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sie umständlich. »Wir wollen überlegen, wie wir das wieder hinkriegen können«, fuhr er fort. »Du wirst … mmh-mmh … sagen, dass du dich nicht wohlgefühlt hast heute Morgen. Und dass du zur Toilette musstest. Du bist zurückgekommen und hast die Zeichnung in deinem Heft entdeckt. Sie stammt nicht von dir. Du hast niemandem davon erzählt, weil du befürchtest, man könne sie dir zur Last legen.«

      »Aber das stimmt nicht.«

      Berthold setzte seine Brille auf. Die Gläser funkelten im Licht der Schreibtischlampe.

      »Es ist wichtig, dass du dabei bleibst, was ich dir gesagt habe. Deine Mutter hat es schwer genug. Du willst doch nicht, dass sie Scherereien bekommt, oder?«

      Hannah senkte den Kopf. »Nein.«

      »Soll ich wirklich keinen Arzt rufen?«

      »Nein. Es geht mir gut. Ich kann allein nach Hause gehen. Es ist nicht weit.«

      Berthold nickte. Hannah war entlassen. Sie ging zur Tür, wo sie die sanfte Stimme des alten Mannes einholte.

      »Wir haben ein Geheimnis miteinander.«

      Sie sah ihn fragend an.

      »Was wir hier besprochen haben, bleibt unter uns, hast du das verstanden?«

      »Ja.«

      »Denk daran, du bist ein braves Mädchen. Du würdest so etwas niemals zeichnen, nicht wahr?«

      »Nein, das würde ich nicht.«

      Hannah verließ das Büro des Rektors. Der Unterricht war heute, am letzten Schultag des alten Jahres, früher als gewöhnlich zu Ende gegangen. Die Türen der Klassenzimmer standen offen, Hannahs Schritte hallten hohl in den leeren Korridoren.

      Ohne einer Menschenseele zu begegnen, durchquerte sie die Eingangshalle und trat ins Freie. Dickbäuchige, dunkelgraue Regenwolken hatten sich vor die Sonne geschoben, doch sogar das trübe Dezemberzwielicht schmerzte in ihren Augen. Sie blieb einen Moment stehen und kniff die Lider zusammen, um sich an das Tageslicht zu gewöhnen.

      Ein kaltes Prickeln kroch ihren Rücken herauf und griff nach ihrer Kehle. In dem düsteren Torweg auf der anderen Straßenseite verbarg sich jemand. Sie kannte den Durchgang, durch den die Metzger im Morgengrauen die Schweine in den Schlachthof trieben. Sie wartete eine Minute oder zwei und glaubte beinahe, sich getäuscht zu haben. Die flirrenden Schatten, die an den Rändern ihres Bewusstseins lauerten, spielten ihr häufig Streiche. Jetzt nahm sie deutlich eine Bewegung wahr. Nein, sie hatte sich nicht geirrt! Rasch zog sie sich in den Schutz der Steinsäulen zurück, die den Eingang zum Schulgebäude flankierten. Nach wenigen Augenblicken tauchte das feiste Gesicht Koschkas auf. Er war nicht allein. Maria und die blonde Ilsa, das schlimmste Schandmaul der Schule, lauerten in den Schatten der Einfahrt. Es würde noch mehr Ärger geben.

      2

      Hannah drückte ihre Wange an die kalte Steinsäule und beobachtete die Straße. Koschka, Maria und Ilsa warteten auf sie, um eine Hetzjagd zu starten. Es würde mit kleinen Sticheleien beginnen und damit enden, dass sie Hannah in den Dreck schubsten und ihre Hefte und Bücher zerrissen. An einem anderen Tag wäre sie vielleicht mit Beleidigungen und Demütigungen davongekommen, die sie inzwischen schweigend ertrug. Aber sie ahnte, dass während ihrer Ohnmacht mehr passiert war. Pilz hatte die Gelegenheit sicherlich genutzt, um die anderen Kinder gegen sie aufzuhetzen, und seine Anstrengung würde bittere Früchte tragen.

      Ihr blieb nur zu warten. Hannah fröstelte in der kalten Luft und betrachtete den Winterhimmel. Sie mochte es, in den dahinjagenden, vom Wind zerzausten Wolken nach Bildern und bekannten Formen zu suchen. Heute war die schiefergraue, tief hängende Wolkendecke so dicht und eintönig, dass Hannah vergeblich nach vertrauten Konturen Ausschau hielt. Stattdessen sollte sie besser die Straße beobachten. Die Fassaden der Häuser waren von einem stumpfen Sepiabraun, das nasse Pflaster glänzte matt wie flüssiges Blei. Umso bedrohlicher leuchtete das Rot der Hakenkreuzfahnen, die an Fahnenmasten und Laternen wehten. Für den kommenden Sonntag war einer der vielen Aufmärsche angekündigt. Sie würden einen Mordslärm machen und ein Funktionär der Partei würde eine Rede halten. Danach verprügelten sie jeden, der ihnen nicht zujubelte.

      Hannah wärmte ihre Finger in den Manteltaschen. Ein eisiger Wind wehte von Norden her über das Kopfsteinpflaster. Nach einer halben Stunde schien Koschka die Geduld zu verlieren. Hannah beobachtete, dass er mit Maria und Ilsa im Schlepptau auf den Kiosk an der Straßenecke zulief, vermutlich um sich eine Zuckerstange zu kaufen. Eine zweite Chance würde sie nicht bekommen, unbehelligt nach Hause zu gelangen.

      Sie wagte sich aus dem Schutz des Portikus und lief los. Nur wenige Menschen waren unterwegs, die meisten Leute beschäftigten sich bereits mit den Vorbereitungen zum bevorstehenden Weihnachtsfest. Malisha feierte mit ihr das jüdische Lichterfest, das am 17. Dezember begann und am 24. endete. Weder Hannah noch ihre Mutter waren gläubig, Religion spielte in ihrem Leben kaum eine Rolle. Dennoch hatten sie früher die Synagoge besucht, weil sie die feierliche Atmosphäre mochten. Und nun brachte sie schlechte Nachrichten mit nach Hause, die die Festtagsstimmung drücken würden.

      Hannah blieb stehen, um Atem zu schöpfen, und betrachtete ihr geisterhaftes Spiegelbild in einer Schaufensterscheibe. Sie hatte das dichte schwarze Haar ihrer Mutter geerbt, ihre haselnussbraunen Augen und die schlanke, feingliedrige Gestalt. Sie begriff, dass sie noch keine Frau war, aber auch kein Kind mehr, und man würde sie nicht mehr als solches behandeln. Berthold hatte sich mehr als einmal vor seine Schülerin gestellt und sie versucht zu schützen, doch diesmal würde er nichts ausrichten können.

      Etwas hatte sich verändert. Man sah es nicht und konnte es nicht greifen, dennoch spürte Hannah die Krankheit, die die Herzen der Menschen schleichend vergiftete.

      Über eine Nebenstraße erreichte sie den Börneplatz. Von hier aus war es nicht mehr weit bis zu dem kleinen Schneiderladen ihrer Mutter. Auf der freien Fläche heulte der Wind um die Ruine der Synagoge, die vor einem Jahr ein Raub der Flammen geworden war. Seitdem hatte man die Mauern abgetragen, um das Baumaterial für andere Vorhaben zu verwenden. Wo das Gebäude nicht bis auf die Grundmauern verschwunden war, ragten vom Feuer geschwärzte Wände in die Höhe. Von der Hitze geborstene Steine hatte man zu riesigen Haufen aufgetürmt. Aus dem Lichterfest würde dieses Jahr nichts werden.

      Hannah spürte plötzlich, dass sie nicht allein war. Der Platz war menschenleer, niemand war zu sehen, dennoch hörte sie das leise Getrappel von eiligen Schritten. Sie beeilte sich, die Synagoge hinter sich zu lassen, und lief an einem der Schutthaufen vorbei. Ein Ziegelstein löste sich aus dem Haufen, rutschte herab und zog eine kleine Gerölllawine nach sich.

      »Flieger! Grüß mir die Sonne! Grüß mir die Sterne …«

      Koschka sprang hinter dem steinernen Berg hervor. Er grinste und sang laut und schief. Seinem Gegröle folgte eine Lachsalve. Die Mädchen bogen sich vor Lachen, Koschkas Kumpane, zwei Jungen in ihren HJ-Uniformen, waren auch da. Hannah versuchte, an Maria vorbei zu laufen, aber sie verstellte ihr den Weg.

      »Schau an, die verrückte Hannah. Fliegen-Pilz hat getobt wie ein Irrer«, sagte Ilsa.

      »Das weiß sie doch selber«, rief Koschka. »Dein Schauspielern nützt dir gar nichts.« Er verdrehte die Augen und ließ sich platt auf den Schuttberg fallen.

      Maria lachte schrill. »Du brauchst nicht mehr zu kommen, hat Pilz gesagt. Dafür wird er schon sorgen.«

      »Wird auch Zeit«, japste Koschka, der wieder aufgestanden war. »Juden in einer arischen Schule. Wo gibt’s denn so was?«

      Ilsa knuffte sie an der Schulter. »Hannah stört das nicht. Aus ihr wird doch eine Fliegerin.«

      »Ja«, rief Koschka. »Was denn, was denn?«, äffte er Pilz nach. Die Mädchen kicherten.

      »Ihr Vater holt sie mit seinem Flugzeug ab!«

      Die Jungen grölten.

      »Ihr werdet dumm schauen, wenn er kommt«, sagte Hannah. »Er muss viel arbeiten, ist immer unterwegs. Aber er kommt.«

      »Den gibt’s doch gar nicht«, widersprach

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