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10.3.2014

       Meine geliebte Zwillingsschwester, meine Tara!

      Ich muss dir nun berichten, was ich letzten Mittwoch bei Herrn Wolter alles erlebt hatte. Er wohnt, wie ich nun aus meinem Auto aussteigend erblicken konnte, in einer Villa mit kleinem Garten. Auf mein Läuten hin öffnete er die Haustür, streckte mir die Linke entgegen, da sein rechter Arm, wie er mir entschuldigend erklärte, noch zu schmerzempfindlich sei, als dass er sie mir darreichen könnte. Als ich in der Garderobe meinen Mantel abgelegt hatte, machte ich ihm Komplimente über seine schöne kleine Villa. Diese ist, wie er mir nun erklärte, das Erbstück der Eltern, das er sich mit seiner Schwester zu teilen hat. Jedoch lebt sie mit ihrer Familie in Dahlem, so dass ihm sehr viel Platz zur Verfügung steht. Doch jeden Freitag kommt eine Reinigungsfrau. Als wir das von ihm sogenannte Fernsehzimmer betraten, erfuhr ich Weiteres. Er ist als ehemaliger Studienrat mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Musik gut berentet und kann sich auch weitere Reisen, wenn auch, wie er sagt, auf sparsamere Art, leisten, muss jedoch auf diese vorerst verzichten, da er mit der Kniemanschette nur langsam am Stock gehen kann. Deshalb kommt auch alle drei Tage eine Krankengymnastin zu ihm, die sowohl sein rechtes Bein samt Knie als auch seine Arme sich bewegen lässt, was oft noch mit Schmerzen verbunden ist, die sich bis in die Schultern ausbreiten. Er zeigte mir alsdann mit Stolz seine Bibliothek, einen Raum, der bis oben hin mit Regalen versehen ist, auf denen sich Bücher in alphabetischer Reihenfolge wohlgeordnet, wie er erklärte, nebenaneinander reihen. Den größten Platz nehmen seine Klassiker ein, wobei er von den Namhaftesten sämtliche Werke besitzt. Der zweitgeräumigste Platz, ebenfalls mit vielen Regalen, ist mit Geschichtsbüchern ausgefüllt. In zwei Regalen befinden sich spirituelle Bücher und in vier unteren Fächern zum einen große Bildbände der Kunstgeschichte und dann auch erdkundliche Bücher und Atlanten.

      Doch mit dem größten Stolz deutete er auf seine umfangreiche Musiksammlung hin, bestehend aus vielen Schallplatten, Kassetten und auch CDs. Und dann nahm er eine Schallplatte hervor, legte sie auf und ich sollte raten, aus welcher Zeit diese Musik wohl stamme. Ich hörte mit Ergriffenheit diesen von neun männlichen Stimmen oft im Wechselgesang vorgetragenen Choral, der sicherlich zu einer Messe gehörte und mir dem frühen Barock zuzugehören schien. Er bestätigte es und sagte, dass dieses mit dem Text des einundfünfzigsten Psalms das heilige Miserere von Gregorio Allegri aus den dreißiger Jahren des siebzehnten Jahrhunderts sei, welches auf Anordnung des Papstes nur in der Karwoche in der Sixtinischen Kapelle aufgeführt und nie kopiert werden dürfe. Wer gegen dieses Gebot verstieße, würde mit der Exkommunikation bestraft werden. Doch der vierzehnjährige Mozart schrieb es nach dem einmaligen Hören aus dem Gedächtnis nieder, übergab diese Noten ein Jahr später heimlich einem englischen Historiker, der es 1771 in seinem Land veröffentlichen ließ, womit uns dieses Wunder der Musik überliefert werden konnte. Und für Herrn Wolter war das der erste große musikalische Paukenschlag, der schon ein wenig die Musik vorwegnahm, die dann hundert Jahre später mit anderen Klangwundern aufwartete. Und er fügte hinzu, dass ein Komponist, dessen Namen mir entfallen ist, gesagt habe: „Wenn es einen Himmel gibt, muss er in diesen Klängen liegen." Dieses Stück wurde auch zum Begräbnis von Beethoven gespielt.

      Er sah, wie sehr ich von diesem mehrstimmigen Gesang angetan war, denn mir kamen die Tränen. Und als ich ihn bat, es noch einmal aufzulegen, drang dieser Chorgesang noch tiefer in mein Herz hinein. Wer konnte so etwas Himmlisches komponieren, so fragte ich ihn. Und er sagte, dass die vor allem sogenannte klassische Musik voll von derartigen Tonwundern sei, die den betreffenden Komponisten von höherer Seite eingegeben worden waren. „Jene Musik“, so meinte er, „welche die tiefste Seele berührt, stammt zumeist von Komponisten des Jenseits. Oft sind diese Komponisten aber auf der Erde inkarniert und lassen sich das, was sie dort komponiert haben, wieder von ihren dort befreundeten Musikern durchgeben. Somit kann man nie wissen, ob solche Musik von anderen jenseitigen Komponisten stammt oder es sich von einem selbst dort komponierten Werk handelt. In einem Brief an einen Freund schrieb einmal Mozart, dass ihm die Töne einfach zuflossen. Doch „woher und wie sie kommen, weiß ich nicht; und ich kann sie auch nicht zwingen.“ Immer, wenn Sie mich besuchen - und ich hoffe, dass Sie öfter mich besuchen kommen -, werde ich, so Sie mögen, Ihnen ein besonderes Musikstück zu Gehör bringen.“ „Oh ja, das wäre wundervoll!“

      Und dann sagte er, dass er sich eine doppelte Portion von dem fahrbaren Mittagstisch für heute bestellt habe, damit ich mit ihm zusammen speisen könne. Es gab Kartoffelsalat und Fisch. Und als Nachtisch Schokoladencreme. Wir sprachen über viele Dinge. Ich musste über mein Leben erzählen, vor allem über mein Zusammenleben mit dir. Doch erwähnte ich nicht William, unsere gemeinsame Liebe. Ich wollte ihn eigentlich noch fragen, warum er samt seinen Büchern verfemt sei. Doch wegen der anderen verschiedenen Themen kamen wir darauf nicht mehr zu sprechen. Doch ich nahm mir vor, ihn beim nächsten Besuch danach zu fragen.

      Schließlich brachte er mich zur Tür, und, sich mir zubeugend, gab er mir auf jede Wange ein Küsschen. „Wann werden Sie dann wieder mich besuchen kommen? Außer Samstagvormittag, da kommt meine Reinemachefrau und auch außer Sonntag, wo meine Schwester mit ihren Enkelkindern mich besucht, passt eigentlich jeder Tag. Und sollte gerade meine Masseurin zugegen sein, dann sehen Sie sich in meiner Bibliothek um, bis ich dann zu Ihnen komme. Lassen Sie mich bitte nicht so lange auf Ihren Besuch warten. Doch rufen Sie mich vorher an.“

      In was für eine Welt des Wissens wurde ich auf einmal hineingeführt? Ich werde dir über alles Weitere genauestens berichten.

      Lebt wohl ihr beiden.

      Eure Leo, in Liebe

      ***

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