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in keine Garage, wie in Amerika. Piccolo verzichtete darauf, in der Uniform seines italienischen Großvaters als Vizeadmiral aufzutreten. Sich strecken zu lassen. Neueste Medizintechnik war in der Lage, bis zu 3 % eines menschlichen Körpers zu strecken. Ebenso Überlängen um dieselbe Prozentzahl zu drücken.

      Fritz Piccolo wollt klein sein und bleiben. Umso größer zu erscheinen. «Mehr sein als scheinen». Das Motto des Generals Alfred Graf von Schlieffen ist seines. Fühlt sich aber Friedrich II., dem Sohn des Soldatenkönigs Friedrich I. eher verwandt. Weil man ihn den Alten Fritz nannte. Ein Fritz überrascht die Welt, gemäß dem Leitspruch: «Suum cuique». Jedem das Seine, das er auf sich bezog: Mir steht zu, was mir zusteht. Veranstaltete einmal im Jahr wie der Preuße ein Tabakkolleg in einem Schloss. Das erste in Schloss Auel bei Köln. Im Jahr darauf Schloss Hugenpoet nahe der Ruhrmetropole Essen. In der kurfürstlichen Residenz Würzburg, Schloss Herrenchiemsee in Bayern. Im letzten Jahr sogar genehmigte die Verwaltung des Schlosses Sanssouci in Potsdam die Veranstaltung. Lebte Voltaire noch, hätte er ihn eingeladen, mit ihm zu philosophieren. Seitdem nennen ihn die Mitarbeiter «Monsieur Fritz».“

      Freund Justus kennt die Firma aus dem ff. Seinen Chef Fritz Piccolo und dessen Gewohnheiten. Sprach aber nie darüber. Schließlich ist er sein Privatsekretär. In viele Geheimnisse eingeweiht, aber kein Alleswisser. Folglich interessiert ihn brennend, was sich in der roten Mappe versteckt. Die rote Mappe in seinen Händen zittert ein wenig: „Wüsste ich zum Beispiel von einer Liebschaft meines Chefs, einem geheimen Geldtransfer, könnte es mir eines Tages vielleicht nutzen. Er aber hat mir verboten, die Tasche zu öffnen. Ich würde meines Lebens nicht mehr froh. Aber es reizt mich, juckt in den Fingern, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Zu wissen, was ich nicht wissen darf.“

      Justus weiß, dass auch ich ebenso an deren Inhalt interessiert bin. Weil wir beide Blutsbrüder sind, geschworen haben, nichts zu verraten, könnte er mir doch einen Einblick gewähren. Wahrscheinlich sind es Papiere mit brisanten Themen. Die für Monsieur Piccolo gefährlich werden könnten, kommen sie ans Licht der Öffentlichkeit. Ob es eine Liebschaft, ein geheimer Geldtransfer ist, weiß keiner von uns beiden. Was aber ist wirklich drin? Justus spielt den Gönnerhaften:

      „Hör zu, bevor ich die rote Mappe meinem Chef gebe, gestatte ich Dir, einen Blick hineinzuwerfen. Schauen kannst Du, das ein und andere lesen. Damit Du weißt, um was es geht. Und mir weitersagen, solltest Du meinen, ich müsste es wissen. Aber keine Fotokopien machen. Sie könnten entwendet werden und andere, uneingeweihte Dritte den Nutzen daraus ziehen. Sollte Fritz Piccolo davon erfahren, wäre ich meines Lebens nicht mehr froh. Den Job los, verklagt wegen Verrats von Firmengeheimnissen. Zu einer hohen Geldstrafe oder gar mit Gefängnis bestraft. Die Radikale Rechte in der Regierung wollte immer schon das Gesetz ändern, die Todesstrafe wieder einführen. Nachdem die Versöhnungspartei sie vor 12 Jahren aufgehoben hat. Der Polizeioberkommandierende ließ schon eine Kopie der französischen Guillotine von 1789 anfertigen. Angeblich, um sie in Heidelberg auszustellen, Studenten zu warnen. Aber lehr mich Uniformierte kennen. Ich will nicht einen Kopf kürzer gemacht werden. Schwöre, Du wirst mir keine Probleme machen.“

      „Ich schwöre! Nun gib mir die rote Mappe, mein Freund, ich kann kaum erwarten, einen Blick hineinzuwerfen.“ Noch hält er sie fest mit beiden Händen. Dieses aufreizend rote Etwas aus festem Leder. Wahrscheinlich muss man nur das Schloss in der Lasche öffnen, sie öffnen und sehen, was drin ist. Der Schlüssel müsste passen, den Justus in der Hand hat.

      Ich will sie ihm aus den Händen reißen, doch er hält sie fest. Als hätte er es sich plötzlich anders überlegt: „Immer langsam mit den wilden Pferden. Ich habe sie aus dem Tresor geholt und will riskieren, einen Blick hineinzuwerfen. Nicht, weil ich Dir misstraue, aber als Privatsekretär habe ich das Privileg, als erster das Geheimnis meines Chefs zu lüften. Falls ich es überlebe. Keiner von uns weiß, ob nicht ein Sprengsatz losgeht, steckt man den Schlüssel rein. Oder eine Sirene heult los. Und alle in den Keller stürzen, die den letzten Bombenkrieg noch in den Knochen haben.“

      „À propos Krieg fällt mir ein, was sein Intimus, Professor Dr. habil. Psychotherapeuticus mir erzählte. Mich schwören ließ, es niemandem weiterzusagen: Fritz Piccolo hat den Krieg überlebt, weil er nicht Soldat werden musste. Sondern freigestellt, die Produktion von kriegswichtigen Rohren zu sichern. Rohre für Gewehre und Maschinenpistolen. Ein gut bezahlter Kader kümmerte sich darum. Er selber nutzte die Nächte und stieg aufs Dach seiner Firma. Beobachtete feindliche Bomber, wenn sie im Fadenkreuz von zwei oder drei Scheinwerfern hell leuchteten wie Mücken im Licht. Fernes Brummen im Ohr.

      Die Vision im Kopf: ihre Bomben schon in der Luft zur Explosion zu bringen. Bevor ihre tödliche Last Häuser in Schutt und Asche legten, tausende Menschen ums Leben kommen. Befahl seinem Cheftechniker Dr. Luftikus, schleunigst einen Teleskopmast aus Stahlrohren zu entwickeln. Die bis zu zweitausend Meter ausgefahren werden können. Und mit elektrischen Impulsen die Bomben in der Luft explodieren lassen. Bevor sie auf der Erde Tod und Zerstörung anrichten. Hermann Göring, Reichsluftfahrtminister, wird begeistert sein. Und die Herstellung aus dem Staatsfond finanzieren.

      Angst hatte Monsieur Fritz keine auf dem Dach. Auch nicht, als die ersten Brandbomben das flache Teerdach eines seiner Gebäude entzündeten. Rannte zum Löschzug, fuhr zur Brandstelle, schraubte den Schlauch an die Wasserleitung. Und spritzte, was das Zeug hielt. Der Staat verlieh Fritz Piccolo für seinen beispielgebenden Einsatz an der Heimatfront das Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse. Er soll es vor der Presse heruntergespielt haben: „Lieber allein den Geruch brennender Teerdächer in der Nase als im Gedränge eines Luftschutzkellers ersticken.“ Den Orden ließ er auf dem nächsten Betriebsfest als Rarität versteigern. Den Erlös spendete er Mitarbeiterinnen, deren Männer an der Front ihr Leben lassen mussten. “

      Sein Chef scheint ein toller Hecht zu sein. Justus: Der Krieg zum Glück über zwei Jahrzehnte vorbei. Aber Bomben oder Raketen in der Luft zur Explosion zu bringen hilft heute wie gestern, Tote auf der Erde zu vermeiden. Man könnte sie im Golfkrieg einsetzen. Oder Ronald Reagan verkaufen, dem amerikanischen Präsidenten, und hundert Millionen Dollar kassieren. „Hör mal Justus, vielleicht ist die Formel für diese Konstruktion in der roten Mappe. Mach sie schon auf, damit wir wissen, was drin ist. Schüttele sie mal kräftig, sonst mach ich es. Eine Bombe kann man hören, auch wenn sie nicht explodiert.“

      Justus zögert. Reiße ihm die rote Mappe aus den Händen. Schüttele sie mit aller Gewalt, rechts, links, rauf und runter. Werfe sie auf den Boden: Nichts rührt sich. „Gib mir den Schlüssel.“ Hinein gesteckt und umgedreht. Warte eine Sekunde. Keine Sirene heult. Lege die Lasche um, will die Mappe aufschlagen. Dieses lederne, rote Etwas, das jetzt bald sein Geheimnis offenbaren wird.

      Aber es geht nicht. Erblicke an zwei Seiten einen Reißverschluss mit einem Zipp. Ritsch, ratsch und aufgeklappt. Ein Umschlag zeigt sich, in einem tieferen Rot als die äußere Mappe. Nichts sonst. DIN C 4 groß. Kein Hinweis, kein Faden der Ariadne, an dem ich mich entlang hangeln könnte. Das heiß ersehnte Unikum zu erblicken.

      Öffne den Umschlag, er ist zum Glück nicht zugeklebt. Finde wieder einen Umschlag, der mich brombeerrot anlacht. Obwohl er kleiner ist, geschätzt DIN B 5. Lauter Rotes, als hätte Rot eine große Bedeutung. Für Monsieur Fritz, Berater und Mitarbeiter . Mitarbeiterinnen hatte er nicht wenige, sogar in der Fertigung, erzählte Justus. Alles war automatisiert bei Monsieur. Die Arbeit leicht, sie von Frauen erledigen zu lassen. Nannte sie «Mes chère Madames» hielt er eine Ansprache. Mit einer Pariserin glücklich verheiratet und trotzdem oder gerade deswegen liebte er Frauen. Schenkte jeder Arbeiterin eine rote Rose an ihrem Geburtstag. Interne Kommunikation war ihm ebenso wichtig wie externe. Rot also des Rätsels Lösung? Rot für Liebe?

      Meine Neugier steigert sich, während Justus gelassen zuschaut. Beruhigt offensichtlich, dass nichts explodierte, keine Sirene aufheulte, um nie mehr aufzuhören.

      Fingere aus dem brombeerroten einen weiteren, wiederum kleineren Umschlag heraus. Schätze DIN C 6. Farbe nicht schwer zu erraten: Erdbeerrot. Warmes, leckeres Rot zum Reinbeißen. Ob es der Letzte Hüter des Geheimnisses ist? Lüpfe die Klappe, schau hinein und siehe da: wieder ein Umschlag. So winzig, dass DIN keine Norm dafür fand, ihn in die Reihe zu bringen. Ob Fritz ihn selber gebastelt hat? Zuzutrauen wäre es ihm. Leuchtet so hell und so rein wie das Rot auf Martin Schongauers «Maria im Rosenhag»

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