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Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart. Kim Kestner
Читать онлайн.Название Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart
Год выпуска 0
isbn 9783401808017
Автор произведения Kim Kestner
Жанр Учебная литература
Серия Zeitrausch-Trilogie
Издательство Readbox publishing GmbH
»Also, was ist dein Plan? Wie wirst du Zeitreisen verhindern?« Die Stimme kommt aus der Richtung des umgekippten Baumstamms. Ich folge ihr.
»Würde das Wissen um das Wie und Was das Resultat verändern?«, frage ich, während meine Füße sich vortasten.
Sam Oscar lacht leise. »Du schlägst mich mit meinen eigenen Worten.«
Mein Zeh stößt gegen den Stamm. Ich suche mit der Hand nach ihm und setze mich neben Oscar. Mir ist kalt. Wind zieht auf, verfängt sich rauschend in den Baumkronen und erste Regentropfen streifen meine Haut. Es wird Zeit, die Frage zu stellen.
»Eine Sache verstehe ich noch nicht«, sage ich unvermittelt, so als sei es mir gerade erst eingefallen. Oscar soll auf keinen Fall merken, wie wichtig mir diese Information ist.
»So? Nur eine?«
»Bei meinem zweiten selbst gesteuerten Zeitsprung habe ich mich in die Zukunft portiert. Nur eine Woche vielleicht und da habe ich gesehen, wie Kay starb.«
»Und du hast ihm das Leben gerettet, vielmehr eine Variante geschaffen, in der er lebt.«
»Ja, aber darum geht es nicht. Es ist … es war irgendwie merkwürdig. In den letzten Sekunden, bevor ich zurückgezogen wurde, da war er plötzlich weg. Sein toter Körper, meine ich.« Eine direkte Frage vermeide ich. Sie wäre zu auffällig.
»Nun«, meint Oscar und ich ahne, dass er eine ausladende Geste macht. »Mit dem Hirntod stirbt auch die neurale Verbindung zu dem Marker, wenn ich es so salopp ausdrücken darf. In diesem Augenblick kehrt der Leichnam in seine ursprüngliche Zeit und Realität zurück. Ein ernsthaftes Problem, das wir zugegebenermaßen noch nicht gelöst haben. Der Marker zerfällt zwar wenig später durch den biochemischen Verwesungsprozess, aber die Gefahr, dass unvermittelt eine Leiche auftaucht und der Marker während einer Obduktion beispielsweise studiert werden kann, besteht. Wir haben – Herrgott! Ich vergesse immer wieder, dass mich diese Dinge nichts mehr angehen.« Er seufzt hörbar. »Die Wissenschaft ist das Einzige, was mir fehlt, weißt du? Manchmal juckt es mich, hier und da einzugreifen, die Entwicklung ein wenig voranzutreiben.«
Ich antworte nicht. Oscars Sehnsüchte sind mir gleichgültig. Der Regen wird plötzlich stärker. Wasser läuft mir in den Nacken, aber ich bin nur noch eine Frage weit davon entfernt, diesen Ort zu verlassen. Es führt kein Weg daran vorbei, sie direkt zu stellen, und ich kann nur hoffen, dass Oscar erst begreift, was ich vorhabe, nachdem er geantwortet hat. Ich versuche, meiner Stimme etwas Beiläufiges zu verleihen, innerlich jedoch zittere ich so sehr, dass ich sicher bin, er wird merken, welchen ungeheuerlichen Plan ich mir zurechtgelegt habe.
»Ist es auch umgekehrt so? Stirbt auch das Hirn, wenn der Marker zerstört wird?« Mein Atem geht jetzt schneller. Zum Glück übertönt der Wind meine hörbare Aufregung.
»Na ja, so leicht lässt sich ein Marker nicht zerstören«, erklärt Oscar ohne Argwohn. »Man müsste ihn geradezu herausschneiden oder gleich die ganze Hand abtrennen. Eine grausige Vorstellung, ich weiß, aber theoretisch wäre es so. Es käme dann zu einer Art Kurzschluss. Die Synapsen würden regelrecht durchbrennen. Man kann sich das folgendermaßen vorstel… Moment mal, wieso fragst … Alison? Nein! Du darfst nicht …«
Oscar greift nach meiner Hand, aber es ist zu spät. Die Bilder in meinem Kopf sind schon entstanden: das Messer, wie es aus meiner Hand gleitet, der Metallstab, die Waffe der Ports, die meinen Nacken streift, mein Körper, der daraufhin willenlos zusammensackt. Und jetzt genügt mein Entschluss, um mich wieder in die Vergangenheit zu tragen. Mitten aufs Schlachtfeld. »Danke«, sage ich schnell, einen Wimpernschlag später ist es taghell.
Kurz wundere ich mich darüber, dass es funktioniert hat, ich wieder portiert bin, ohne meine Arme zu kreuzen, einfach nur durch meinen Willen. Es war genauso leicht, wie die Hand zu heben, um sich an der Nase zu kratzen.
Doch noch bevor ich ergründen kann, wieso es mir gelungen ist, höre ich direkt hinter mir einen wütenden Schrei. Ich springe zur Seite. Eine andere Alison jagt schwer atmend an mir vorbei, brüllt: »Hey, ihr Arschlöcher! Ich bin hier!«
Fünf Ports setzen ihr nach. Sie sind alle gleich gekleidet: schwarzer Anorak, schwarze Hose, schwarze Armeestiefel, die das Gras unter ihren Füßen niedertrampeln. Ich stehe auf halber Höhe den Hügel hoch, ziemlich genau zwischen dem höchsten Punkt und der Rundhütte, die im Tal unter einer Baumgruppe steht. Es regnet und überall sind Ports.
Erst wenige Sekunden müssen vergangen sein. Noch habe ich nicht gefunden, was ich suche, und schon steuern die ersten Söldner auf mich zu. Ich achte nicht auf ihre Gesichter oder ihre Bewaffnung, sondern suche hektisch den matschigen Boden nach dem Messer ab. Regen verfängt sich in meinen Wimpern. Mit dem Handrücken wische ich ihn weg, drehe mich im Kreis. Das Stampfen der Stiefel ist von überall her zu hören und wird immer lauter. Es klingt bedrohlich, so als käme eine Horde Büffel auf mich zu.
Als ich aufsehe, ist ein Port nur noch zehn, vielleicht zwanzig Meter weit weg. Mit angewinkelten Armen stürmt er den Hügel hinauf. Anscheinend spürt er keine Anstrengung.
Verdammt! Das Messer müsste hier sein. Ich weiß, ich habe es an dieser Stelle fallen lassen. Ich weiß es!
Ich wirble um meine eigene Achse. Um mich herum tauchen immer mehr Versionen meiner selbst auf, die laut schreiend in alle Richtungen rennen. Sie ploppen auf und verschwinden wieder wie zerplatzende Seifenblasen. Ihnen bleiben ja nur 90 Sekunden. Bald, sehr bald, werde ich die einzige Alison auf diesem Hügel sein und dann werden die Ports mich überrennen.
Plötzlich entdecke ich Kay. Er liegt nur wenige Meter entfernt von mir, mit dem Speer in seiner Brust. Seine Augen sind halb geöffnet. Schwarz gekleidete Beine springen über seinen blutüberströmten Körper, streifen den Speer. Kay stöhnt so laut auf, dass ich selbst das Gefühl habe, ein Speer stecke in meiner Brust. Alles in mir schreit danach, die Vergangenheit zu ändern, Kay zu retten, ihn mit mir an einen sicheren Ort zu reißen. Aber die Geschichte muss sich erfüllen, damit mein Plan gelingt! Die Ports müssen überzeugt sein, ich nehme mir wegen Kays scheinbar unausweichlichem Tod das Leben!
Entschlossen balle ich die Hände zu Fäusten und suche Meter für Meter den Hügel ab. Wo verdammt ist das Messer?
Gleich wird mich der erste Port erreichen. Mir bleiben nur noch wenige Sekunden, bevor ich gezwungen bin zu springen, denn wenn sie mich erwischen, ist es aus. Plötzlich überkommt mich eine Scheißangst. Ich atme furchtbar schnell, mir wird schwindelig und ich beginne, fahrig zu werden: Ich renne, rutsche aus, rapple mich auf, stolpere weiter, schlittere einige Meter den Hang hinunter, direkt auf einen weiteren Port zu. Unsere Blicke treffen sich. Seine Augen sind emotionslos.
Ich muss hier weg! Denn überleben werde ich nur, wenn ich flüchte, in eine andere Zeit springe. Aber ich brauche das verfluchte Messer! Ich kann es mir nur von hier holen. In einer anderen Zeit meiner Vergangenheit ist das Messer für meine frühere Version nämlich genauso unverzichtbar.
Ohne meinen Willen entstehen Bilder in meinem Kopf: der Strand, das spielende Kind. Ich bin schon mal dort gewesen. Eine Kindheitserinnerung, mein Fluchtort. Schnell!
Ich schließe die Augen, atme tief ein. Ich kann es wieder versuchen. Hundertmal, wenn es sein muss.
Los! Weg hier! Jetzt!
Doch die Luft wird jäh aus meinen Lungen gepresst. Heftiger Schmerz tritt an die Stelle der Bilder, die mich retten sollten. Etwas hat mich mit ungebremster Wucht im Rücken getroffen. Ich reiße die Augen auf, fahre herum. Ein Port steht hinter mir, holt den Metallstab aus seinem Anorak.
Ich war zu langsam. Oh Gott! Gleich werde ich mich nicht mehr bewegen können. Jeder Muskel meines Körpers wird wie gelähmt sein. Heftig schüttle ich den Kopf. Sehr sinnig. Als ob ihn das abhalten würde.
Wie in Zeitlupe sehe ich den Stab näher kommen, lasse mich fallen, um nur eine Sekunde mehr in diesem Leben zu haben. Mein Arm landet zuerst im Matsch, dann schlägt der Kopf auf und ich sehe noch weitere Stiefel, die auf mich zurennen.
Ich habe mich überschätzt. Meine Fähigkeiten.
Hochmut