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Ihr Blick glitt durch die Menge und sie erkannte Lilly und Jakob, die sich zu ihr umdrehten und sie herwinkten. Sie ging einige Reihen nach unten und zwängte sich zum Unbehagen zweier Studentinnen durch die Reihen. Wieso setzt man sich auch ganz nach außen, wenn daneben noch ein halbes Dutzend Plätze frei sind?! Dann gesellte sich Natalie zu ihren beiden Freunden.

      „Da bist du endlich. Ich hatte schon gewettet, dass du verpennst“, scherzte Lilly und nahm ihre Jacke vom Nachbarstuhl, sodass Natalie sich setzen konnte.

      „Und die Wette habe ich gewonnen! Nun schuldest du mir einen Muffin, Lilly, aber mit einem Kaffee wäre ich auch zufrieden“, lachte Jakob und nickte Natalie zur Begrüßung zu. Die beiden kannten Jakob seit ihrem ersten Tag. Sie hatten sich alle drei bei der Einführungswoche kennengelernt – einer Woche, die für die Erstsemester veranstaltet wurde, um sich untereinander, ihre Dozenten, die Hochschule und den Campus kennenzulernen. Für Jakob war es bereits die dritte Einführungswoche gewesen. Anfangs hatte er Mathematik und Kunst studiert, da beide Fächer einen niedrigen NC hatten und er trotz seines Abiturschnitts von 3,2 studieren wollte. In Mathematik fiel er durch die Klausuren im ersten und zweiten Semester jeweils zweimal durch und weil er keine Lust auf einen Drittversuch hatte, entschied er sich, ein Jahr später von Mathe zu Sport zu wechseln. Wieder ein Jahr später wechselte er von Kunst zu Germanistik. Nicht, weil er schlecht zeichnen konnte, sondern weil er keine Lust hatte, zu jedem seiner Bilder eine zehnseitige Ausarbeitung darüber zu schreiben, was er beim Planen, Malen und Betrachten seines Kunstwerkes gefühlt hatte. Seine Kommilitoninnen sogen sich vieles aus den Fingern und dichteten unzählige Emotionen rein und so etwas wollte er nicht. Er hatte Spaß beim Malen und Verwirklichen seiner Ideen gehabt, aber das konnte er niemals auf zehn Seiten strecken – höchstens mit Schriftgröße Zweiundsiebzig und doppeltem Zeilenabstand.

      „Na, hast du Bock?“, fragte Jakob und grinste frech. Natalie kannte seine Einstellung zum Studium.

      „Tatsächlich habe ich Bock …“, antworte sie und lächelte zurück. „Und wie ist es bei dir? Bist du froh, dass das Semester wieder startet?“

      „Bin ich!“ Sie war überrascht. „Dieses Semester steht in Sport Segeln auf dem Programm. Ich werde für mein Hobby benotet und es muss am Ende keine Hausarbeit oder Klausur geschrieben werden. Nur ein kleiner Test zur Theorie und das packe ich locker.“

      „Das klingt super! Habe dich noch nie so motiviert erlebt.“

      Wenn Natalie die Gutmütige und Lilly die Intelligente in der Runde waren, dann war Jakob der Klassenclown. Warum er nicht direkt von Anfang an Sport studiert hatte, war ihr immer ein Rätsel gewesen. In seiner Freizeit übte er viele Sportarten aus und hatte mit seiner Größe von knapp zwei Metern und seinem breiten Kreuz eine sehr athletische Statur. Nur, dass das Sportstudium auch viel mit Theorie zu tun hatte, viel gelesen werden musste und jedes Semester mehrere Tests anstanden, schien bisher allerdings kein Problem zu sein. Naja, warten wir es mal ab. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren sollte er nicht noch einen Fächerwechsel durchmachen.

      „Ja, Segeln wird super! Das war es denn aber auch schon. Den Rest des Semesters muss ich halt ertragen, aber dafür habe ich ja euch, ha!“ Er stieß mit der Hand gegen Lillys Schulter und lachte. „Und wenn ich weiterhin so gut wette, dann kriege ich immerhin jeden Tag frischen Kaffee.“

      „Mit dir wette ich nicht mehr, ätsch“, konterte Lilly und holte aus ihrem Rucksack einen Collegeblock, einen Kugelschreiber, einen Bleistift und Marker in diversen Farben.

      „Allzeit bereit …“, dachten sich die beiden anderen und schüttelten ihren Kopf.

      Sie tauschten sich noch über ihren Stundenplan aus, verglichen ihre Kurse und schließlich folgte der übliche Klatsch und Tratsch. Wer mit wem, Jakobs Trinkallüren, Gott und die Welt und diverse Geschichten über Familie und Freunde aus der Heimat. Schließlich hatten die beiden Jakob eine Weile nicht gesehen und dass der Dozent bereits fünf Minuten zu spät war, wurde ausgenutzt.

      „… und dann haben wir die Rechnung erhalten und irgendwie hatte jeder sieben Gin getrunken – und dabei wollten wir einfach nur einen Happen essen gehen. Zack! Fünfundsechzig Euro weg und für die nächsten Wochen gab es für mich nur noch Reis mit Ketchup und Kräuterbaguette mit paar Scheiben Gouda überbacken!“

      Natalie und Lilly warfen sich einen vielsagenden Blick zu. „Du alter Pleitegeier! Erinnerst du dich noch an letztes Semester? Du hast so viel gearbeitet, dass wir dich kaum zu Gesicht bekommen haben. Jetzt wissen wir auch, warum“, grinste ihn Natalie an. „Teil dir dein Geld mal klüger ein.“ Aber das Problem mit den Geldsorgen kannten sie auch. Mittlerweile waren sie Expertinnen darin, mit einem kleinen Budget auszukommen. Große Portionen vorkochen, mehrere Tage davon essen und zur Not die Reste einfrieren. Nichts wurde unnötig weggeworfen.

      „Ja, du hast ja recht“, seufzte Jakob. „Mittlerweile habe ich meine Ausgaben wieder im Griff.“ Er lachte.

      „Habt ihr eigentlich Felix und Sandy gesehen? Müssten die nicht auch hier sein?“, fragte Lilly.

      „Also von Felix weiß ich, dass er dieses Semester ein anderes Modul belegen wollte. Von Sandy weiß ich nichts. Habe sie ewig nicht mehr gesehen oder mit ihr gesprochen“, erwiderte Jakob und Natalie nickte. Sie hatte auch seit langem keinen aktiven Kontakt mehr.

      Ein Mann im Sakko und Laptoptasche stapfte die Treppen zum Rednerpult herunter. Unverkennbar schien er der Dozent zu sein – Prof. Dr. Kurt Lempertz. Den Namen Kurt würde man nur mit älteren Leuten assoziieren, aber Natalie hätte ihn eher auf Mitte Dreißig geschätzt. Zumindest war noch kein graues Haar zu entdecken, aber die Geheimratsecken zeigten sich in seinen kurzen, schwarzen Haaren. Professor Lempertz legte seinen Laptop auf das Pult, klappte ihn auf und steckte ein HDMI Kabel an die Seite. Es dauerte einen Moment und dann war sein Desktop auf der Leinwand zu sehen. Er öffnete seine PowerPoint-Präsentation. Das Wort Rituale stand über einem Bild, das fast die ganze Leinwand bedeckte und eine Gruppe von Kindern mit Schultüten zeigte. Ins Auge fiel sofort der Junge in der Mitte. Er trug eine Schultüte in Form eines Dinos und die Tüte war locker einige Zentimeter größer als er. Sein Gesichtsausdruck war angestrengt, wahrscheinlich durch das Gewicht seines neuen Dino-Freundes, aber unheimlich fröhlich zugleich. Ob die Einschulung der Grund der Fröhlichkeit war oder er später einfach nur die riesige Schultüte auspacken wollte, konnte man nicht sagen.

      „Guten Morgen, ich begrüße sie alle ganz herzlich zu meiner Veranstaltung Rituale in der Kindertagesstätte und Grundschule. Mein Name ist Professor Kurt Lempertz“, sagte er in einem erfrischend fröhlichen Ton. „Schauen Sie sich bitte das Bild an. Beschreiben Sie bitte, was sie sehen.“

      ***

      Den größten Teil der Vorlesung wurde über das Bild geredet. Es lief zunächst auf das Thema soziale Ungleichheit hinaus. Prof. Dr. Kurt Lempertz rief die nächste Folie auf, auf der die Studierenden einer Statistik entnehmen konnten, dass Eltern im Schnitt etwa fünfzig Euro für die Schultüten samt Inhalt ausgeben. Es wurden Erfahrungsberichte gezeigt, die die Inhalte von Schultüten auflisteten: Süßigkeiten führten die Liste an, gefolgt von Schulsachen, Spielzeug und Kuscheltieren. Einige Eltern setzten noch einen drauf. Gutscheine für Media Markt oder Saturn und sogar das neuste iPhone.

      „Bah, immer diese reichen Blagen. Einige Eltern werfen echt mit Geld um sich“, beschwerte sich Jakob.

      Natalie erinnerte sich an ihre Schultüte. „Meine Mama hat meine Schultüte selbst gebastelt und sie hat Malkreide, Lakritze, ein Pixie-Buch und ein Teddy-Schlüsselanhänger hineingetan, aber doch kein Handy!“ Die drei lachten laut.

      Und so wurde eine Diskussion entfacht, ob man den Eltern einen preislichen Rahmen vorgeben sollte. Nach einer hitzigen Debatte, die keinerlei Ergebnisse erzielte, machte Professor Lempertz weiter und listete einige Rituale in der Grundschule auf. Der Morgenkreis und der Erzählstein, um nur einige zu nennen. Anschließend war die erste Veranstaltung des neuen Semesters zu Ende.

      Natalie blickte auf ihre Notizen und musste sich eingestehen, dass sie nur im Mittelfeld lag. Jakob hatte lediglich den Namen der Veranstaltung aufgeschrieben, weiter nichts. Den Großteil der Zeit verbrachte er mit seinem

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