Скачать книгу

seinen Chef«, antwortete Joe. »Und dem anderen war es gar nicht recht, dass ich das mitbekommen habe.« Er seufzte. »Jedenfalls bin ich froh, dass wir raus sind. Lass uns nach Hause fahren. Für heute habe ich genug von der City.«

      »Ja, lass uns dahin fahren, wo wir hingehören«, sagte Rebecca und fügte mit Grabesstimme hinzu: »Ins Haus neben dem Friedhof.« Und dann mussten beide lachen.

      Auf dem Weg zurück war die Metro viel leerer als auf dem Hinweg. Ein paar Schüler, die Joe vom Pausenhof wiedererkannte, saßen in einer Ecke und scrollten auf ihren Smartphones herum. Eine junge Frau mit übergroßen Kopfhörern hörte Musik und ein Bettler schlurfte mit einem Pappbecher von einem zum anderen und fragte nach Kleingeld. Joe und Rebecca waren froh, Sitzplätze zu haben, denn der erste Schultag hatte sie mehr geschafft, als sie erwartet hatten. An der Station Canada Water stiegen die beiden aus und gingen zu Fuß nach Howard’s End, das nur ein paar Minuten entfernt lag.

      »Meinst du, Dad ist zu Hause?«, fragte Rebecca, als sie in die Sackgasse einbogen.

      »Keine Ahnung«, erwiderte Joe. »Wieso fragst du?«

      »Wenn er nicht da ist, können wir nach dem Schlüssel suchen«, sagte Rebecca. »Ich will unbedingt rauskriegen, was sich hinter dieser Tür verbirgt und wer der Kerl war, der durchs Schlüsselloch geguckt …«

      Joe blieb abrupt stehen.

      »Was ist?«, fragte Rebecca.

      Joe zeigte stumm zu ihrem neuen Haus, das nur noch knapp fünfzig Meter entfernt war. An der Haustür stand ein Mann mit grauer Jacke und betätigte die Klingel.

      »Wer ist das?«, fragte Rebecca.

      »Keine Ahnung«, erwiderte Joe. »Macht aber keinen besonders freundlichen Eindruck, der Typ. Sieh dir das an!«

      Der Mann auf der Veranda klingelte erneut, packte dann den Türklopfer und hämmerte damit gegen die Tür.

      »Was will der von uns?«, murmelte Rebecca. In diesem Augenblick sah sich der Fremde suchend um. Joe zog Rebecca schnell hinter eine dicke Eiche – gerade noch rechtzeitig, bevor der Mann in ihre Richtung sah.

      »Mann, was ist hier eigentlich los«, schimpfte Joe leise. »Erst das Werwolf-Geheule letzte Nacht, dann die finsteren Typen im Restaurant und jetzt auch noch dieser komische Kauz.«

      »Was für ein Werwolf?«, fragte Rebecca.

      Aber Joe antwortete nicht, sondern beobachtete das Geschehen an der Haustür. Der Mann auf der Veranda klopfte und klingelte weiter, dann rief er laut: »Hallo.«

      »Der will rauskriegen, ob jemand zu Hause ist«, flüsterte Joe.

      »Vielleicht ist das der Kerl aus dem Tunnel«, überlegte Rebecca.

      »Dann versucht er bestimmt gleich einzubrechen«, vermutete Joe. »Wahrscheinlich wird er … was macht er denn jetzt?«

      Der Mann öffnete den Briefschlitz im unteren Drittel der Tür und steckte etwas hinein. Dann drehte er sich um und tänzelte die Verandatreppe herunter.

      »Das darf doch nicht wahr sein«, stieß Joe aus und rannte los. Rebecca zögerte nur kurz, dann folgte sie ihm.

      Der Mann verließ das Grundstück und stieg auf das Fahrrad, das am Zaun lehnte. »Hey!«, rief Joe, noch bevor er ihn erreicht hatte.

      Der Mann sah ihn verwundert an. »Meinst du mich?«

      »Ja«, sagte Joe, als er und Rebecca keuchend vor ihm stoppten. »Sie sind der Postbote, nicht wahr?«

      Der Mann nickte. »Richtig.«

      »Und wir wohnen hier«, erklärte Joe. »Haben Sie etwas für uns?«

      Die Gesichtszüge des Postboten hellten sich auf. »Kann man so sagen.« Er beugte sich zu seiner Tasche, die vor ihm am Rad befestigt war, und zog einen Brief hervor.

      »Das ist ein Einschreiben«, sagte er. »Das darf ich nicht einfach in den Briefkasten werfen, sondern brauche eine Unterschrift. Könnt ihr es annehmen?«

      »Na klar«, antwortete Rebecca.

      Der Briefträger zog ein elektronisches Gerät hervor, tippte ein paar Nummern ein, hielt Joe dann einen Plastikstift entgegen und reichte ihm das Display.

      »Ich dachte schon, ich werde es heute nicht mehr los. In der ganzen Straße hat niemand aufgemacht. Und so ein Einschreiben ist ja meistens wichtig«, sagte er, während Joe unterschrieb. »Da wollte ich lieber alles versuchen, bevor ich es wieder mitnehme.«

      »Für wen ist es denn?«, fragte Rebecca. »Für Mr oder Mrs Bookman?«

      Der Postbote verstaute das Gerät in seiner Tasche und überreichte Joe den Brief.

      »Weder noch«, sagte er. »Es ist für Mr Alexander Mercurius. Der wohnt im Haus am Ende der Straße.«

Image

      Nachdem sie die Haustür hinter sich geschlossen hatten, nahm Rebecca das Einschreiben sofort unter die Lupe. »Der Umschlag sieht ziemlich alt aus«, stellte sie mit Kennermiene fest. »Die Adresse ist mit Schreibmaschine getippt. Und verschlossen ist der Brief mit einem Wachssiegel.« Sie hob den Kopf. »So was benutzt doch heute kein Mensch mehr! Es sieht aus, als sei der Brief hundert Jahre alt.«

      Joe hob eine bunte Postkarte vom Boden auf, die der Postbote anscheinend kurz zuvor durch den Briefschlitz geworfen hatte. Sie war von Aunt Rose, die gerade Urlaub in Spanien machte. »Ist bestimmt so eine Art Spiel«, sagte er. »Und der Brief ist absichtlich auf alt gemacht.« Er legte die Postkarte auf das Schränkchen neben der Garderobe. Dabei fiel sein Blick auf einen Zettel, der dort lag. »Dad ist im Baumarkt und gegen fünf wieder zurück«, überflog er den knappen Inhalt. Er sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Wir haben also eine halbe Stunde Zeit, den Schlüssel zu suchen. Auf geht’s!«

      Rebecca nahm sich das Wohnzimmer vor, Joe die Küche. Falls der Schlüssel bei der Renovierung des Hauses gefunden und ihren Eltern übergeben worden war, hatten sie ihn sicher an irgendeinen Platz getan, der ihnen sinnvoll erschienen war. Ihr Vater hatte die Angewohnheit, Dinge, von denen er nicht wusste, wohin sie gehörten, in Schubladen zu legen, wo er sie dann vergaß. Also widmete sich Joe zuerst den Küchenschränken und durchsuchte eine Schublade nach der anderen. Ohne Erfolg. Er sah die Schränke mit dem Geschirr durch, durchstöberte die Vorratskammer und warf sogar einen Blick in den Brotkasten. Aber einen Schlüssel fand er nicht.

      Gerade wollte er die Suche im Arbeitszimmer seines Vaters fortsetzen, als ihn ein Geräusch aus dem Wohnzimmer zurückhielt: ein lautes Knacken, als würde Holz zersplittern.

      Schnell lief Joe in den Nachbarraum. Seine Schwester lag bäuchlings auf dem Boden und hielt ein Stück Fußleiste in der einen Hand, während ihre andere in einem Loch in der Wand steckte. Joe erstarrte.

      »Bist du verrückt?«, rief er aus. »Du machst ja alles kaputt! Die Fußleiste war frisch renoviert. Wenn das Mom und Dad sehen …«

      Doch statt zu antworten, schob seine Schwester ihren Arm nur noch tiefer in die Öffnung hinein. Ihr Gesicht war vor Anstrengung ganz rot. »Ich hab’s gleich«, ächzte sie. »Gleich … hab … ich’s …«

      Mit einem Ruck versuchte Rebecca, noch tiefer zu gelangen, doch im selben Augenblick schrie sie auf. Dann hörte man, wie etwas polternd einen Schacht hinter der Wand herunterfiel. Rebecca zog den Arm aus dem Loch. Ihre Haut und ihr Shirt waren total verdreckt.

      »War das der Schlüssel?«, fragte Joe. Rebecca rappelte sich auf. »Ich weiß nicht. Möglich. Aber was auch immer es war: Jetzt ist es runtergefallen.«

      Joe betrachtete den Schaden. »Wie bist du überhaupt darauf gekommen, dass hinter der Fußleiste ein Loch sein könnte?«

      »Ich bin aus Versehen mit dem Fuß dagegengekommen«, erklärte Rebecca, »da hat

Скачать книгу