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verdrängte. Manchmal funktionierte dieser Trick.

      Leise zog sie die Vorlegekette aus der Sicherungsschiene der Wohnungstür. Dann schlüpfte sie durch den Türspalt und schlich auf Zehenspitzen nach unten, ohne das Licht anzuschalten. Sie zählte die Stufen und achtete auf die dritte und achte, die laut knarrten, wenn man auftrat. Schließlich stand sie im Korridor, der durch ein kleines Stofflager zur Hintertür des Schneiderladens führte. Durch den Türspalt fiel Licht in den Flur, ein schwerer Gegenstand kippte im Laden um und fiel zu Boden. Weicher Stoff schien das Poltern zu dämpfen. Das Licht unter der Tür flackerte, verlosch und flammte wieder auf. Die Aufregung schärfte Hannahs Sinne. Jemand schrie leise auf, rang nach Luft, es klang gequält und schmerzvoll. Malisha!

      Die Tür zum Laden war unverschlossen. Ohne sich zu erinnern, wie sie hierhergelangt war, stand Hannah in dem kleinen Lagerraum. Der vertraute, trockene Geruch von Stoffen und Wolle kroch in ihre Nase. Sie durchquerte den Raum und schob vorsichtig die Tür zum Laden auf. Stoffballen waren aus ihren Fächern gezerrt worden und lagen ausgerollt und zerknüllt auf dem Boden. Zwei Gestalten rangen in dem Durcheinander. Lubeck kniete auf Malisha, presste ihre Arme auf den Boden und versuchte, ihre Beine auseinanderzudrücken. Sein blasses Gesicht war puterrot, die Augen traten ihm aus den Höhlen, Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel. Er ließ sich stöhnend nach vorne fallen und presste seinen Mund auf Malishas Lippen. Sie versuchte, sich zu befreien, kam aber gegen seine rohe Kraft nicht an.

      Hannahs Herzschlag beschleunigte sich, aus den Augenwinkeln kroch die Schwärze heran wie zähflüssiger Teer. Mechanisch ging sie auf den Tisch zu, auf dem ihre Mutter die Stoffbahnen zurechtschnitt, und griff nach der großen, scharfen Schneiderschere.

      Ein Irrenhaus kostet eine Million Reichsmark. Wie viele deutsche Familien könnten von dem Geld eine Wohnung bekommen?, schoss es Hannah durch den Kopf.

      »Zweitausendzwölf«, sagte sie laut. Es waren zweitausendzwölf.

      Lubeck grunzte und fuhr herum. Überrascht glotzte er sie an und entdeckte die Schere in ihrer Hand.

      »Hannah, nein!«, rief Malisha.

      Lubeck stieß Malisha auf den Boden zurück und bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Ein Lichtreflex blitzte auf der Scherenklinge und stach schmerzhaft in Hannahs Augen. Ihr Arm beschrieb einen Bogen, ohne dass sie ihm befohlen hätte, sich zu bewegen. Auf Lubecks linker Wange erschein wie von Geisterhand ein roter Strich. Er schrie auf, taumelte und presste die Hand auf das Gesicht, zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Sehr viel Blut. Er jammerte und schluchzte wie ein Kind, das sich die Knie aufgeschlagen hat. Schreiend torkelte er im Laden umher und griff nach einem Stofffetzen, um ihn auf die Wunde zu pressen. Hannah ließ die blutige Schere fallen und verlor das Bewusstsein, gnädige Finsternis umfing sie.

      8

      Das gleichmäßige Schaukeln erinnerte Hannah daran, wie sie einmal auf einem Ausflugsschiff über den Main gefahren war. Hatte Malisha einen Weg gefunden, Deutschland zu verlassen? Hatten sie sich auf ein Schiff gerettet, das bereits unterwegs nach England war? Dann musste sie lange ohnmächtig gewesen sein.

      Nein, ihr wurde klar, dass sie im Sirup steckte. In dem lähmenden Zustand zwischen Wachen und Schlaf zogen verschwommene Bilder von Lubecks blutüberströmtem Gesicht vorbei. Sie hörte Malisha schreien und spürte das Gewicht der Schneiderschere in ihrer Hand. Mühsam versuchte sie, sich von den letzten Schleiern zu befreien und kämpfte sich durch zähe, klebrige Schichten ihres Unterbewusstseins in die Wirklichkeit zurück.

      Aus einem verzerrten Winkel nahm sie Joschis vernarbtes Gesicht wahr. Das Schaukeln rührte daher, dass er sie auf seinen starken Armen trug. Sie streckte sich vorsichtig, ihre Muskeln schmerzten und fühlten sich an, als hätte sie bis zur Erschöpfung Säcke mit Briketts für den Ofen in ihre Etagenwohnung geschleppt. Der Anfall musste diesmal sehr schlimm gewesen sein.

      »Wo bin ich?«, fragte sie.

      Joschi blickte warmherzig auf sie herab und zwinkerte ihr zu. Alles wird gut.

      »Tempo, beeil dich«, rief jemand.

      Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Malisha den roten Reisekoffer in den Kofferraum eines viertürigen Autos schob. Joschi legte Hannah behutsam auf der Rückbank ab und breitete eine Wolldecke über ihr aus. Er schloss die Tür und nahm hinter dem Steuer Platz, Malisha setzte sich neben ihn.

      Ehe Hannah Fragen nach dem Ziel stellen konnte, begann die Fahrt. Das eintönige Brummen des Motors und das sanfte Schaukeln wiegten sie bald in einen traumlosen Schlaf. Als Malishas Stimme sie weckte, schien eine Ewigkeit vergangen zu sein.

      »Wach auf, Hannah. Wir sind da.«

      Es war dunkel, durch das Seitenfenster fiel gelber Lichtschein ins Wageninnere. Joschi steckte den Kopf durch die offene Tür und zeigte sein schrecklich schönes Zahnlückenlächeln.

      »Ich kann selbst laufen.«

      Hannah schämte sich für die Mühe, die sie den anderen bereitete, biss die Zähne zusammen und kletterte aus dem Fond.

      Malisha brachte sie zum Seiteneingang einer kleinen Kirche aus gelben und roten Backsteinen. Durch die Buntglasfenster fiel farbiges Licht auf das Pflaster und malte schillernde Regenbögen in die Pfützen. Die Nacht war bitterkalt, ein böiger Wind fegte mit Eisnadeln und Schneekristallen gemischten Regen über das nasse Kopfsteinpflaster.

      Hannah betrat hinter Malisha die Sakristei. Die Tür zum Altarraum stand offen, im Halbdunkel dahinter sprachen zwei Männer erregt miteinander. Der kleinere der beiden gestikulierte eindringlich, während der größere Mann energisch den Kopf schüttelte. Er wandte sich ab und humpelte auf die Sakristei zu, bis seine Silhouette den Türrahmen ausfüllte. Als er ins Licht trat, erschrak Hannah. Sein rechtes Auge war blutunterlaufen, die Unterlippe geschwollen, Kinn und Wangen mit Schürfwunden übersät. Aus einer Platzwunde über der Augenbraue sickerte Blut. Sie hatte genug Opfer der Braunhemden gesehen, um zu erkennen, dass der Mann zusammengeschlagen worden war. Obwohl er hinkte und offensichtlich Schmerzen litt, schien er eine innere Kraft zu besitzen, der die brutalen Schläger nichts hatten anhaben können. Seine aufrechte Haltung strahlte Ruhe und unerschütterliche Zuversicht aus. Er trug eine schwarze Soutane, an der mehrere Knöpfe fehlten, der linke Ärmel war eingerissen.

      Joschi umarmte ihn wie einen alten Freund. Neugierig betrachtete Hannah den Priester, der etwa Ende zwanzig war, und vergaß eine Zeit lang ihre eigenen Sorgen. Einem Mann wie ihm war sie nie zuvor begegnet. Er war fast so groß wie Joschi, aber im Gegensatz zu ihm schlank und feingliedrig. Eine Strähne seines dunkelbraunen Haars hatte sich gelöst und hing ihm rebellisch in die Stirn. Vom ersten Augenblick an war Hannah von ihm fasziniert. Sie stellte ihn sich als Prediger auf der Kanzel vor. Es musste jedermann schwerfallen, sich seinem Charisma zu entziehen.

      Nachdem er Joschis stürmische Umarmung erwidert hatte, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Hannah. Sie blickte verlegen zu Boden.

      Malisha drängte sich an ihr vorbei. »Um Himmels Willen, Claudius, was ist passiert?«

      Joschi deutete einen Faustschlag an und zupfte an seiner braunen Jacke. Waren das die Schläger der SA?

      Der Pfarrer begrüßte Malisha mit einer kurzen Umarmung.

      »Es freut mich, Sie wiederzusehen, Malisha. Wenn ich mir auch gewünscht hätte, die Umstände wären erfreulicher. Und was die Braunhemden angeht – diesmal brauchten sie sich die Hände nicht selbst schmutzig zu machen«, sagte er. »Sie haben die Menschen in meiner Gemeinde aufgehetzt, bis sie die Kirche verwüstet haben.«

      »Aber warum?«, fragte Malisha.

      Er lächelte und zuckte zusammen, als seine verletzte Lippe aufsprang und erneut zu bluten begann. »Ich habe mich geweigert, auf meinem Kirchturm die Hakenkreuzflagge zu hissen.«

      Joschi verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Das kann böse enden.

      »Was hat die Polizei unternommen?«, wollte Malisha wissen.

      »Nichts. Sie haben die Leute gewähren lassen.«

      »Eine Fahne ist nur ein Stofffetzen. Es lohnt sich nicht, für

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