummrigen Licht einer Gasleuchte ein kleiner Mann. Reglos. Ich hatte ihn nicht kommen hören. Ich war mir sicher, dass er zuvor nicht dort gestanden hatte. Er trug eine Hose aus braunem Segeltuch, ein schlichtes Sakko und eine Melone mit ungewöhnlich breiter Krempe. Seine Augen waren von einem durchdringenden Blau.

      Als hätte mein Blick ihn zum Leben erweckt, rührte sich der Fremde. Er fasste sich an den Hut und kam näher. Seine Bewegungen erschienen mir ungelenk. Eckig.

      „Sie müssen William sein“, sagte der Fremde und blieb wenige Schritte vor mir stehen.

      Ich war so überrascht, dass ich bloß nickte.

      „Ich brauche Ihre Hilfe“, sagte der Fremde. Dabei tat er eine seltsam unbeholfene Geste, die mich an die steife Bewegung einer Marionette erinnerte. „Emily schließt sich seit Tagen in ihrer Wohnung ein. Ich glaube, es geht ihr nicht gut.“ Seine Worte klangen aufrichtig besorgt. „Sie hat viel von Ihnen gesprochen in letzter Zeit. Vielleicht können Sie sie dazu bringen, mit Ihnen zu reden.“

      Ich mühte mich vergeblich in den starren Augen des Fremden zu lesen. Sie erschienen mir nicht besorgt, eher leblos starrten sie durch mich hindurch.

      „Wer sind Sie?“, fragte ich.

      „Bitte entschuldigen Sie.“ Es folgte eine weitere unbeholfene Geste, dieses Mal mit beiden Armen. „Mein Name ist Glenn. Ich bin ein Freund von Emily.“

      Natürlich. Mir war beinahe nach Lachen zumute. Wer sonst außer einer rätselhaften Erscheinung wie Glenn hätte der Freund eines Mädchens sein können, das ein Mojo bei sich trug und die Mythen der Norvolken für ebenso glaubhaft hielt wie eine wissenschaftliche Theorie? In diesem Moment wurde mir klar, wie sehr mir dieser Charakterzug an Emily gefiel. Ihr außergewöhnlicher Glaube an märchenhafte Wunder verlieh ihr eine Aura des Mystischen.

      „Also werden Sie mit ihr reden?“, fragte Glenn.

      „In Ordnung“, sagte ich und begegnete flüchtig seinem Blick. Es schmerzte regelrecht, ihm in die Augen zu sehen.

      Ich wandte mich um, zögerlich, doch der Anblick von Emilys diffuser Silhouette in ihrem Fenster vertrieb auch die letzten Zweifel. Sie verharrte kurz und verschwand.

      Entschlossen ging ich zurück bis vor ihre Tür, betätigte die Seilzugklingel und wartete. Blickte auf das Schildchen mit ihrem Namenszug neben der Eingangstür und wippte auf den Füßen, schaute mich um und sah, dass Glenn verschwunden war. Ich fragte mich unwillkürlich, ob ich ihn mir nur eingebildet hatte. Ich trat ein paar Schritte zurück und legte den Kopf in den Nacken.

      Das Licht hinter dem Fenster zu Emilys Wohnung verlosch. Ich starrte auf das dunkle Glas. Glaubte sie, dass sie mich so einfach loswurde?

      Mein Ärger schlug um. Vorhang auf für Akt 2. Auftritt: Wut.

      Ich legte meine Hände an den Mund und rief: „Emily!“ Erste Regentropfen lösten sich aus dem wolkenverhangenen Himmel und tippten auf mein Gesicht. „Emily, ich weiß, dass du da bist!“

      Nichts.

      „Emily!“

      Ein Fenster im Stockwerk unter Emilys Wohnung wurde aufgerissen, und ein Mann im Nachthemd lehnte sich heraus. Der Teil seines Gesichts, der nicht von einem üppigen Vollbart mit prächtigem Schnauzer verdeckt wurde, war purpurrot. Er trug eine weiße Schlafmütze und hielt einen Kerzenhalter in der Hand.

      „Junger Herr“, grollte er. „Es ist sehr unhöflich, um diese Uhrzeit …“

      Sein Gerede machte mich nur noch wütender. „Emily!“, rief ich aus vollem Halse. „Mach die Tür auf oder ich trete sie ein!“

      Ein weiteres Fenster, das nicht Emilys war, wurde aufgerissen. „Was ist denn hier los?“, fragte eine Frau mit dunkler Stimme und legte ihren gewaltigen Busen auf der Fensterbank ab.

      „Dieser junge Herr gibt einfach keine Ruhe.“

      „Emily, ich meine es ernst!“

      „Jemand sollte den Konstabler informieren!“

      „Öffnen Sie mir doch einfach die Tür!“, fauchte ich den Mann mit der Schlafmütze an.

      „Unverschämtheit“, bemerkte die Frau und rückte ihren Busen zurecht.

      „Damit du im Treppenhaus weiterbrüllst?“, fragte der Mann. „Auf keinen Fall!“

      „Schön“, sagte ich wütend. „Dann brüll ich eben hier weiter.“

      „Das lässt du …“

      „Emily!“

      „Wenn du nicht sofort …“

       „Emily!“

      „Es reicht!“ Der Mann rief so laut, dass seine Kerze ausging. „Ich gehe und klopfe an die Tür von dieser Emily, wenn du dann endlich Ruhe gibst.“ Mit Wucht zog er das Fenster zu. Nach wenigen Sekunden schwang sein Fenster wieder auf.

      Der Mann hüstelte. „Wo, ähm … wohnt diese Emily?“

      „Es ist das Fenster dort“, sagte ich und deutete darauf. „Im dritten Stock.“ Der Mann lehnte sich heraus, um besser sehen zu können, und verlor beinahe seine Schlafmütze. „Also gut“, sagte er, eine Hand am Kopf, und verschwand wieder. Inzwischen war der Regen stärker geworden. Mein Frack färbte sich tintenschwarz. Es blitzte mehrmals in schneller Folge auf. Wenige Sekunden später rollte der Donner von einem Ende des Horizonts zum anderen. Ich verengte die Augen zu Schlitzen und blinzelte die Regentropfen fort. Hatte ich eine dunkle Gestalt hinter dem schwarzen Glas von Emilys Fenster gesehen?

      „Hast du schon daran gedacht, dass sie vielleicht gar nicht zu Hause ist?“,

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