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Kopfsteinpflaster blieb nur schwarze Nässe zurück. Ich beschränkte meine Einkäufe auf das Nötigste und flüchtete in die Bibliothek. Dort war es warm; der große, hohe Lesesaal roch nach Büchern. In endlosen Reihen standen sie bescheiden Rücken an Rücken, jederzeit bereit, ihre Traumreiche aufzublättern, Vergangenheit und Zukunft in Gegenwart zu verwandeln, ihren Leser zu entführen, wohin er nur wollte. Unaufdringlich boten sie ihre Dienste an, nie beleidigt, wenn man ihre stumme Einladung abwies. Oft griff ich mir einfach eines aus dem Regal, ohne den Titel vorher angesehen zu haben, und machte Wort für Wort eine Expedition ins Unbekannte - langweilig erschien mir keines. Einige wollten zum Nachdenken anregen, andere unterhalten, wieder andere Wissen vermitteln; manchmal waren sie sachlich, manchmal schwärmerisch, aber immer respektierten sie die Freiheit ihres Lesers, sich ihnen wieder zu entziehen. An einem grauen Wintertag in Tübingen gab es keine angenehmere und tröstlichere Gesellschaft als die ihre. Als ich mich von ihnen trennte, war es draußen schon dunkel.

      Auf der Heimfahrt fiel mir auf, wie leer sich mein Magen anfühlte. Ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Zu Hause briet ich mir Spiegeleier mit Speck. Während ich aß, musste ich mir schuldbewusst eingestehen, dass ich den ganzen Tag nichts gearbeitet hatte - nur gelesen und geträumt. Ich stopfte eilig den letzten Bissen von meinem Brötchen in den Mund, ging mir die Hände waschen, setzte mich an meinen Arbeitsplatz, kramte endlich meine Unterlagen aus der Aktentasche und breitete sie aus. Nur eine Zigarette wollte ich mir noch genehmigen, bevor es losgehen sollte. Leider bin ich in solchen Verzögerungstaktiken äußerst erfinderisch. Draußen klingelte das Telefon. Ich hörte Oma Kuch antworten. Kurz darauf klopfte es. Froilein, es isch für Sie, schwäbelte sie. Ich ging in den Flur und nahm den Hörer entgegen. Sie stellte sich an einen Schrank in Hörweite und machte sich eifrig darin zu schaffen. Demnach war mit Sicherheit nicht meine Mutter am Apparat. Ich drehte ihr den Rücken zu, das Gesicht zur Wand, und meldete mich, wobei ich verdrossen den grünen Samtüberzug anstarrte, der das Telefon verschönern sollte.

      Guten Abend, sagte Norbert, endlich habe ich Glück. Hallo, entgegnete ich leise, bemüht, geistesabwesend zu klingen, damit er nicht etwa glaubte, ich hätte auf seinen Anruf gewartet. Er berichtete, dass er schon mehrfach versucht hatte, mich erreichen. Ich bin gestern erst zurückgekommen, erwiderte ich, habe aber eine Notiz vorgefunden, dass du angerufen hast. Du scheinst nette Vermieter zu haben, meinte er. Hoffentlich sind sie nicht böse, weil ich so oft gestört habe. Ich verneinte und schielte nach Oma Kuch. Sie hatte ihr Räumen inzwischen eingestellt und stand bei offenen Schranktüren angestrengt lauschend da, denn sie hörte nicht mehr gut. Ich blickte wieder in Richtung Wand, sprach noch ein bisschen leiser, erzählte irgend etwas - von der Fahrt, vom schlechten Wetter, vom Tagesverlauf. Nur keine Pause, Pausen sind peinlich. Was hast du gerade gemacht, fragte Norbert, als mir nichts mehr einfiel. Gelernt, behauptete ich, und du? Ich habe an ein gewisses Mädchen gedacht und gehofft, da es endlich zu Hause ist, antwortete er. Schweigen. Mir fiel schon wieder nichts mehr ein. Ich sagte schließlich: Es wird sehr teuer, wenn wir so lange telefonieren. Und wenn schon, lachte Norbert, das ist es mir wert. Warum fiel mir denn nichts ein? Hast du immer noch Lust, mich zu besuchen, sagte ich schließlich übergangslos. Er schien auf diese Frage gewartet zu haben, denn er ließ sie unbeantwortet und stellte gleich die Gegenfrage. Wann? Ich murmelte etwas von ziemlich viel Arbeit im Moment und erkundigte mich, wie es bei ihm im Februar aussähe. Vielleicht am ersten Dienstag, schlug ich vor. Dienstags habe ich nur bis zehn Vorlesung. Willst du so gegen elf zu mir kommen? Ja, sagte er, ja. Ich beschrieb ihm den Weg. Autobahn Karlsruhe, dann Richtung Stuttgart bis zum Vaihinger Kreuz, ab dort immer der Beschilderung nach. Du musst am Bahnhof vorbei stadtauswärts fahren. Die Straße führt nach Rottenburg, erläuterte ich. Nach dem ersten Bahnübergang siehst du links eine Neubausiedlung. Dort biegst du ein. Der Vorort heißt Kilchberg. Es ist einfach zu finden, schloss ich meine Erklärungen. Ja, sagte Norbert und fügte leise hinzu, ich freue mich sehr. Ich freue mich auch, erwiderte ich schnell. Abschiedsworte hier und dort, ich hängte ein. Dankeschön, rief ich in Richtung des immer noch geöffneten Schrankes und verschwand in meinem Zimmer, bevor Oma Kuch mich in ein Gespräch verwickeln konnte.

      Meine Zigarette hatte sich inzwischen in Asche aufgelöst. Ich zündete mir eine neue an und ging auf und ab, den Aschenbecher in der Hand. Ich hatte nicht erwartet, dass er so schnell anrufen würde. Normalerweise ließ man den anderen bei diesem Spiel erst ein bisschen zappeln. Die Kunst besteht darin, genau den Zeitpunkt abzupassen, in dem das Interesse noch wach ist, aber sich der Zweifel bereits regt. Würde er anrufen oder nicht? Norbert hatte diese Spielregeln außer Acht gelassen. Warum? Ich dachte an sein Gesicht, als wir uns am Neujahrsmorgen voneinander verabschiedet hatten. An Spielregeln hält sich nur, wer spielt. Diese Erkenntnis berührte mich unangenehm. Mein Zimmer erschien plötzlich eng und überheizt. Der Rauch störte mich. Ich öffnete ein Fenster. Kalte Abendluft drang herein und verscheuchte meine Unruhe. Normalerweise müsste ich mich über Norberts Reaktion freuen, sagte ich mir. Lauter als gewöhnlich ließ ich den Rollladen herunter und nahm mir vor, mich zu freuen.

       Man sagt, schaltet sich mein Alter Ego ein, dass frische Luft die Denkfähigkeit fördert. Aber die Denkfähigkeit allein macht es nicht, fügt es nachdenklich hinzu. Es ist verwunderlich, wie manche Leute den Kopf voller Gedanken haben und doch gedankenlos bleiben. Gedankenlose Gedankenfülle. Es lacht leise vor sich hin. Man kann fast nicht glauben, dass es möglich ist, beides geradezu meisterlich unter ein und derselben Schädeldecke zu vereinen. Angriffslustig fixiert es mich. Ich übe mich im Mut zur Pause. Plötzlich wird mein Alter Ego verbindlich und freundlich. Was du eben rekonstruiert hast, interessiert mich sehr, bemerkt es übergangslos. Es ist außerordentlich unterhaltsam. Eigentlich hast du jetzt verdient, deinerseits eine Geschichte zu hören. Ich will dir eine erzählen, etwas Romantisches, etwas fürs Herz, etwas von der Liebe. Du bist doch romantisch, oder? Es sieht mich lauernd an. Ich murmele etwas, das nach Zustimmung klingen soll. Sehr schön, meint mein Alter Ego zufrieden.

      Nach einer kurzen Pause fängt es an zu erzählen: Es war einmal ein junger Mann, dem widerfuhr eines schönen Tages das, was man Liebe auf den ersten Blick nennt. Er lernte ein junges Mädchen kennen, und als es ihn anblickte, wusste er: sie oder keine! Ich kann nicht beurteilen, ob sie wirklich so hübsch war, wie sie ihm erschien. Wichtig ist nur, dass gerade sie ihm über alle Maßen gefiel. Während des ganzen Abends konnte er kaum die Augen von ihr wenden. Er versuchte, sich ihre Gesichtszüge einzuprägen, aber immer, wenn er meinte, ihr Gesicht vor sich zu sehen, und wenn er woanders hinblickte, zerflossen ihre Konturen, und er konnte sich nur noch ihre schönen Augen vorstellen. Sie schienen ihn von überall her anzuschauen. Er sah sie sogar, als er seine eigenen Augen für den Bruchteil einer Sekunde schloss. Den Verlauf des Abends erlebte er nur verschwommen. Die Unterhaltung plätscherte an ihm vorbei. Er registrierte, dass er ziemlich viel redete, ohne zu wissen, was. Er fühlte sich wie im Traum und befürchtete aufzuwachen, ohne sie um ein Wiedersehen gebeten zu haben. Aus Angst, sie könnte ablehnen, traute er sich nicht, sie danach zu fragen, obwohl sie sehr freundlich zu ihm war und alle Anzeichen dafür sprachen, dass sie nicht nein sagen würde. Erst als sie schon im Gehen begriffen war, brachte er endlich seine Frage heraus. Ob er sie einmal besuchen durfte? Sie lächelte ihn an und schien nachzudenken. Er bereute fast schon, gefragt zu haben, da sagte sie ja, und er sollte einfach vorher in Tübingen anrufen. Sie schrieb ihre Adresse in sein Notizbuch. Beim Abschied gab sie ihm einen Kuss. Bis zum übernächsten Tag schaffte er es, der Versuchung zu widerstehen, die von seinem Telefon ausging. Dann gab er nach. Er wählte. Eine brüchige Frauenstimme teilte ihm freundlich mit, sie wäre noch nicht zurück. Er geduldete sich bis zum nächsten Tag. Dieselbe Antwort. Er nahm sich vor, das Wochenende abzuwarten; erst am Montag versuchte er es wieder. Sie war immer noch nicht da. Am Dienstag hieß es endlich, dass sie zwar inzwischen zurückgekommen, momentan jedoch außer Haus wäre. Er wartete bis zum Spätnachmittag. Dann probierte er es nochmals. Aus dem Hörer tutete ihm das Besetztzeichen entgegen. Er wählte erneut; die Nummer kannte er längst auswendig. Immer noch besetzt. Ob sie telefonierte? Er versuchte, etwas zu lesen und nicht auf die Uhr zu sehen. Eine halbe Stunde hielt er durch, dann griff er wieder zum Telefon. Dieses Mal war die Leitung frei. Wieder meldete sich die alte Frau. Ja, sagte sie, einen Moment, bitte. Es krachte an seinem Ohr. Wahrscheinlich hatte sie den Hörer hingelegt. Stille. Dann hörte er ihre Stimme. Sie klang leiser als er sie in Erinnerung hatte, fast schüchtern. Er versuchte herauszuhören, ob sie sich über seinen Anruf freute. Ihre Stimme verriet nichts.

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