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und das verletzte sie sehr. Ihr waren die Kinder natürlich nicht egal, nur das Geld war einfach nicht da. Darum ging sie kaum feiern oder ins Kino. Es ging einfach nicht und sie wollte ihren Eltern nicht auf der Tasche liegen. Mit 23 Jahren wollte sie Selbstständigkeit beweisen und autark sein.

      Sie erreichten den Südermarkt und stoppten kurz vor der Kirche. Vor ein paar Monaten hatten die Flensburger einen kleinen Schrein mit Kerzen, Fotos, Karten, Blumen und Kuscheltieren für Juliane Harms errichtet. Sie war im letzten Herbst ermordet worden. Ihre Leiche wurde vom Schäferhund eines Försters in einem Waldstück an der deutsch-dänischen Grenze gefunden. Mit Würgemalen um ihren Hals. Tod durch Strangulation. Den Täter hatte man bisher nicht gefunden. Die Polizei tappte im Dunkeln und bat die Bevölkerung um Informationen. Hat irgendjemand etwas gesehen oder gehört? Niemand. Gar niemand. Julianes beste Freundin Caro gab an, dass sie sich auf einer Party hatten treffen wollen, aber dort war Juliane nie angekommen. Bis zum nächsten Morgen hatte sich niemanden gewundert, da Juliane einen Ruf als unzuverlässige Person gehabt hatte. Als jemand, die gerne einfach mal auf dem Sofa einschlief und das Handy überhörte. Nachdem sie auch im Laufe des nächsten Tages nichts von ihr gehört hatte, war Caro zur Wohnung von Juliane gefahren, aber da war niemand. Anschließend war Caro besorgt zur Polizei gegangen und wollte ihre beste Freundin als vermisst melden, jedoch war Julianes Leiche zu dem Zeitpunkt bereits gefunden worden.

      Die Zeitungen und Nachrichten hatten sich mit der Geschichte überschlagen. Ganze zwei Wochen hatte es kein anderes Thema in den Lokalnachrichten gegeben. Schließlich war das Thema von den Titelseiten in die hinteren Rubriken gewandert und nach nicht einmal zwei weiteren Wochen war es komplett verschwunden. Als hätte es den Mord und Juliane nie gegeben. Genauso war es mit dem Schrein vor der Kirche. Er war mittlerweile verwunden, nur einige Wachsreste zwischen den Kopfsteinen zeugten noch von diesem traurigen Ereignis.

      Natalie hatte sie nicht gekannt. Zwar studierten sie beide das gleiche Fach, aber Juliane war zwei, oder doch vier, Semester weiter als sie gewesen und auch waren sie sich nie über den Weg gelaufen. Weder auf dem Campus noch in der Bibliothek noch in der Innenstadt. Und falls doch, dann konnte sie sich nicht daran erinnern. Die Geschichte ging ihr aber nahe. Ein junges Leben ausgelöscht – und für was? Was war das Motiv für eine solche Gräueltat und wer war in der Lage, so etwas zu tun? Und könnte so etwas wieder geschehen? Der Mörder war schließlich noch auf freiem Fuß. Ein leichter Schauer lief ihr über den Rücken.

      „Hey, alles okay mit dir?“, Lilly griff nach ihrer Hand und Natalie zuckte zusammen.

      „Ja, alles in Ordnung“, sagte sie benommen. Lilly wusste, woran sie dachte. Ihr Blick war auf den Platz gerichtet, an dem der Schrein stand. Sie wollte nicht drüber reden. Beide nicht.

      „So, wir müssen jetzt ins Einkaufzentrum. Ich will meine Ordner!“, grinste Lilly und Natalie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

      „Danach können wir noch ein paar Lebensmittel kaufen. Ich hätte heute Abend Lust auf Quiche mit ein bisschen Lachs und Spinat, aber mit den Einkäufen fahren wir mit dem Bus zurück“, schlug Natalie vor.

      „Oh ja, super gerne! Aber wenn du faule Socke Bus fahren willst, dann stellst du dich heute Abend in die Küche und kochst mal für mich.“ Lilly lachte.

      „Deal!“

      ***

      Beide kauften ausreichend Materialien für ihr Studium ein. Bei Rewe holten sie die Zutaten für die Quiche und machten sie auf den Heimweg. Sie mussten knapp fünf Minuten auf den Bus warten und waren über ihre Entscheidung froh, denn der Himmel hatte sich inzwischen zugezogen und es nieselte anfangs leicht und schlug kurze Zeit später in einen Schauer um. Sie brachten die Einkäufe nach Hause und Lilly machte in ihrem Regal Platz für die neuen Ordner und erstellte bereits die Label für die neuen Kurse. Natalie stand in der Küche und stellte die Auflaufform mit der Quiche in den Backofen.

      Montag würde das neue Semester beginnen. Sie freute sich bereits!

       5

      Der zweite Bus war brechend voll. Natalie konnte sich gerade noch durch die hinterste Tür ins Trockene zwängen. Andere mussten stirnrunzelnd und kopfschüttelnd auf den nächsten Bus warten. Die Linie 7 von ihrer Wohnung zum ZOB war relativ leer. Nur einige ältere Leute, die in die Innenstadt wollen, und Schulkinder, deren weiterführende Schule in einem anderen Stadtteil lag. Aber die Linien 4 und 5 zum Campus hoch waren so wie heute auch immer überfüllt. Vor allem diejenigen, die Punkt acht oder zehn Uhr beim Campus ankommen würden, passend zum Beginn der Veranstaltungen. Und in genau so einem Bus befand sie sich gerade. Lilly war bereits wegen ihrer Veranstaltung um acht Uhr früher gefahren. Bei Natalie stand als Erstes die Pädagogikvorlesung um zehn Uhr auf dem Programm – Rituale in der Kindertagesstätte und der Grundschule.

      Der Busfahrer hatte Probleme die Türen zu schließen, denn immer wieder stand jemand in der Lichtschranke und die Türen öffneten sich. Nach dem dritten Anlauf war der Bus endlich startbereit, und fuhr mit brummendem Motor los.

      „Vorsicht, heee …“, mehr brachte sie nicht heraus, denn prompt wurde ihr ein Rucksack ins Gesicht gedrückt. Sie hasste es, zu dieser Zeit Bus zu fahren und hätte lieber das Fahrrad genommen. Immerhin waren es nicht mal vier Kilometer von ihrer Wohnung bis zum Campus. Es regnete allerdings in Strömen, ein typisches Montagmorgenwetter, weshalb sie sich heute Morgen für den Bus entschieden hatte und diese Entschuldung nun bereute. Sofern niemand auf den Stop-Knopf drückte und aussteigen wollte, fuhr der Busfahrer an allen weiteren Haltestellen vorbei und sie konnte die entsetzten Gesicht derer sehen, die noch länger dem Regen ohne Schutz ausgeliefert waren. Sie näherten sich dem Bahnhof. Hier war der Weg war nicht asphaltiert, sondern mit Kopfstein gepflastert. Heftige Vibrationen gingen durch den Bus und diejenigen, die keine Möglichkeit zum Festhalten gefunden hatten, vertrauten darauf, dass die Personen um sie herum sie abfedern würden, sollten sie ihr Gleichgewicht verlieren.

      Der Bus erreichte den Bahnhof und Natalie hörte einige ältere Leute schimpfen, da ihnen niemand beim Aussteigen Platz machte. Einige Glückliche konnten den frei geworden Raum ausnutzen und zusteigen, dann schlossen sich die Türen wieder und der Bus setzte sich in Richtung Campus in Bewegung. Keine fünf Minuten später öffneten sich die Türen vor dem Hörsaalzentrum der Hochschule. Natalie stieg aus und schnappte erst einmal nach Luft. Der Regen war einem feinen Nieselregen gewichen. Schietwetter! Natalie hastete los, um noch einen Sitzplatz zu ergattern. Während jeder Studierende zwei Fächer frei wählen konnte, oder in Lillys Fall noch einige zusätzliche aus Interesse, waren die Module in Pädagogik für jeden verpflichtend. Und wenn jeder in die gleiche Vorlesung musste, dann wurde es vor allem eins – voll!

      Das Audimax war der größte Raum auf dem Campus und umfasste etwa vierhundert Sitzplätze. Verglichen mit anderen Hochschulen war dies recht klein, doch an der Hochschule reichte es aus. Meistens zumindest. Im Hörsaalzentrum befanden sich noch zwei kleine Hörsäle, die jeweils Platz für hundertfünfzig Studierende boten, aber dort hatte sie noch nie Veranstaltungen gehabt. Oft wurden sie von den Naturwissenschaften genutzt und sie wusste von Lilly, dass in den ersten Semestern die Vorlesungen in Mathematik darin stattfanden.

      Sie ging durch die Haupttüren ins Gebäude und bog nach rechts zum Audimax ab. Das Foyer war riesig und die Deckenhöhe schätzte sie auf über zehn Meter, wie in einer Kirche. Ähnlich war auch die Akustik. Das Hallen ihrer Schritte wurde verstärkt und klang bis zum anderen Ende. Ebenso die Stimmen der gefühlt hundert Personen, die noch vor dem Audimax standen und sich unterhielten. Sie zwängte sich durch die Menge hindurch und betrat den Hörsaal. Eine lange Treppe führte runter zum Pult und der riesigen Leinwand. Der Raum war aufgebaut wie eine Herzmuschel. Einige Meter hinter dem Rednerpult war der Raum zu Ende und mündete in zwei schmale, aber unglaublich hohe Fenster. In der ersten Sitzreihe waren neun Sitzplätze, dann eine Treppe, dann weitere neun Sitzplätze. Alle in einem Bogen zum Pult angeordnet. Insgesamt waren es dreizehn Sitzreihen und bei jeder Reihe kam auf beiden Seiten je ein Sitzplatz dazu. Das klang wie eine Matheaufgabe. Ob Lilly die Anzahl an Sitzplätzen mal ausgerechnet hatte? Bestimmt! Sie grinste.

      Der Raum war schon recht voll, obwohl die Vorlesung erst in zehn Minuten beginnen würde. Oft waren es die Raucher oder Kaffeejunkies,

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