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Begründer der modernen klassischen Musik Armeniens und als Retter der armenischen Musik in letzter Stunde. Ohne sein Werk wäre das kulturelle Erbe Westarmeniens dem Genozid zum Opfer gefallen. Er war durch das Land gereist und hatte über 3.000 Volkslieder und liturgische Gesänge aufgezeichnet, die unwiederbringlich verloren gewesen wären. Daher sagt man, dass das armenische Volk in seinen Liedern seine Seele wiedergefunden hat.

      So identifizieren sich Millionen von Diaspora-Armeniern mit dem Lied Krunk, der traurigen Weise vom Kranich, der um Nachricht aus dem verlorenen Heimatland angefleht wird. Auch Komitas hatte das tragische Schicksal seines Volkes beim Genozid in exemplarischer Weise durchlitten. Trotz seiner Rettung aus der Deportation 1915 durch internationale Intervention stürzten ihn die Geschehnisse in vollkommene geistige Zerrüttung, von der er sich nie mehr erholen sollte. Bis zu seinem Tod 1935 vegetierte der „Vater der armenischen Musik" in einer psychiatrischen Klinik bei Paris.

      Zum Abschluss, bevor er uns zum Imbiss mit leckeren Früchten und Gebäckstückchen einlud, spielte Hakobyan zwei Lieder auf einem „besonderen“ Klavier. Es hatte einst als Geschenk des letzten Zaren Romanow an die belgische Königin den Weg nach Brüssel gefunden, war vor einigen Jahren aber bei ihm angekommen, ohne dass er zunächst den „herrschaftlichen“ Weg gekannt hatte.

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      Die „Kaskade“ war unser nächstes Ziel. Die marmorweiße Stiege mit mehreren künstlerisch gestalteten Terrassen verläuft im Norden von Jerewans Zentrum vom französischen Platz über 600 Stufen hinauf zum Siegespark oberhalb des Zentrums mit einer Aussichtsterrasse und einem riesigen Obelisken, der an den 50. sowjetisch-armenischen Jahrestag der Oktoberrevolution 1917 erinnern soll. Westlich der Kaskadenspitze befindet sich das Aznavour-Center, das neben einer Präsentation des Lebens und Werks von Charles Aznavour für Ausstellungen, Konferenzen und Konzerte genutzt wird. Es war 2017 im Beisein des französischen Präsidenten Emmanuel Macron and des armenischen Präsidenten Armen Sarkissian eröffnet worden.

      Der Platz zwischen der Oper und dem Fuß der monumentalen Stiege ist ein öffentlicher Skulpturenpark, der einer der beliebtesten Treffpunkte für Touristen und Einheimische ist. In der Grünanlage sind Skulpturen internationaler Bildhauer wie Fernando Botero, Tom Hill, Barry Flanagan und Joana Vasconcelos aufgestellt. Hier steht auch ein Denkmal zu Ehren Alexander Tamanjans, das ihn über einen Planungstisch gebeugt zeigt.

      Rund um den französischen Platz stehen Skulpturen, mit denen große Dichter, Musiker und Maler geehrt werden sollen. Neben Komitas sind dies der Maler Martiros Sarjan (1880-1972), der „König der Lieder“ Sayat Nova (1712-1795), der Schriftsteller William Saroyan (1908-1981) und der Komponist Aram Chatschaturjan (1903–1978). Letzterer erlangte Weltruhm mit seinem Klavierkonzert, dem Violinkonzert und dem Ballett Gayaneh, das sein bekanntestes Werk enthält, den Säbeltanz. Breite Bekanntheit erhielt der Säbeltanz durch den Film „Eins, Zwei, Drei“ von Billy Wilder von 1961, in dem Liselotte Pulver zu der Musik auf einem Tisch tanzend sowjetischen Agenten den Kopf verdreht, sowie in den 1970er Jahren durch die Verwendung in einer weit verbreiteten Fernsehwerbung für einen Kaffeelikör („Komm Brüderchen trink – Kosakenkaffee!“).

      In der kleinen Grünanlage rund um das Denkmal von Sarjan befindet sich ein ständiger Künstlermarkt. Hier werden vor allem Gemälde einer Jerewaner Künstlergruppe ausgestellt und zum Kauf angeboten. Nachdem wir längere Zeit durch die Freiluft-Galerie, in der mehrere Künstler Bilder sehr unterschiedlichen Stils anboten, geschlendert waren und zwei Mitreisende nach kurzer Verhandlung etwas gekauft hatten, spazierten wir vorbei am Nationaltheater zur Fußgängerzone im nördlichen Boulevard. An der Ecke zur Abovian-Straße ließen wir uns vor einem Restaurant zum Kaffee oder Bier nieder und genossen das Treiben am Nationalfeiertag.

      Samuel begann herumzutelefonieren, um den Verbleib unseres Gepäcks zu eruieren. Marinas Koffer war zwischenzeitlich in ihrem Hotel angeliefert, aber wieder mitgenommen worden, da sie versäumt hatte, ihre Verlustbestätigung an der Rezeption zu hinterlassen. Ich hatte meine zwar dagelassen, der Verbleib meines Koffers blieb jedoch weiter ungeklärt. Zumindest bis ich im Hotel zurück war. Dort stand er nämlich in der Gepäckecke bei der Rezeption, wo ich ihn zufällig fand. Der Rezeptionist wusste nämlich von nichts, obwohl er vermutlich den Koffer entgegengenommen hatte. (Bis zum Ende meines Aufenthaltes in Armenien konnte ich mich mehrfach davon überzeugen, dass armenische Rezeptionisten nicht in die Kategorie „Hellste Kerze auf der Torte“ fallen.) Immerhin konnte jetzt für mich alles gut werden.

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      Später trafen wir uns zum ersten gemeinsamen Abendessen mit armenischen Spezialitäten und musikalischer Begleitung. Jetzt lernten wir mit voller Wucht kennen, was armenische Küche kann und Bewirtung bedeutet. Denn bereits bei der Vorspeise wird der Tisch mit unzähligen Platten mit allerlei Köstlichkeiten überhäuft. Es werden viele verschiedene, überwiegend rohe Gemüsesorten, Kräuter, Käse, Wurst und Eingelegtes gereicht. Typisch für den Vorspeisengang sind die Kräuter, die roh gegessen werden: Petersilie, Basilikum, Minze, Dill, Lauch etc. Niemals fehlen dürfen Gurken und Tomaten, die herrlich schmackhaft und kaum vergleichbar sind mit dem, was wir unter diesem Namen kennen.

      Die Armenier essen gerne und viel, vor allem abends, denn dies ist der Zeitpunkt für die tägliche Hauptmahlzeit. Alle Gänge werden vom Hauptnahrungsmittel Lavasch, dem hauchdünnen, knusprigen Fladenbrot, begleitet, sind aber auch ohne Brot schon extrem reichhaltig und vielfältig. Es wird gerne gesehen, wenn man alles probiert, was für einen untrainierten deutschen Magen nicht einfach ist, auch wenn man sich nur kleinste Häppchen gönnt. Lavasch wurde übrigens 2014 von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt. Traditionell wird das hauchdünne Brot lediglich aus Mehl, Salz und Wasser bereitet und auf den heißen Flächen eines Backofens gebacken. Getrocknet hält es viele Monate.

      Und getrunken wird natürlich gerne und viel. Neben Fruchtsäften, dem vorzüglichen armenischen Mineralwasser und armenischen Weinen trinkt man viel Hochprozentiges während des Essens: meist selbstgebrannten Schnaps aus Aprikosen, Wacholder oder Maulbeeren mit besonders vielen Umdrehungen und natürlich Weinbrand. Weltberühmt ist der gerne auch als Cognac bezeichnete armenische Weinbrand, der seit 150 Jahren hergestellt wird. Das trockene und warme Klima, der nährstoffreiche Boden des Ararat-Tals, in dem die traditionellen Weinbaugebiete liegen, und das weiche Wasser aus den Bergen liefern hierfür günstige Voraussetzungen.

      Auch Churchill soll den beliebten Cognac namens Ararat geschätzt haben. Angeblich soll ihm Stalin jährlich 365 Flaschen nach London geschickt haben. Da der Begriff Cognac international geschützt und den französischen Weinbränden der entsprechenden Region vorbehalten ist, dürfen inzwischen nur die armenisch oder kyrillisch beschrifteten Flaschen noch diesen Namen tragen, sonst wird er als Armenischer Brandy bezeichnet. Eine Besichtigung der Ararat-Destillerie war für den folgenden Tag angesetzt.

      Ähnlich wie in Georgien kommt auch in Armenien dem Tamada eine besondere Rolle bei den Mahlzeiten zu. Er ist als Tischvorsitzender der Hausherr oder ein angesehener Mann, der für eine unterhaltsame Atmosphäre während der stundenlangen Mahlzeiten sorgt und immer wieder Trinksprüche auf die Gäste, die Frauen, die Liebe, die Gesundheit etc. ausbringt. Mit seinem Trinkspruch wird in der Regel eine Trinkrunde eingeleitet. In unserem Fall war Samuel der Tamada, der im Laufe des Abends zu unserer Erbauung auch die altbekannten Witze von Radio Eriwan zum Besten gab.

      Radio Eriwan war ein fiktiver Radiosender gewesen, der unter dem sozialistisch-kommunistischen Sowjetregime Zuhörerfragen beantwortete. Dahinter verbargen sich teils politische, teils unmoralische Witze, die die Lebensverhältnisse in den sozialistischen Ländern des 20. Jh. betrafen. Ihre Antworten begannen meist mit „Im Prinzip ja, aber ….“. Ein typischer Witz, den auch Samuel brachte, war: „Frage an Radio Eriwan: „Stimmt es, dass Adam und Eva das erste sozialistische Paar waren?“ „Im Prinzip ja, sie hatten keine Wohnung und nichts zu essen, aber sie lebten im Paradies.““

      Im Lokal waren vier Musikanten unterwegs, die in den verschiedenen Räumen aufspielten und auch uns zweimal beglückten. Neben der Zylindertrommel Dhol und der Duduk kamen die Stachelgeige Kamantsche (armenisch: Kjamanča) und die Kastenzither Kanun zum Einsatz. Die Kamantsche ist mit einem einfachen, runden Resonanzkörper aus Kürbis, Kokosnuss oder Holz und langem, dünnen Hals versehen und gehört daher in die Gruppe der Langhalsgefäßspießlauten. Sie wird

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