Скачать книгу

und Erde. Noch immer lebe ich in derselben Siedlung. Sie liegt auf einer großen Lichtung, umgeben von einem riesigen Wald. Unser Wald ist so unendlich groß, dass noch nie ein Mensch an seinen Rand gelangte. Es sei denn, er wandte sich nach Norden, denn im Norden grenzt der Wald an das Meer. Der Weg dorthin ist lang. Er dauert viele Wochen.

      Zuweilen suche ich Ruhe auf einer abgelegenen winzigen Lichtung – ein Ort stiller Schönheit, verborgen im undurchdringlichen Schattenreich des Waldes. Vor Jahren schon habe ich einen Kreis aus Steinen um den Rand der Lichtung gelegt. Steht die Sonne tief, treffen ihre Strahlen in goldenen Linien aus dem hohen Holz auf das satte Grün der Wiese, dann erstrahlen die Steine. Dann ist die Magie vollkommen und dringt tief ein in mein Herz.

      Einmal ging ich auf dem schmalen Pfad zu meinem Lieblingsplatz. Es war einer der ersten sonnig-warmen Frühlingstage des Jahres. Mein Weg führte mich durch den lichten Birkenhain, vorbei an dem mächtigen, Odin geweihten Stein, in dessen Schatten wir noch vor wenigen Monden das Fest der Wintersonnenwende begangen hatten. Der vergangene Sonnenumlauf war gut und ertragreich gewesen und hatte uns in die glückliche Lage versetzt, den Göttern reichlich zu opfern.

      Nun zeigten sich die Asen erkenntlich und schenkten uns eine Zeit des Friedens. Die Fehden unter den Stämmen waren auf den Things der vergangenen Monde beigelegt worden. Ja, sogar die Streitigkeiten innerhalb der Familien unseres Stammes ruhten in diesen Tagen. Neid, Missgunst und böser Leumund waren auf wundersame Weise zur Ruhe gekommen. Herz und Hirn konnten sich nun persönlicheren Angelegenheiten zuwenden.

      Meine Füße traten leicht auf unter dem langsam erwachenden Laubmeer. Die Maibäume, die die Ahnen nach der Frühlingsgöttin Berkana ‚Birken‘ genannt haben, sangen leise, aber unüberhörbar das uralte Lied von Geburt und Wiedergeburt. Mit jedem Schritt, der mich von der Siedlung fort in das Herz des Waldes hineinführte, umfing mich der Odem der Götter spürbarer, fielen Alltagslast und Alltagsmühe von mir ab. Bald erreichte ich die Runde der heiligen Steine. Ich betrat den inneren Kreis – näherte mich der Stille, die ich als Pforte in die Welt der Götter bereits so lange Zeit nutzte. Langsam und bedächtig setzte sie ein. Schon verblassten alle Worte, diese geschliffenen Waffen des Geistes, in meinem Hirn. Immer deutlicher kam das endlose Rad der Sprache zum Stehen, bis endlich die Bilder direkt in mein Herz drangen, bis aus Gedanken Gefühle wurden.

      Das Wissen vieler Generationen hatte mich gelehrt: Erst, wenn die Gedanken ruhen, können wir unseren Fuß auf das Idafeld setzen – öffnen sich die Tore Asgards. Bis dorthin hatte ich es bisher nie geschafft. Ich erreichte in diesem Moment einen gleichmäßig dahinplätschernden Bach. Klares Wasser umspülte glänzende Steine. Beruhigendes Murmeln redete in der Sprache der drei Welten. Die Stille in mir war nun vollkommen. Da war nur das Wasser, klar und rein, ständig sich erneuernd und doch unendlich. Mein Herz lauschte, denn das gleichmäßige Murmeln des Wassers verwandelte sich in ein nie gehörtes Runenlied:

       Ein Esch und eine Ulme, die waren an Land gespült.

       Die Macht der Gezeiten gab ihnen ein Bild.

       Und Hönir sprach zu Odin: „Sieh ‘, diese Stämme hier, die haben eine Form, die sehen fast aus wie wir. “

       Da sprach der Vater aller: „Das kann kein Zufall sein.“ Nahm einen Hauch voll Leben und gab es ihnen ein.

       Er legte seine Hände

       auf das tote Holz

       und gab den beiden Stämmen

       Atem und Puls.

       Auch Hönir trat nun näher,

       bedächtig war sein Schritt,

       bedachte klug und weise:

       „Was geb‘ ich ihnen mit?“

       Er leg‘t auf Esch und Ulme die göttliche Hand und gab den neuen Wesen Erinnerung und Verstand.

       Und Odin sah zu Loki mit schmunzelndem Gesicht:

       „Mich düngt, mein Freund, die beiden gefallen dir nicht.

       Dann mach du sie anders, besser noch als wir.

       Gib ihnen für die Zukunft auch etwas von dir. “

       Da dachte Loki lange mit scharfem Verstand, dann trat er zu den Wesen und senkte seine Hand und sprach mit leiser Stimme:

       „Ich schenk‘ euch dafür, dass ihr nicht nur kluge Tiere seid, die Liebe und den Hass. “

      Danach war es still …

      Ich spürte noch lange in diese Stille hinein, aber die Götter blieben stumm. Langsam stellten sich die Worte in meinem Kopf wieder ein. Verwirrt kehrte ich um zur Siedlung, machte mich auf den Weg nach Haus.

      ~

      Viele Tage waren vergangen, seit die Götter mir das Runenlied geschenkt hatten. Der Mond füllte sich zum wiederholten Male, und doch ließen Verwirrung und Staunen in mir nicht nach. Natürlich kannte ich die Geschichte, die Alten erzählten sie seit undenklichen Zeiten an den Winterfeuern. Es war die Geschichte der ersten Bewohner Midgards: Der Mann hieß Ask, und dies war das alte Wort für die Esche. Die Frau nannten die Götter Embla, und dies war der alte Name der Ulme. Sie hießen schlicht nach den Baumstämmen, aus denen sie gemacht worden waren.

      So war es in den Runenstein geschlagen.

      Aber noch nie war mir zu Ohren gekommen, dass auch Loki seinen Teil dazu beigetragen hätte. Loki, der bisher nur den Ruf des Pendlers zwischen den Welten, des Tricksters und zu guter Letzt des Auslösers des Untergangs der Alten Welt trug. Loki, zu dem ich eine innige Nähe verspürte – obwohl oder gerade weil er diesem ständigen Wechsel zwischen gutem und bösem Tun unterlag. Aber, wenn nun Loki sogar an der Menschwerdung mitgewirkt haben sollte, dann wäre meine Liebe zu ihm legitim. Kein Bewohner der Siedlung könnte mich anfeinden für Opfergaben an einen Menschenschaffer.

      Um diese Frage zu klären, musste ich eine Reise antreten. Ich wusste, der Weg würde aufregend und anstrengend werden. Ich würde tief in die Häuser der Asen eindringen müssen. Ich würde mir das Vertrauen der Götter ernsthafter und opferbereiter verdienen müssen, als ich mir auszumalen wagte.

      So begann ich meine Reisevorbereitungen. Zwischen zwei vollen Monden wusch ich täglich meinen ganzen Körper. Das löste in der Siedlung allgemeine Heiterkeit aus, und nicht nur einmal wurde ich gefragt, wer denn die Schöne sei, für die ich meinen Leib so hingebungsvoll salbte. Ich aß keine zubereitete Mahlzeit in dieser Zeit, sondern trank nur klares Wasser – das Fasten sollte mich reinigen. Die Götter wurden auf mich aufmerksam, ich erkannte es daran, dass sie meinen Körpergeruch unangenehm werden ließen. Trotz all meiner Waschungen stank ich. Mir war, als würde aus mir alles Niedrige, Böse und Anrüchige verdunsten. Der Gestank verging, und schon bald erfüllte mich eine nie zuvor gekannte Kraft. Meine Stimmung war gut, zuweilen geradezu beängstigend heiter, und so spürte ich bald, dass der rechte Zeitpunkt für den Beginn meiner Reise gekommen war.

      Frohen Mutes und getragen in der Hoffnung auf Antwort, brach ich in der Nacht des fünften Vollmondes im Sonnenkreis auf. Zuerst führte mich mein Weg zu der Lichtung im Wald, an der ich die Runen empfangen hatte. Wie groß war jedoch meine Verwunderung, als ich an der vermuteten Stelle keinen Bach mehr fand. Immer weiter ging ich in den Wald, und nach anderthalb Tagen befand ich mich tiefer zwischen den Bäumen, als je ein Stammesmitglied gegangen war.

      Unsere tapfersten Jäger hatten diesen Tann noch nie durchstreift. Auch mir war der Forst hier vollkommen fremd. Irgendwann wurde der Boden unter meinen Füßen immer weicher. Meine Schritte hinterließen keine Geräusche mehr – lautlos folgte ich dem Ruf der Wildnis.

      Zuweilen versperrten tiefe und übel riechende Sümpfe meinen Weg. Sie waren die Tore zur dritten unserer Welten, Udgard – dem Sitz Hels, einer Tochter Lokis. Ich ahnte noch nicht, wie nahe ich ihr auf einer späteren Wanderung noch kommen würde, wusste nichts von ihrer wahren Art.

Скачать книгу