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und es faszinierte mich, wie selbstverständlich die Inder mit dem allgegenwärtigen Tod umgingen. Auf den Ufertreppen der Gahts saßen heilige Saddhus und asketische Fakire. Die faszinierendsten und fotogensten Inder waren für mich die Sadhus. Die in Askese lebenden Männer widmeten ihr Dasein ausschließlich dem Streben nach Erleuchtung. Die Anhänger Shivas entsagten dem weltlichen Leben, sie pilgerten auf ständiger Wanderschaft mit dem Ziel nach göttlicher Erlösung, ohne Wiedergeburt. Sadhus trugen oft drei waagerechte Streifen auf der Stirn, andere waren von Kopf bis Fuß mit Asche eingerieben. Einer konnte sämtliche Eingeweide in seinen Oberkörper pressen, der sich wölbte wie der Vorbau eines Busenwunders. Dort wo sich sonst die Eingeweide befanden, hing nun ein schlaffer Hautsack. Tagelang konnten die Sadhus oder Fakire regungslos auf einem Bein stehen. Plötzlich sah ich am Flussufer nur Köpfe aus der Erde ragen. In tiefen Erdlöchern harrten dort Männer in wochenlanger Meditation aus. Ich bewunderte nackte Fakire die auf Glasscherben lagen, Sadhus, die ihre Wangen mit Speeren durchstießen oder ihre Zungen durchbohrten, und ich bestaunte körperlich verrenkte Menschen, die nicht mehr menschlich aussahen. Yoga für Zauberer.

      Das Gassenlabyrinth der Altstadt hinter den Ghats machte den Eindruck, als stünde es kurz vor dem Zerfall. Alles bröckelte vor sich hin, nichts wurde restauriert und jede Straße wirkte wie im tiefsten Mittelalter. Es grenzte an Wunder, nicht von herabstürzenden Hausfassaden, zierlichen Statuen oder Mauerverzierungen getroffen zu werden. Die Kanalisation floss über offene Kanäle die Gassen entlang, es stank bestialisch nach Pisse und Exkrementen. Überall saßen Inder in Hockstellung über den Kanälen und erledigten ungestört

       Pilger an den Ghats (oben) und eine Bootsfahrt auf dem Ganges

      ihre Notdurft. In den Gassen vegetierten Leprakranke mit entstellten Gesichtern, ohne Nasen, Hände oder Füße, Menschen mit monströsen Elefantenbeinen hielten stumm die Hand auf. Ich taumelte am Rande der Hölle. Frauen streckten mir ihre Babys zum kaufen entgegen, verkrüppelte Kinder zerrten an meiner Kleidung und Blinde bettelten um Almosen. Das indische Kleingeld wurde in quadratische, achteckige oder sternförmige Münzen aus verschiedenen Metallen geprägt, so dass Analphabeten ihren Wert erkannten. Uns wurde geraten nie mehr als diese Münzen an Bettler zu verteilen, weil man sie sonst nicht mehr los wurde.

      Von herabhängenden Stromleitungen schwangen sich Paviane von Haus zu Haus. Sie sprangen vor mir auf die Straße und rissen zornig an meiner Tasche, weil ich nichts Essbares verteilte. Nach einem Tag fühlte ich mich von Eindrücken erschlagen, 1000 Bilder in 1/1000 Sekunde.

      Die Stadt war überfrachtet mit Motiven, das Ghatviertel ein eigener Planet, das Leben tobte in einem Fremdkosmos. Soviel Armut, Elend, Leid und Tod konnte ich nicht aufnehmen, ich wurde überfordert im Sehen und Verarbeiten. Seit jeher rebellierte mein Schamgefühl, voyeuristisch mit der Kamera draufzuhalten um reißerische Fotos zu machen. Das hielt ich für pietätlos, da sträubte sich etwas in mir. Am Abend waren auch Arnulf und Ilse sprachlos. Jeder stierte vor sich hin und bekam die Bilder dieser Parallelwelt nicht aus dem Kopf. Niemand der dieses Leben nicht mit eigenen Augen erlebte, wird sich auch nur annähernd vorstellen können was dort abging. Diese Bilder hinterließen Reliefabdrücke in meiner Erinnerung. Sie machten aus mir eine Berührbare! Indien ist nichts für schwache Gemüter, aber Indien faszinierte mich. Indien ist Himmel und Hölle, anziehend und abstoßend, lärmend und göttlich zugleich.

      Mein motivbeschränkter Blick von zuhause bekam hier die Möglichkeit in eine fremde Welt einzutauchen und Exotisches aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Fotografie und Reisen lagen für mich auf der gleichen Visierlinie, diese Kombination übte einen besonderen Reiz aus. Ich stellte fest, dass Reisen die effektivste Schule für die Weiterentwicklung meiner Persönlichkeit war – von der visuellen Wahrnehmung ganz abgesehen.

      Von Kathmandu nach Goa

      Das weihnachtliche Treffen mit Ralf in Kathmandu gestaltete sich als Wendepunkt unserer gemeinsamen Reise. Nach fünfmonatigem Zusammensein nahmen Arnulf, Ilse und ich tränenreich Abschied voneinander. Am Neujahrsmorgen trennten sich unsere Wege friedlich. Arnulf schrieb einen langen Brief nach hause und erklärte, dass er mich mit Ralf ruhigen Gewissens ziehen lassen kann. Arnulf und Ilse wollten danach Südindien Kerala und Trivandrum bereisen und später mit dem Bully nach Mombasa/Kenia übersetzen, um von dort das südliche Afrika zu bereisen.

      Leider erholte sich der arme Sid nicht von seinen Darmproblemen. Er hatte so viel Gewicht verloren, dass Ralf beschloss nach Deutschland zurück zu fahren, um seinen Sid zu retten. Kein Tierarzt in Indien konnte dem Hund helfen. Ralf setzte mich in Neu Delhi ab. Nun war ich auf mich alleine gestellt. Als erster Gedanke sauste mir durch den Kopf - wenn das meine Eltern wüssten!

      In Neu Delhi lernte ich den indischen Stoffhändler Harisch kennen und durch ihn Margot und James, ein schwedisch-indisches Paar. Margot designte Kleidung für den europäischen Markt und ließ die Sachen in Delhi schneidern. James flog regelmäßig nach Frankfurt, um ihre Entwürfe an diverse Boutiquen zu verkaufen. Da James am nächsten Tag nach Frankfurt reiste, vertraute ich ihm ein Päckchen mit allen Diafilmen unserer Reise an, auch die von Arnulf. In tropischen Ländern reagierten Positivfilme empfindlich, sie sollten nach dem Belichten schnell entwickelt werden. Als Travellerin geizte ich mit Gewicht, nun hatte ich ein Teil weniger im Rucksack. Von Delhi aus reiste ich alleine mit Bahn und Bus weiter. Mein Ziel war die ehemalige portugiesische Kolonie Goa, ein damaliges Hippieparadies. Da Indiens öffentliche Busse und Bahnen mit Frauenabteilen ausgestattet waren, verlief die Reise in den ladys compartments problemlos. Noch nie zuvor musste ich mich alleine durchschlagen. Diese Art zu reisen fing an mir zu gefallen, ich spürte zum ersten Mal in meinem Leben eine Verantwortung – für mich selbst! Diese Erfahrung bereicherte mich ungemein. Die kleine Schwester machte sich auf den Weg. Ich lernte wie gut mein Bauchgefühl funktionierte, wem ich vertrauen konnte und wem nicht.

      Vor allem aber lernte ich eigenständig zu handeln, Entscheidungen zu treffen und meine Reisekasse zu verwalten. Und erfreut stellte ich fest, dass ich leichter mit Menschen in Kontakt kam weil ich mich mehr bemühte. Ich erprobte mein Schulenglisch, das bis dato nicht wirklich zum Einsatz kam. Und ich merkte, das Alleinreisen mutiger machte, aber nicht leichtsinniger. Im Bus nach Goa traf ich junge Traveller aus Amerika, Brasilien, England und der Schweiz. Ich genoss meine Unabhängigkeit, entdeckte meine Freiheitsliebe, entwickelte Willensstärke, machte eigene Pläne und gewann täglich an Selbstbewusstsein. Ich reiste mit einer Erfahrung im Herzen die pure Lebensfreude durch meinen Adern pumpte. Ich fühlte mich so frei wie nie zuvor. Je weiter ich reiste, desto näher kam ich mir! Aus diesen Erlebnissen entwickelte sich mein sehnlicher Wunsch – ich möchte eine Weltreise machen - alleine!

      In Goa wurde ich beklaut, das meiste der verbliebenden Reisekasse war weg. Mit den letzten lumpigen Rupies bezahlte ich ein Zugticket dritter Klasse nach Delhi. Zwei Tage lang zuckelte der Bummelzug von Panjim nach Bombay, dem heutigen Mumbai. Dort stieg ich nach Neu Delhi um. Frauenabteile gab es in der dritten Klasse nicht, man nannte die spartanischen Abteile auch Holzklasse. Ich saß auf harten Bänken zwischen Maissäcken und Hühnerkäfigen, zahnlosen Greisen und stillenden Müttern. Müde Kinder legten den Kopf auf meinen Schoß und alte Frauen schliefen an meiner Schulter. Berührungsängste waren den Indern fremd. Im Gepäcknetz über mir schaukelten Kinder zwischen Paketen und Stoffballen. Der Boden glich einem bunten Teppich aus Papierabfällen, Bananenschalen, Essresten und Palmblättern - ohne Plastik. Durch die Abteile wehte ein penetranter Latrinengeruch - das WC besaß keine Tür. Irgendwann neutralisierte sich der Gestank, ich roch nichts mehr. Um den Gang auf die Toilette zu vermeiden, aß und trank ich nichts. Der permanente Geräuschpegel wurde zeitweise durch das Krähen eines Hahns, dem Quieken eines Ferkels, oder dem Pfeifsignal der Dampflock stimmungsvoll untermalt. An Schlaf war gar nicht zu denken. An jeder Station hatte ich das Gefühl in den Schleudergang einer Waschmaschine geraten zu sein. Menschen krabbelten über mich hinweg, Gepäckstücke wurden

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