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      Die Wucht dieser Natur vitalisierte meine von den Berliner Stadtlandschaften betäubten Sinne so gründlich, dass ich süchtig wurde nach Sauerstoff und Grün. Ich wanderte durch die endlosen Wälder, begegnete so wenigen Menschen wie nie zuvor in meinem Leben und fühlte mich leicht und frei. Ich trank ohne zu zögern das Wasser aus den kleinen Bächen und Quellen, die ich aufspürte und verlor vorübergehend jeden Hunger. Wenn das Wetter es zuließ, schlief ich unter freiem Himmel in meiner Hängematte. Ich rauchte hin und wieder ein bisschen Gras aus meinen Berliner Beständen und überließ mich meiner gesteigerten Wahrnehmung. Anfangs schreckte ich noch hoch, wenn Holz knackte und Tiere raschelten, doch das legte sich bald, obwohl meine Sinne immer schärfer und klarer wurden. Und bald kam es mir vor, als sei dieses Leben mein eigentliches, mein für mich vorgesehenes. Ich war in jenem Sommer high, mit und ohne Gras. Ich vertrug es ja ohnehin nur in sehr kleinen Dosen, ein paar Krümel reichten mir meistens. Meine zehn Kilo Übergewicht schmolzen dahin wie hartnäckiger Schnee in der Frühlingssonne. Dieser Sommer war die glücklichste Zeit meines Lebens gewesen.

      Ich kramte mein Fernglas, ein kleines leichtes Swarovski, vom Rücksitz und visierte den Schiefen Zahn an. Ich nannte ihn so, offiziell hatte er gar keinen Namen. Dazu war er wohl zu klein und unbedeutend, obwohl seine Erscheinung sehr imposant war. Er sah noch so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Manchmal kam es zu größeren Abbrüchen bei solch exponierten Felsen, manche brachen über die Jahre einfach zusammen, aber der Schiefe Zahn stand unversehrt da, wie damals. Von hier sah er aus, als würde er freistehen, aber er war mit einem sehr soliden Nacken mit dem Massiv fest verbunden. Er war an die dreißig Meter hoch und oben zu einem Plateau abgeflacht, auf dem ein paar unverwüstliche Bäume es geschafft hatten, Wurzeln zu schlagen. Sie müssten inzwischen zu zähen, trotzigen Pflanzen herangewachsen sein. Ich konnte es kaum erwarten, dorthin zurück zu kehren.

      Ich spürte mein Fieber. Es war jetzt am Glimmen, eigentlich schon am Brennen und das kam auch von dem Streit mit Alice, der mir in den Knochen steckte. Ich wollte dennoch die Nacht dort oben verbringen. Die Nächte hier draußen hatten mich auch damals geheilt. Ich hatte auch damals Fieber gehabt, mitten im Sommer, so wie jetzt, und es war über Nacht verschwunden. Alles würde sich fügen, alles würde sich gut entwickeln, alles war gut. Alice war bei ihrer Familie, ich würde morgen im Flieger sitzen und mich in der Business-Class bedienen lassen. Ich trank eine der drei Wasserflaschen leer, die ich mitgenommen hatte und nahm zwei Ibuprofen. Doch plötzlich zweifelte ich, ob ich wirklich zum Schiefen Zahn fahren oder nicht doch besser umkehren sollte. Und ich hätte jetzt gerne ein bisschen Gras geraucht. Es war ewig her, dass ich was geraucht hatte.

      Berlin und Mirko kamen mir in den Sinn. Als ich mit dreizehn anfing mitzukiffen, haute es mich jedes Mal von den Füßen. »Hey Alter, das ist wohl nichts für dich. Probier besser was anderes«, sagte Mirko, mein Kumpel mit dem Händchen fürs Dealen, als sie mir die Beine hatten hochlegen müssen, damit ich nicht ohnmächtig wurde. »Hey Alter, nimm mal was Lustiges«, sagte Mirko beim nächsten Mal. Angeblich war das Ecstasy. Das sei total smooth, hatte Mirko mit der Miene des Apothekers hinzugefügt. Aber das war alles andere als smooth, doch das Herzrasen, die Panikattacken und üblen Phantasien, die ich dann erlebte, waren reine Hysterie, der perfekte Placebo-Effekt, wie sich herausstellte. Mirko hatte sich schlapp gelacht. »Hey Alter, wie es dich schon beim Kiffen umhaut, glaubst du, ich kann mir ‘ne Leiche leisten? Das war Zucker, Mann. Hast du’s gut, Mann. Gehst schon ab auf Zucker! Nimm besser gar nix, Mann!«

      Ich fand das gar nicht lustig und prügelte mich mit Mirko, nicht wirklich, eher so wie Wrestling. Wir spielten oft Wrestling. »Pass auf, Mirko, wenn du mein Freund sein willst«, forderte ich ihn heraus – und Mirko wollte mein Freund sein – »dann besorg mir mal gutes Gras. Ich bau mir dann lieber selbst was.«»Ist ja schon gut Mann, geht klar, Mann. Du bist mein Freund, Mann.«

      Ich rauchte nun meistens alleine (mit Mirko nur aus quasi geschäftlicher Verpflichtung) und tüftelte an der richtigen Dosis. Dabei begriff ich schnell, dass ich nur ganz wenig davon brauchte. Das leichte High ließ mich Liebe für die Bedürfnisse eines Korkenziehers nach einem Korken empfinden, so sanft waren meine Trips. Sie beseelten die Dinge, zerlegten sie aber nicht in surreale Bestandteile. Im Gegenteil. Ich erwachte in dieser Zeit auf sanftem Gras. Mein Sex erwachte, alles erwachte. Mein Selbstwertgefühl, meine Intelligenz, meine Ausstrahlung. Ich entdeckte Zusammenhänge zwischen den Dingen und meine Verbindung mit diesen Dingen, wie ich sie wahrnahm, mit und ohne Dope. Mit war mir meistens lieber, wenn auch nicht immer. Manchmal war es sehr cool, ein paar Tage lang völlig clean zu sein, aber meistens war es andersrum besser. Es war eine Kunst, die andere Frequenz, auf die es mich brachte, mit dem richtigen Material und der richtigen Dosis zu erreichen. Ich fing an, mich wissenschaftlich mit Cannabis zu beschäftigen. Die beste Art, damit zu experimentieren, war, es selbst anzubauen, nicht zuletzt auch, um von Mirko nicht länger abhängig zu sein. Er war mein Freund und deshalb war es schlecht, wenn er mein Dealer war. Aber das Beste war, dass Sabine und Thomas keine Einwände hatten. Sie waren für die Legalisierung, verehrten Bob Marley und lasen die Artikel von Wolfgang Neskovic, dem Lübecker Richter, über die gesellschaftlichen Schäden, die die Kriminalisierung von Cannabis anrichtete. Sie plädierten für Coffee-Shops wie in Holland. Wo ich auch die Samen bestellte. Die beiden rauchten selbst, häufiger als sie zugaben, jedenfalls Sabine. Sie versuchte, es zu verschleiern und wollte mir weismachen, dass sie nur manchmal bei Sessions kiffte. Sessions, das waren nach Sabines Definition Partys, bei denen es um echte Freundschaften ging und nicht ums Abhängen, Anmachen und Abschleppen. Sie war in diesen Dingen sehr offen zu mir, auch Thomas gab sich offen bei der Aufklärung. Als ich Kind war, so richtig Kind, mit eigenem unkontrolliertem Kopf und unbändiger Kraft, hatten sie viele FKK-Urlaube auf Sylt mit mir verbracht und mir gepredigt, ich solle mich wohlfühlen im Gotteshemd, wie Thomas das nannte. Als ich mit zwölf befürchtete, ich habe eine Phimose, hatte Thomas mir meine Befürchtungen genommen, indem er mir sein Exemplar vorführte bis zur Erektion und ich erkannte, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. Wir begegneten uns in dieser Zeit, als ich mich in einen Mann verwandelte, öfter als früher nackt im Haus, zufällig, wie es schien. Nackt waren wir immer schon im Obergeschoss herumgelaufen, wo die Schlafzimmer und das Bad waren, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass Sabine auch unten in der Wohnung nackt rumgelaufen war, was jetzt öfter vorkam. Und wenn die beiden Sex hatten, ließen sie bisweilen scheinbar zufällig die Tür auf, bis ich mich genötigt sah, ihnen zu sagen, dass es mich störe. Ich wollte keinesfalls in den Sex von Sabine und Thomas reingezogen werden, psychisch versteht sich, denn sie zogen mich in ziemlich viel rein. Ihr Glaube, es wäre gut für mich, wenn sie möglichst viele ihrer Themen (meistens waren es Probleme) mit mir teilten, war so fest und unerschütterlich wie der Glaube tüchtiger Protestanten an den Segen unermüdlicher Arbeit. We want to share it with you, wollte Sabine es mir sogar auf Englisch schmackhaft machen. Sie sprach gerne und häufig Englisch mit mir und das törnte mich immer ziemlich an. Aber dass sie beide viel häufiger kifften, als sie zugeben wollten und darüber überhaupt nicht mit mir redeten, störte mich. Im Haus rauchten sie nicht, das war klar, aber im Gartenschuppen, aus dem der markante Duft dann durchs gekippte Badezimmerfenster reinzog.

      Als meine ersten Pflanzen reif waren, lud ich sie deshalb zu einem Joint ein. Es war Zeit für ein Sharing. Aber die beiden heuchelten mir was vor, angeblich müssten sie gleich los zu irgendwelchen Terminen und bevor sie abrauschten, wiesen sie mich an, doch auch besser im Gartenschuppen und nicht im Haus zu rauchen. Ich hielt mich dran, fand dort aber keinerlei Spuren von den beiden, nicht mal einen Aschenbecher, obwohl Sabine ja auch Selbstgedrehte rauchte. Meine Pflanzen in meinem Zimmer am großen Fenster zum Garten hin gediehen prächtig. Manchmal stellte ich sie in den Wintergarten, wo sie noch prächtiger gediehen. Doch als sich der intensive Geruch, den diese wundervollen Pflanzen im ganzen Haus verströmten, nicht mehr mit Salbei und Orangenduft wegräuchern ließ, kamen den verbeamteten Lehrern Sabine und Thomas dann doch Bedenken. Sie beschlossen, dass ich die Pflanzen besser auf den Dachboden ans geöffnete Giebelfenster stellen sollte. Dort war es eigentlich zu dunkel, aber was wollte ich machen.

      Ich erledigte das an einem Nachmittag mit Sabine, Thomas war noch unterwegs. Als wir alle Pflanzen oben hatten, fing sie an, mit mir zu flirten. Meine geschärften Sinne für Zusammenhänge machten mir das schnell klar. Aber vielleicht war Flirten ja auch Erziehungsarbeit. Also versuchte ich, ihr zuzuhören, was mir eine nicht unerhebliche

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