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Der Kodex des Bösen. Frank Kurella
Читать онлайн.Название Der Kodex des Bösen
Год выпуска 0
isbn 9783839230169
Автор произведения Frank Kurella
Издательство Автор
Wie sehr hatte Ignatius den heutigen Tag herbeigesehnt. Endlich warf Siegfried diesen greisen Schmarotzer aus dem erzbischöflichen Palast. Wie ein toter Aal in der Sommersonne sollte dieser eklige Alte in Brauweiler verrotten! Ignatius’ Ziel, zum ersten Berater aufzusteigen, schien in greifbarer Nähe. Schon bald würde der Erzbischof allein auf seine Worte hören und ihm sein ganzes Vertrauen schenken.
»Ich kann Euch gar nicht sagen, Bruder Lucius, wie sehr ich auf den Erzbischof eingeredet habe, Gnade vor Recht ergehen zu lassen«, heuchelte Ignatius.
»Eure Fürsprache schert mich einen Dreck!« Der Alte rappelte sich mühsam auf und stütze sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf seinen Gehstock. Wenn er nur jünger und nicht so gebrechlich wäre, hätte er diesen Bastard von Erzbischof mit eigenen Händen erwürgt. Diese Schmach würde er ihm heimzahlen, das schwor er sich. Als Schreiber dieses Mattäus, dieses schleimigen Emporkömmlings, würde er auf keinen Fall enden. Schon gar nicht in Brauweiler!
So gut es seine schmerzende Hüfte zuließ, ging er in seiner Kammer auf und ab und überlegte krampfhaft, wie er es anstellen könnte, das Blatt noch zu wenden.
»Eure Abreise ist für den morgigen Tag vorgesehen. Der Erzbischof hat bereits alles veranlasst.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Bruder Ignatius und ließ den wütenden Alten zurück.
*
Als Marcus an die Stelle zurückkam, an der die restlichen Felle lagen, war das Fuhrwerk schon lange verschwunden. Zunächst ärgerte er sich, dass er zu Fuß zur Stadt zurückkehren musste. Aber schon im nächsten Augenblick wurde ihm bewusst, dass er nach den Geschehnissen der frühen Morgenstunden gar nicht zurückkehren konnte. Jeder andere Bürger der Stadt hätte den sterbenden Priester in seinen Armen halten können und wäre niemals in Verdacht geraten. Doch ausgerechnet er? Man hatte seine diebische Vergangenheit nicht vergessen, und die Wirtsleute mussten sich manch üble Anfeindung anhören, seit sie Marcus bei sich aufgenommen hatten. Die ›anständigen‹ Neusser, die einfach nicht an seine Verwandlung zu einem rechtschaffenen Kerl glauben wollten, würden ihn für den Reliquiendieb halten. Darüber hinaus hatte seine instinktive Flucht ihren Anschuldigungen schließlich weiteren Nährboden gegeben. Einen gerechten Prozess, in dem er sich verteidigen konnte, würde er als ehemaliger Dieb nicht erwarten können. Wenn es überhaupt zu einer Verhandlung vor dem Schultheißen kam. Dagegen konnte er sich der geballten Wut des Klerus und der Bürgerschaft über den Verlust des Heiligen sicher sein. Neben den bedeutsamen Glaubensaspekten war der heilige Quirinus schließlich eine beachtliche Geldquelle für die Stadt. Jahr für Jahr kamen Tausende Pilger nach Neuss, um ihn um seine Fürsprache bei Gott anzuflehen. Da es sich bei dem Diebesgut um eine heilige Reliquie handelte, würde man Marcus als Dieb und Ketzer gleichermaßen richten, und dies eher heute als morgen.
So gedankenversunken irrte er zwischen den Zelten des riesigen Lagers ziellos umher. Nach einer Weile setzte er sich auf eines der Strohbündel, die hier und da verstreut lagen.
»Zu welcher Grafschaft gehörst du, Rumtreiber? Dein Herr wird dich Faulpelz schon suchen!« Ein stark untersetzter Mann trat gegen das Bündel, auf dem Marcus saß. Erschrocken sprang dieser auf.
»Äh, ich gehöre nicht …«, er stockte und besann sich. »Gewiss, Herr, verzeiht. Ich werde sofort an meine Arbeit zurückkehren.« Er durfte um keinen Preis auffallen. Solange er nicht wusste, wo er eine sichere Zuflucht finden würde, bot ihm das riesige Lager mit seinen unzähligen Männern und Burschen ausreichend Schutz. In den Massen konnte er vorerst untertauchen. Eilig verschwand Marcus zwischen den Zelten.
Von nun an bemühte er sich, so geschäftig wie möglich zu wirken, lief mal hierhin, mal dorthin und betrachtete interessiert die Wappenschilde, die vor den Schlafstätten standen. Zu dumm, dass er von Wappenkunde nun wirklich nichts verstand. Zu gerne hätte er gewusst, woher die Männer kamen, die hier vor den Toren der Stadt Neuss ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nur eines hatte er erkannt. Der gelbe Löwe auf blauem Grund: Dies war das Wappen Rainalds I., des Grafen von Geldern. Die Grafschaft Geldern war eine der mächtigsten der Gegend, und einige Leute sagten, Rainald sei darüber hinaus der rechtmäßige Erbe des Herzogtums Limburg. Doch gerade um diese Erbschaft war vor einigen Jahren ein erbitterter Streit entbrannt.
»Dem Brabanter werden wir schon die Hammelbeine lang ziehen!« Vor dem Zelt, an dem Marcus gerade vorbeikam, standen einige Männer in den unterschiedlichsten Wappenröcken. Marcus bog um die Zeltecke und begann, mit einer Forke das Heu umzuschichten, das dort lag. Von hier aus würde er die Ritter belauschen können, ohne weiter aufzufallen. Vielleicht würde er ja endlich erfahren, warum sich Tausende Bewaffnete ausgerechnet vor den Toren Neuss’ versammelt hatten.
»Erzbischof Siegfried hat ganz recht, wir müssen Herzog Johann von Brabant, diesen Erbschleicher, ein für alle Mal in seine Schranken weisen. Die Sache ist ehrenwert und gottgefällig. Schließlich verhilft Erzbischof Siegfried Graf Rainald nur zu seinem Recht als Witwer der Irmgard von Limburg«, fuhr der Mann fort. Marcus stutzte bei diesen Worten. Im ›Schwarzen Krug‹ hatte er die Sache von einer ganz anderen Warte aus gehört. Ein angetrunkener Wanderprediger war eines Abends in die Schenke gekommen und hatte wutentbrannt davon berichtet, dass der Erzbischof von Köln das Limburger Erbe nach dem frühen Tod Irmgards nur an sich reißen wolle, um seine Ländereien, die einem Flickenteppich glichen, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Er habe bereits mehr als genug Kirchengelder für seine kriegerischen Auseinandersetzungen verwandt, mit denen er besser die Armut des Volkes beseitigt hätte. Nun bediene er sich auch noch des Grafen von Geldern und seiner Vasallen, um seine machtgierigen Ziele zu erreichen.
»Wenn ich nur daran denke, wer alles nach dem Tod der Herzogin Irmgard Ansprüche auf Limburg erhoben hat, wird mir übel!« Der Dicke, der sehr nah an der Ecke zu Marcus’ Lauschposten stand, drehte sich plötzlich um und spie in das Heu, an dem der hellblonde Heranwachsende sich zu schaffen machte. »Graf Heinrich von Luxemburg und Walram ›der Rote‹ von Valkenburg lenkten indes ein und verzichteten auf das Herzogtum. Gottlob, dass sie heute an unserer Seite stehen, um den Kampf gegen den Brabanter aufzunehmen. Doch Graf Adolf von Berg, der Verräter?«
Auch von diesem Landesfürsten hatte der Wanderprediger gesprochen. Der Graf sei ein Vetter der Limburgerin gewesen, hatte er gesagt, und so wären die Rechte durch die Heirat seiner Nichte Margarethe mit dem Sohn des Herzogs von Brabant an das Haus desselbigen übergegangen.
Marcus’ Gedanken drehten sich angesichts dieses Verwirrspiels und den unterschiedlichen Sichtweisen zu ein und derselben Sache. Was war wahr und was nur simples Gerede? Wie sollte er, ein einfacher Mann aus Neuss, dies unterscheiden können? Unmöglich! Marcus rammte die Forke mit einem Ruck ins Heu und ging von dannen. Zumindest wusste er jetzt, dass es hier um verworrene Machtspiele zwischen dem Erzbischof von Köln und dem Herzog von Brabant im Kampf um das Erbe Limburgs ging. Das musste reichen. Die Wut in den Stimmen der Männer ließ Marcus erahnen, dass es wohl unausweichlich zu einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen den Getreuen beider Seiten kommen würde. Damit wollte er auf keinen Fall etwas zu tun haben – so viel war klar.
*
»Und ich dachte, Ihr wolltet mit mir keine, sagen wir, ›Geschäfte‹ mehr machen? Umso mehr bin ich überrascht, dass Ihr so dringlich nach mir habt schicken lassen.« Trotz seiner devoten Haltung hatte das Lächeln des hageren Mannes etwas Überhebliches. Mit einem Mal lachte er sogar lauthals und richtete sich kerzengerade auf. Doch sein Gegenüber dachte nicht daran,