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‚Oh, Odin! Hilf!‘, bat ich.

      ~

      War es Odin, war es Verzweiflung – irgendeine Macht lenkte meine Schritte zum heiligen Steinkreis. Ich legte mich flach auf den Rücken und schaute in den Himmel. Langsam begann das Firmament sich zu drehen. Unmerklich wurde es bunt. Es waren die Farben des Regenbogens, und je schneller der Himmel sich drehte, desto mehr verschwammen diese Farben – und der Himmel wurde weiß!

      Selbstvergessen ergab ich mich dem unheimlichen Zauber. Dann wurde das Weiß zunehmend dunkler – grau erst, dann braun. Es nahm die Farbe der Erde an. Vorsichtig setzte ich mich auf und sah, dass ich mich in einer geräumigen Höhle befand. Die Höhle bildete einen Saal, der von unzähligen Säulen getragen wurde. Direkt unter der Mitte der Kuppel standen drei Spinnräder, an denen jedoch niemand spann. Ein wundersamer Schein gab dem Raum einen unwirklichen Glanz. Es war angenehm warm, und die gesamte Szenerie ließ in mir eine nicht erklärbare Geborgenheit aufkommen. Wieso kam ich mir so behütet vor, hier, an diesem finsteren Ort?

      „Du befindest dich im Schoß der Erde“, hörte ich eine weibliche Stimme sagen.

      Auf einem steinernen Thron am Rande des Saals saß eine blasse Frau. Sie schaute mich nicht an, sondern wandte mir ihre rechte Seite zu. Sie blickte nach oben, zu einem Punkt an der Höhlenkuppel. Das Gesicht der Frau war fast weiß. Ebenmäßige Züge umgaben ihr strahlend blaues Auge. Ich war nicht in der Lage, den Blick von ihr zu wenden. Noch nie hatte ich in ein Antlitz geschaut, von dem eine solche Faszination ausging. In Wellen durchflutete eine nie gekannte Wärme meinen Körper.

      ‚Das also ist Liebe auf den ersten Blick!‘, dachte ich.

      In diesem Augenblick änderte die weiße Schönheit ihre Blickrichtung. Sie drehte mir ihre linke Seite zu und sah nun auf einen Punkt links von mir. Ich erschrak! Ein unangenehmer Fäulnisgeruch streifte meine Nase in dem Moment, als sie den Kopf wendete. Der Gestank musste von ihrer linken Gesichtshälfte ausgehen.

      An der Stelle, an der einmal ein Auge gewesen sein musste, klaffte eine blutunterlaufene Höhle. Die Lippen waren großflächig verwest und gaben in unregelmäßigen Reihen gelbe Zähne frei. Die Teile der Haut, die noch übrig waren, zeigten sich übersät mit unzähligen Wunden. Blut, Eiter und Grind wechselten einander ab.

      Dann sah die Frau mich direkt an und sofort senkte ich den Blick.

      „Die Tatsache, dass jedes Ding zwei Seiten hat, hat mein Vater zuweilen etwas übertrieben gesehen“, sagte sie, nicht ohne Bitterkeit. Während ihre rechte Gesichtshälfte lächelte, verzog sich der linke Teil zu einer schaurigen Grimasse.

      Aus der Liebe Lokis zu der Riesin Angrboda waren drei Kinder entstanden: der Fenriswolf, die Mitgardschlange und … dies hier war ganz eindeutig Hel.

      „Sind wir in Helheim?“ Mir schauderte. Nirgends wollte ich weniger sein als in Helheim, der letzten Heimat der Toten, die nicht als Helden auf dem Schlachtfeld gestorben waren.

      Sie zeigte auf die Spinnräder. „Nein! Die Nornen haben mir ihren Palast geliehen, um dich treffen zu können.“

      „Die Nornen?“, fragte ich ungläubig. „Ich glaube, von ihnen gehört zu haben, aber um ehrlich zu sein, weiß ich gerade nicht mehr, wo und was.“ Entschuldigend hob ich meine Schultern.

      Hel sah nachdenklich zu mir herüber. Dann hob sie an und sang mit rauchiger Stimme, in einer Sprache, die ich noch nie gehört hatte, in der ich aber jedes Wort verstand, eine alte, längst vergessene Weise:

       Urd – du hast uns erdacht!

       Verdandi – du hast uns gemacht! Skuld – du nimmst uns wieder fort! Jeder Ort ist euer Ort!

       Unter der Erde, so unendlich weit, drehen drei Weiber die Räder der Zeit, weben ein Garn, in blutigen Längen, weben die Fäden, an denen wir hängen.

       Urd – das Schicksal liegt in deiner Hand. Legst deine Fäden über das Land. Legst die Fäden im Gewirr, webst die Leben von Mensch und Tier.

       Verdandi – der Moment ist dein, der Augenblick, das Jetzt, das Sein. Kein Gestern kennst du und kein Morgen. Der Augenblick kennt keine Sorgen.

       Skuld – kein Mensch kann leben, ohne dir die Hand zu geben.

       Nistest dich ein in zitternde Herzen, löschst das Licht auf unseren Kerzen.

       Urd – dein Blick geht so weit! Verdandi – in Raum und Zeit!

       Skuld – in Schatten und Licht!

       Sind wir – oder sind wir nicht?

      Hels Gesang verklang in der hohen Kuppel des Saales. Ich war wie gebannt. Nie hatte ich Ähnliches gehört. Wo mochte die Welt sein, in der solche Lieder gesungen wurden? Wie alt ihre Geschichten! Wie weise ihre Dichter!

      „Wie kann ich dir danken … und den Nornen?“, fragte ich zaghaft.

      Hel machte eine abweisende Geste. „Für heute reicht es, ihnen für ihre großzügige Gastfreundschaft zu danken. Würdest du auch nur einen Fuß auf den Boden Helheims setzen, könnte ich dich nicht wieder gehen lassen, und das möchtest du doch … wieder gehen, oder?“

      „Bitte, ja!“, rief ich. Mir war angst und bange.

      „Aber, du wolltest mich treffen? Oder habe ich das falsch verstanden, an Riegers Totenbett?“

      „Du weißt davon?“

      „Ich stand neben ihm.“

      „Er hat Angst vor seiner Zeit in Helheim,“ sagte ich wahrheitsgetreu. „Darum kann er nicht loslassen.“

      Hel lachte. „Der Tod wird überbewertet. Bevor du geboren wurdest, warst du doch schon einmal tot, oder?“

      „Wohl ja … aber …“

      „Und? War es schlimm?“ Jetzt lächelte sie, und diesmal achtete sie darauf, mir nur die gesunde Gesichtshälfte zu zeigen. „Schau mein Antlitz! Solange du nur eine Seite davon siehst, bist du dir sicher, Herr der Situation zu sein. Dabei ist es egal, welche der beiden. Aber dann, kaum siehst du mich ganz, zerfällt deine schöne heile Welt in tausend Scherben. Dann erkennst du, dass da etwas ist, von dem du nichts weißt. Und weil du nicht weißt, was du nicht weißt, bleibt nur die Erkenntnis, dass du nicht weißt, was du weißt. Wenn du das verstanden hast, bist du wahrlich frei!

      Auch der Tod hat nicht nur eine Seite. Er ist nicht nur Qual und Ende. Er ist auch Erlösung und Neubeginn. Es ist nicht besonders klug, zu glauben, das ewige Glück lasse sich in einem frühen Tod finden, möglichst in einer Schlacht.“ Sie sah mich prüfend an. „Wo wären all die tapferen Krieger ohne den Rat der Alten, die auf die Erfahrung eines vergangenen, langen Lebens zurückgreifen können? Wer spricht zu den Kindern an den Feuern? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wem der Tod auf dem Schlachtfeld nützt? Glaub mir, der Leiche nicht!

      Alt zu werden, bedarf eines hohen Maßes an Mut. Während man auf dem Schlachtfeld bis zuletzt hoffen kann, unverletzt zu bleiben, darf man der Schmerzen des Alters durchaus sicher sein. Rieger hat nichts zu bereuen! Er kann kommen! Ich werde ihm ein angenehmes Willkommen bereiten.

      Ist dir einmal aufgefallen, dass ihr in Midgard irgendeinen Ort ‚Heimat‘ nennt, gerade da, wo ihr seid? Eine einfache Hütte kann mehr Heimat sein als ein prächtiger Palast. Vielleicht ist Heimat eher in euch. So gesehen, ist es egal, wo ihr seid, wichtiger ist, mit wem. Rieger wird Freunde und Bekannte hier treffen.“

      Hel lachte hell auf. „Bedenke ich es recht, sind fast alle seine Ahnen hier – nicht in Walhalla. Es ist wohl ein echter Fluch, wenn die Kriege knapp werden.“ Während ihrer langen Rede hatte ich zu Boden gesehen. All ihre Worte berührten mich tief – und doch da war immer noch eine große Angst vor dem Tod, die nicht so schnell weichen wollte. Langsam hob ich meinen Kopf, um ihr erneut ins Gesicht zu blicken. Ich wagte kaum zu atmen, bereitete mich auf den Anblick vor und hielt die Luft an – doch nun hatte sich etwas verändert. Sie hatte sich verändert.

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