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Sie mir Ihr Problem.« Herr Rathge sprach so leise, dass sich Baldur konzentrierte, ihn zu verstehen.

      »Ich fühle mich übergangen. Ein Kollege, den ich für weniger qualifiziert halte, bekam den Abteilungsleiterposten, auf den ich gehofft hatte. Wir sind beide Kunsthändler beim Auktionator Jetterer, spezialisiert auf Gemälde, haben beide Kunstgeschichte studiert und mit Master abgeschlossen.«

      »Warum halten Sie sich für qualifizierter?«

      »Ich habe vor dem Studium zwei Jahre Gemälderestauration gelernt. Der Kollege robbte stattdessen bei der Bundeswehr fürs Vaterland durch den Schlamm. In meiner Wut habe ich meine Freundin vergrault. Nun suche ich den Pfad zurück ins Glück. Dafür empfahl Wilma Ihren Rat.«

      »Es gibt viele Wege zum Glück, einer davon ist, aufhören zu jammern.«

      »Normalerweise jammer ich nicht. Ich sollte Ihnen mein Problem beschreiben.«

      »Sie unterstellen, dass der Kollege, der das Glück hatte, den erhofften Job zu ergattern, glücklich ist. Aber Glück haben bedeutet nicht, glücklich zu sein.«

      »Was raten Sie mir? Was kann ich konkret tun?«

      Herr Rathge atmete mit geschlossenen Augen mehrmals tief durch und flüsterte: »Seien Sie dankbar für die vielen kleinen, täglichen Freuden. Sie werden sehen, das hilft, glücklich zu werden. Wenn nicht, rufen Sie mich an, um einen neuen Termin zu vereinbaren.« Er stand auf und ging zur Tür. Zum Abschied wiederholte er: »Seien Sie dankbar.«

       8

      Zwei Tage suchte Baldur vergeblich Gründe fürs Dankbarsein. Am Freitag gab er es auf und rief Herrn Rathge an. Sie vereinbarten, Samstagvormittag für seinen nächsten Besuch.

      Am Samstag beklagte sich Baldur bei Rathge: »Es gab einfach nichts, wofür ich dankbar bin. Wofür waren Sie in den letzten Tagen dankbar?«

      Rathge grübelte nur kurz: »Es geht zwar nicht um mich, aber wenn es Ihnen hilft. Heute freute ich mich, dass der Bus fahrplanmäßig ankam, er ohne Stau durchkam, und ich pünktlich hier eintraf. Gestern schmeckte mir das Mittagessen besonders gut….«

      Baldur unterbrach ihn: »Ach so, Sie meinen solche alltäglichen Kleinigkeiten.«

      Rathge nickte: »Weltbewegendes erlebt man selten. Ich rate Ihnen, immer wenn Sie sich über etwas gefreut haben, es in ein Dank-Tagebuch zu schreiben. Das wird Ihnen helfen, wieder glücklich zu werden. Wenn nicht, rufen Sie mich an. Dann komme ich nächsten Samstag. Seien Sie dankbar!«

       9

      Am Montag fuhren Wilma und Rathge im Fahrstuhl in den 3. Stock. Wilma schloss die Wohnungstür ihrer Eltern, die meistens in der Schweiz lebten, auf. Gemeinsam schritten sie durch die dunkle Wohnung. Die Möbel und Bilder waren mit Bettlaken abgedeckt. Rathge hielt Wilma davon ab, das Licht einzuschalten, die Rollos hochzufahren oder die Vorhänge zu öffnen: »Lassen Sie bitte zunächst alles so, wie es ist. Nur so finde ich die genaue Quelle. Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich Sie brauche, oder fertig bin.«

      »Ich warte im Kellerbüro auf Sie.« Wilma schien, dass er vorzog, alleine zu suchen.

      ›Was eigentlich?‹

      Eine Stunde später wusste sie es. Rathge bat sie, ihm beim Abdecken von zwei Bildern in der Diele zu helfen: »Dafür brauchen wir eine Trittleiter.«

      »Ich habe eine in meiner Wohnung. Die nehmen wir gleich mit.«

      Im Flur des 3. Stocks stieg er auf die Leiter und löste die Verhüllungen der beiden hohen Ölgemälde. Es waren goldgerahmte Porträts in Lebensgröße. Die blasse Frau im edelsten, weißen Seidenkleid mit verklärtem Blick vor unscharfem, düsterem Landschaftshintergrund. Der stattliche Mann mit konzentriertem Blick in die Ferne im dunklen Gehrock vor Bücherregalen einer Bibliothek. Die präzisen Details der Bildnisse überraschte Wilma auch heute wieder. Diese Schärfe wäre ihrer Meinung nach heutzutage auch mit modernster Fototechnik unmöglich. Der Faltenwurf des Kleides erschien dreidimensional. Jedes kleinste Augenfältchen war verewigt. Selbst grobe Webfäden der Kleidung waren einzeln erkennbar. Wilma schaute Rathge fragend an: »Was ist mit diesen alten Schinken?«

      »Nur sie strahlten tiefe Traurigkeit aus. Ich spüre jetzt schon eine entspanntere Aura. Es wird noch Tage dauern, bis das Haus befreit ist.«

      »Heißt das, die beiden Herrschaften sollen unverhüllt bleiben und verstauben?«

      Rathge nickte.

      »Ausgerechnet diese Gemälde waren mir als Kind unheimlich. Opa hatte mir gezeigt, dass die beiden Augenpaare einen verfolgen, wenn man an ihnen vorbeigeht. In meiner kindlichen Neugier habe ich das immer wieder getestet. Er hatte recht. Sie folgten mir. Ich fand es gruselig.«

      »Das ist eine optische Täuschung, die nur im Gehirn des Betrachters stattfindet. Wir sind gewohnt, Zweidimensionales in Dreidimensionales zu übertragen. Das passiert bei perfekter Malerei oft.«

      »Wieso strahlen diese alten Porträts nur abgedeckt traurig?«

      »Weil sie sich nicht mehr sahen.«

      »Sie hatten mir eben erklärt, dass sich die gemalten Augen nicht bewegen.«

      »Das heißt aber nicht, dass sie blind sind.«

      »Ah ha! Nun wird es aber spökig.«

      »Vor circa zweihundert Jahren gab es überaus begabte Porträtisten, die versprachen ihren meist adligen Auftraggebern ewige Liebe über den Tod hinaus. Damals wurden Männer oft in Kriegen getötet. Ihre Frauen bangten um sie. Umgekehrt starben Frauen oft bei der Geburt. Diese Porträts trösteten die Hinterbliebenen.«

      »Was machen wir nun mit ihnen?«

      »Weil sie sich jetzt wieder sehen, lassen wir sie so hängen. Ich will sie noch eine Weile belauschen.«

      Wilma spöttelte: »Die beiden können zwar nicht sprechen, aber Sie können sie hören. Na, da will ich nicht stören.«

      Nach einer Stunde verabschiedete sich Rathge bei Wilma: »Ich habe das Dielenlicht angelassen. Ohne wäre es den beiden zu dunkel.«

      »Was haben sie denn gehört?«

      Rathge strahlte: »Sie sind überglücklich, dass die dunkle Epoche überstanden ist. Ich bin ihr erster lebender Lippenleser seit 200 Jahren. Der Herr sagte: ›Wenn ich noch könnte, würde ich vor Glück heulen. Als uns diese Unsterblichkeit angeboten wurde, konnten wir unser Glück kaum fassen. Tischbein hat uns ausgenommen. Ob er mit unserem Vermögen glücklich geworden ist, wissen wir nicht. Ist uns auch egal. Seit wir nur noch unsere Lippen lesen können, ist uns fast alles egal.‹ ›Vergiss das Licht nicht!‹, unterbrach ihn seine Frau.«

      Rathge schnaufte: »Sie überlegen, wie sie sich bedanken können. Es scheint, um etwas Wertvolles zu gehen. Deshalb möchte ich in einer Woche wiederkommen, um zu erfahren, wie sie sich entschieden haben, und auch um die Auraveränderung im Haus zu prüfen.«

      »Dann sehen wir uns nächsten Montag wieder.«

       10

      Um wieder glücklich zu werden, befolgte Baldur zunächst Rathges Empfehlungen, ein Dank-Tagebuch zu führen. Für das erste Wochenende schrieb er nichts in den altmodischen Terminkalender, den er als Tagebuch verwendete. Für Montag notierte er, dass er zum Glück zu Fuß trotz angekündigten Regens trocken in die Firma und nach Hause gekommen war. Am Dienstag war er dankbar, dass die Pizza üppig mit Salamischeiben belegt war. Ab Mittwoch verzichtete er auf Wiederholungen derartiger Nichtigkeiten. Da er keinen Erfolg feststellte, rief er am Freitag Herrn Rathge an.

      Am Samstag besuchte Herr Rathge Baldur in seiner Wohnung. Das Tagebuch wollte er nicht lesen. Er empfahl: »Schreiben Sie zusätzlich auf, was Sie glücklich gemacht hat.«

      »Also ein Dank- und Glücklich-Tagebuch.«

      »Das wird Ihnen helfen, glücklicher zu werden. Wenn nicht, rufen Sie mich an, damit ich nächsten Samstag vorbeikomme.«

      

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