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nicht?", japste das blonde Mädchen und krallte sich am Kopfteil ihres Vordersitzes fest, um nicht endgültig den Halt zu verlieren. Der ältere Mann warf einen prüfenden und neckischen Blick in den Rückspiegel und grinste sie verschmitzt an:

      „Nein Sonnenschein, dass hätte viel zu lange gedauert und außerdem fahren die auf dem Land noch mehr wie die größten Idioten. Das hier ist im Vergleich dazu total harmlos“, berichtete er ihr beiläufig und setzte seine schwarze abgedunkelte Sonnenbrille wieder auf, sodass sein Blick erneut komplett verdeckt war.

      „Sie befinden sich nun auf der Summit Ave Street, folgen Sie dem weiteren Straßenverlauf bis zur Kreuzung, dann biegen sie links ab", ertönte wieder die nervige stimme der Navi-Lady und Mr. Mitchell schnaufte zufrieden.

      „Sieht so aus, als hätten wir beide bald unser Ziel erreicht", sagte er gut gelaunt, riss das Lenkrad um 180 Grad herum und überholte ein paar Fahrer die, so wie er es formulierte, fuhren wie „tollwütige Frösche“. Wobei Clementine schwer daran zweifelte, dass es so etwas überhaupt gab. Als sich die Fahrsituation wieder etwas beruhigt hatte, seufzte sie lange und leise und schlang ihre dünnen Arme um ihre angewinkelten Beine. Noch einmal gingen ihr alle Bilder durch den Kopf, die sie eigentlich zu vergessen versuchte. Wie sie sich von ihrer geliebten Mutter verabschiedet hatte, wie wütend sie ihren ExFreund angegriffen hatte, wie herzlos sie ihn in Stücke gerissen hatte und wie fluchtartig sie ihr langjähriges Zuhause verlassen musste. Es fühlte sich so an, als wäre sie jemand anderes. Jemand, der keine Seele besaß.

      Aber besaßen Mörder überhaupt eine Seele?

      „Alles okay dahinten? Oder macht mein Fahrstil dich so fertig?" grinste Mr. Mitchell, aber als er Clementines tieftrauriges Gesicht sah wurden seine Gesichtszüge sofort weicher: „Was ist denn los, Sonnenschein?", fragte er und seine Augen funkelten trotz seines Alters mitfühlend.

      „Naja, wenn man so darüber nachdenkt, was man den Menschen angetan hat, die man liebt, fühlt man sich viel mieser als man denkt. Wissen sie, wovon ich spreche?", fragte sie abwesend und ihr Blick schweifte über die immer weiter auseinander stehenden Häuser. Es sah beinahe so aus, als würden sie die Stadt bald verlassen.

      „Natürlich kenne ich dieses Gefühl. Noch besser sogar, als du dir das vorstellen kannst. Ich habe die Jahre über gelernt, mich auf den Beinen zu halten, selbst wenn ich eigentlich K.O. war. Ich lernte durchzuhalten, in Momenten als alle anderen mich schon aufgegeben hatten. Ich stand auf, als alle andern schon die Schaufeln bereitmachten, um mich zu begraben. Ich habe auch große Fehler gemacht Clem, diese Fehler formen uns in unserer Individualität und machen uns zu denen, die wir heute sind. Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich, dass es in Ordnung ist, ein Leben zu führen, das andere nicht verstehen. Irgendwann kommt nun mal der Moment, in dem du entscheiden musst, ob du diese Seite umblätterst oder das Buch schließt."

      Einen kurzen Augenblick schwiegen beide und starrten auf die Fahrbahn. Die Häuser wurden hinter ihnen immer kleiner und glichen einer riesigen Schafherde, die sich in den Himmel erstreckte.

      Auf einmal antwortet Clementine ungläubig und staunend:

      „Das war das tiefgründigste, was ich jemals gehört habe… Sie scheinen Recht zu haben mit dem, was sie mir sagen wollen. Aber ich habe einen Menschen umgebracht, Sir. Sie nicht. Ich bin ein Monster. Sie nicht. Ich war ein perfektes Leben gewohnt. Wissen Sie, ich will kein Mensch sein, vor dem man sich fürchten muss. Vor mir soll niemand ängstlich zurückweichen, ich will ein normales Mädchen mit Träumen sein", flüsterte sie trocken und ihre Augen wurden wieder glasig, doch sie wischte schnell mit dem Handrücken darüber.

      „Und genau deswegen, damit sowas nicht passieren kann bin ich ja da, ich bringe dich an einen Ort der Sicherheit, wo du lernen wirst, das, was du als Last oder Fluch bezeichnest, in den Griff zu bekommen. Du wirst wieder stark sein. Du wirst wieder lachen können. Aber alles zu seiner Zeit, das Leben ist nicht immer in perfekter Balance. Wobei, eigentlich ist es nie in perfekter Balance", sagte Mr. Mitchell und ein Lächeln stahl sich Clementine über die Lippen und sie lachte leise.

      „Sie sind ein netter Mensch. Ich glaube, ich mag Sie", beschloss das schlanke Mädchen und ihre Augen glänzten wieder mit dem ursprünglichen Feuer, das in ihr loderte.

      „Was für eine große Ehre für einen Menschen wie mich", lachte der Fahrer gütig und nahm eine Hand vom Lenkrad, um Musik anzustellen, damit sich die sowieso schon so langziehende Fahrt nicht noch länger anfühlte.

      „Noch ungefähr fünfunddreißig Minuten, dann haben wir Glenagels erreicht, da können wir den Jungen gleich mitnehmen. Wir haben die Fahrt fast hinter uns, Clementine, und dann sehen wir in Ruhe, wie es weitergehen soll", versprach Mr. Mitchell und drückte aufs Gaspedal.

      Chances

      (Backstreet Boys, 2018)

      „Ich weiß, dass das alles gerade einfach zu viel für dich ist und du das alles erst einmal verdauen musst, aber wir müssen jetzt besonders wichtige Entscheidungen treffen, wie genau es jetzt mit dir und dieser Situation weitergehen soll", erklärte Jane North ihrem Sohn geduldig und mit leiser Stimme, woraufhin sie sanft sein Handgelenk packte und es mit ihrer warmen Hand umschloss:

      „Tarik, du bist der wichtigste Mensch auf der Welt für mich, ich möchte, dass es dir gut geht, okay? Hör mir zu, es gibt einen Ort, jenseits von hier, nicht einmal ich weiß genau, wo er sich befindet, aber dort bist du mit dem Mädchen in Sicherheit. Nur dort könnt ihr lernen, wie ihr der Welt helfen könnt. Nur an diesem Ort. Bitte unterbrich mich jetzt nicht", forderte sie leise und legte ihren Zeigefinger auf seinen Mund, wobei ihr Tränen über die Wange liefen, fast so, als würde sie bereuen, was sie als nächstes sagen würde: „Du wirst abgeholt Tarik. Ich kenne den Mann nicht und weiß auch nicht, wie er ist. Aber du musst ihm vertrauen und mir auch. Er wird dich und das Mädchen zu diesem versteckten Ort bringen und am besten wäre es, wenn du niemandem davon erzählst", erklärte sie dem Jungen und wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht.

      „Nicht einmal Alan darf es wissen?", flüsterte Tarik mit erstickter Stimme und blickte ungläubig drein, er konnte gerade einfach nicht so richtig verarbeiten, was seine Mutter da sagte. Das waren einfach viel zu viele neue Informationen auf einmal für ihn.

      „Nein, nicht einmal er darf es wissen. Es könnte dir sonst irgendwann zum Verhängnis werden, mein Junge. Ich möchte doch nur das Beste für dich, dass weißt du doch", sagte sie und umarmte ihn fest.

      "Was wirst du der Schule erzählen, Mum? Es würde doch sofort auffallen, wenn ich nicht mehr wiederkäme. Das würde sehr großen Ärger geben", vermutete Tarik nachdenklich und sein Blick war immer noch ziemlich zerstreut angesichts der Tatsache, dass nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.

      „Mum, was passiert denn dann mit dir? Was wird aus dir und dem Haus und vor allem aus Jake? Ich kann doch jetzt nicht einfach so abhauen und euch ganz euch selbst überlassen?", fragte Tarik nervös und offenbar zudem auch noch hin- und hergerissen, was wohl tatsächlich das Beste für ihn wäre, doch Jane packte ihren Sohn fest an den Schultern und blickte ihn mit ernsten Augen an:

      „Tarik, bitte mach es nicht noch schwerer für mich, als es sowieso schon ist! Du musst gehen, so weh es mir auch tut! Es ist nur für dein alleiniges Wohl!"

      „Mir ist mein Wohl aber egal! Es ist feige, sich zurückzuziehen, wenn es brenzlig wird!", giftete er seine Mutter an und seine Augen versprühten Funken, so energiegeladen war er gerade. Plötzlich ließ sich Ms. North auf sein Bett sinken und lächelte matt:

      „Habe ich dir schon einmal gesagt, wie ähnlich du deinem Vater eigentlich bist?", schmunzelte sie und zupfte am Gürtel ihrer Jeans herum, als wäre sie gerade komplett in den Erinnerungen längst vergangener Zeiten versunken.

      „Mum? Es tut mir leid, ich weiß halt einfach nicht, wie ich das verarbeiten soll."

      „Das verstehe ich doch, Tarik", meinte Jane liebevoll und zog ihren Sohn näher zu sich heran: „Wenn du gehst, ist es deine einzige Chance zu lernen, mit deinen außergewöhnlichen Fähigkeiten umzugehen. Bitte tu es einfach für mich und meinetwegen auch für deinen Jake", fügte sie milde lächelnd hinzu, als sie einen kurzen Blick

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