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Schweizer Erinnerungen an die Zukunft. Cyrill Delvin
Читать онлайн.Название Schweizer Erinnerungen an die Zukunft
Год выпуска 0
isbn 9783347117204
Автор произведения Cyrill Delvin
Жанр Контркультура
Издательство Readbox publishing GmbH
Vielmehr haderte er im Geiste mit der altertümlich frankierten Ansichtskarte seiner Vorfahren. Sie waren damals in die freie Schweiz geflüchtet. Vertrieben von den konservativen Kräften Deutschlands, welche die Freiheit fürchteten wie der Teufel das Weihwasser. Und jetzt stehe ich da, als Hinterwäldler klassiert, weil ich meine Freiheit, unsere Freiheit, bis aufs Letzte verteidige? Ich bin Viktor Schwarz, und ich werde keinen Schritt zurückweichen.
1984
Vor dem Wandel
Was die Schweiz im 20. Jahrhundert fabrizierte, habe ich bis heute nicht begriffen. Wie um Himmels willen war es diesem Land möglich, den paradiesischen Zustand, den es erlangt hatte, derart vehement zu ignorieren? Mir ist keine Gesellschaft der neueren Zeit bekannt, in der so viele Menschen über so viel Zeit, Freiheit und freie Ressourcen verfügten und trotzdem so wenig für den Fortbestand und den Fortschritt aller gemacht haben. Zugegeben, die Zeit war, wenn auch für die meisten Menschen im Westen noch feudal, aus wirtschaftlicher Sicht, global, katastrophal.
Das Umschlagen von Konsens und Gemeinsinn in Dissens und Gegeneinander erstarkte um die Jahrtausendwende in der ganzen Welt. Für die Schweiz bestand bis zuletzt keine ersichtliche Notwendigkeit, diesen Wandel ebenfalls zu vollziehen. Schließlich wurde das Land nicht von Flüchtlingen überrollt, und die globalen Wirtschaftskrisen kratzten höchstens am Lack, zehrten aber nicht an der Substanz. Warum stand man nicht zusammen, als sich die dunklen Wolken am Horizont aufzutürmen begannen? Warum bot niemand die Stirn, als die Welt noch heil war?
Natürlich gab es Vereinzelte. Im Archiv des alten Bundes stolperte ich per Zufall über die Festrede eines hochrangigen Beamten, der an einem der früher jährlich stattfindenden Gedenkfest auf der Rütliwiese all das hatte kommen sehen und eindrücklich davor gewarnt hatte – ohne den leisesten Widerhall.
Noch war es nicht die Hochgeschwindigkeitsstrecke, die es wenige Jahre später sein würde, wenn auch nur für eine kurze Dauer. Die ersten Sonnenstrahlen tasteten vergeblich durch den Nebelschleier über den Rebbergen nach dem Lac Léman. Charles Nansé sah nicht hin. Ebenso wenig blickte er zum großartigen Alpenbogen im Osten zurück. Zu sehr war er in seine Zahlen vertieft.
Wir können es noch schaffen, redete sich der Mittvierziger wider besseres Wissen seit Jahren ein. Wenn nur die großen vier die UNO-Charta ratifizieren … Die wunderlichen Reihen und Diagramme vor ihm zeigten besorgniserregende Aussichten – oder auch nicht. Abhängig von deren Interpretation und vor allem vom Willen zum Wandel.
Ohne die Stirnfalten zu glätten, bestellte Charles Nansé einen schwarzen Kaffee beim vorbeischwankenden Kellner. Kurz darauf sagte er pflichterfüllend »Merci« zum Schaffner, der seinen Gedankengang, wie jedes Mal, empfindlich störte.
Wenn er schließlich doch durch das Fenster blickte, dann nur, um seine Argumente vor seinem inneren Auge vorüberziehen zu lassen: »Wenn wir diese drei Maßnahmen global durchsetzen, sind wir ab Mitte des kommenden Jahrhunderts wieder auf Kurs. Fluor-Wasserstoff-Verbot, CO2-Reduktion, Rußpartikel-Emission. Vorausgesetzt, die Zielgrößen werden eingehalten. Sonst drohen Treibhausgaseffekt, steigende Meeresspiegel, zunehmende Wetterextreme.«
Charles Nansé wusste, dass die Chancen, das alles kommende Woche an der UN-Vollversammlung in New York zu erreichen, verschwindend klein waren. Als Professor an der renommiertesten Wirtschaftsuniversität der Schweiz und gleichzeitig Söldner der größten Schweizer Bank war ihm das klar. Aber wenn er etwas nicht war, dann ein Politiker. Der in der Schweiz schleichend einsetzende Umschwung von einer lösungsorientierten Konsens-Filz-Demokratie zu einer wählerzählenden Dissens-Ideologie-Demagokratie passte ihm überhaupt nicht. Ähnliche Verschiebungen waren in allen entwickelten Staaten der westlichen Welt zu beobachten. Die Politik und ihre Repräsentanten verstanden sich ständig besser darauf, die Ängste der Massen zu bewirtschaften, anstatt die anstehenden Probleme anzupacken. Aus Diktatoren wurden Demokratoren. Mit entsprechenden Folgen.
Also hielt sich Charles Nansé weiter an seine Analysen. Paläontologische Untersuchungen zeigten unterdessen zweifelsfrei, dass selbst während der kurzen Menschheitsgeschichte zwei bis drei signifikante Klimaänderungen stattgefunden hatten. Wo die jetzt beobachteten Fluktuationen mündeten, konnte oder wollte dennoch niemand wissen.
Kurz vor Lausanne schweiften seine Gedanken ab. Als Ökonom konnte er routiniert mit Zahlen jonglieren, gleichzeitig sein volatiles Börsenportfolio gewinnbringend bewirtschaften, die Familie managen und sich an sein Ferienhaus an der Côte d’Azur erinnern. Besser gesagt, an seinen letzten Aufenthalt dort. An ausgezeichneter Lage und allzeit gepflegt, war das Anwesen bestens geeignet, ihm eine Quelle der Freude zu sein; selten zusammen mit Frau und Kindern.
»Non, merci«, erwiderte Charles Nansé automatisch dem wiederkehrenden Kellner, der zum letzten Mal vor Genf versuchte, etwas von seinem Trolley abzusetzen. Genève, ma patrie, Rom des Protestantismus, wo wir, die Familie Nansé, einst Schutz erhielten und in den Zenit der Uhrenindustrie aufstiegen. Seine Nansé-Constantin zeigte auf pathetisch Weise fünf vor zwölf an.
Demian Schwarz sagte »Ja, gerne« zur adretten Kellnerin. Ein Bier, das ist genau das Richtige. Er saß, die Beine hochgelagert, unter dem Sonnenschirm auf der Aussichtsterrasse. Frau und Kinder wusste er beim Streichelzoo, und so konnte er unbehelligt in den Nachmittag dösen. Der blaue Himmel über den Bergspitzen präsentierte sich makellos, ebenso der Blick von der Alpwirtschaft ins Tal.
»Danke.«
Die Schweizerfahne flatterte fröhlich im Wind. Das ist es, ging es dem Braungebrannten beim ersten Schluck durch den Kopf. Romantische Bergstimmung, jauchzende Sennen, saubere Kühe. Alles auf der neuen Medikamentenpackung seines neuen Kunden seiner neuen Agentur appliziert, noch nie dagewesen. Der Grafiker griff zu Block und Griffel und skizzierte mit wenigen Strichen Entwürfe. Die mit Bier und Speichel befeuchteten Farbstifte verliehen den Zeichnungen den Status kleiner Kunstwerke.
Der Grafiker liebte den Illustrationsstil, wie ihn die Ansichtskarten um die Jahrhundertwende zelebriert hatten. Überzeichnet und romantisierend, das ewige Paradies versprechend. Er besaß eine der umfangreichsten Sammlungen davon. Entstanden war diese Liebe aufgrund einer alten Karte, eigentlich eines kolorierten Stahlstiches, den er als Kind aus dem Papierkorb des Vaters gefischt hatte. Sie war im Grunde Familiengeschichte: Sein Urururgroßonkel hatte sie seinem Ururgroßvater zugeschickt.
Fasziniert war der Junge von der Vorderseite gewesen: Eine überzeichnete und dadurch umso imposantere Ansicht eines Gletschers. Versandt worden ist sie von einem Berg, den er bestens kannte. Ein Unikat, so wusste Demian Schwarz inzwischen. Der einzige Makel war das Gekritzel über dem Text auf der Rückseite – Familiengeschichte eben.
Wirkungsvoll, bestechend, überzeugend. Erst recht, wenn sein Geschäftspartner in der kommenden Woche die schlagenden Argumente und Geschichten zu einem Konzept verdichtet hinzugefügt haben würde. Dafür bezahlten die Kunden gutes Geld.
»Sie?«
Aus seinen Gedanken gerissen, schaute Demian Schwarz zu dem Mann, der am Nachbartisch saß und ihn angaffte.
»Sind Sie Künstler?«
»Nein«, antwortete er vorschnell, »das heißt, eigentlich schon«, fügte sein Ego an und lächelte aufgesetzt.
»Können Sie davon leben?«
»Wie bitte?«
Bereits war Demian Schwarz dem Tischnachbarn wieder entglitten, oder umgekehrt. Der Mann interessierte ihn nicht. Zu unattraktiv, zu plump, kein möglicher Kunde.
»Ja, Werbung.«
»Ach so«, folgte prompt die Erniedrigung in verräterischem Akzent aus dem nördlichen Nachbarstaat. Damit erlosch auch für den anderen das Interesse, und er widmete sich erneut seiner Gala-Revue. Eingebildeter Möchtegern-Picasso.
Fetter Mittelklassetourist, dachte Demian Schwarz. Der letzte Schliff, und schon steckte er die Zeichnungen ein. Den Rest nicht mehr so erfrischendes Bier musste