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geliebte Großmutter erkrankt und bald darauf gestorben war. Wann immer sie von einer Sekunde auf die andere zu einem Einsatz gerufen wurde, hatten sie Prinz in Pflege genommen und sich nie über seinen Mangel an Hundebenehmen beklagt. Rike war eine der Trauzeuginnen der beiden Männer, als diese vor einem Jahr geheiratet hatten, und die drei verbrachten Weihnachten und manche Feiertage gemeinsam. Carlos, der Tänzer war und aus Italien stammte, schwankte unter der Umarmung der kräftigen Pfoten und kraulte dem Rüden liebevoll den Kopf. »Mein Lieblingskuscheltier«, sagte er zärtlich. Und: »Natürlich nehmen wir ihn«, fügte er hinzu, ohne dass Rike überhaupt fragen musste.

      Sie stellte den Korb in die Küche, wo sich Stefan gerade bei einem Kaffee in die Sonntagszeitungen vertieft hatte. Er las täglich drei überregionale Zeitungen und war stets auf dem neuesten Stand der Weltpolitik und der wichtigsten kulturellen Ereignisse.

      »Kaffee, Gnädigste?«, fragte er. Gelegentlich zog er Rike mit ihrem adeligen Namen auf, dabei hatte sie sich weitgehend von ihrer Familie abgenabelt und verachtete die Gepflogenheiten ihrer adeligen Verwandten, die ihre Zeit auf »standesgemäßen« Bällen oder Jagdgesellschaften verbrachten und sich sogar noch wie im letzten Jahrhundert mit Ihresgleichen verheirateten. Die Ablehnung beruhte wegen ihrer Berufswahl allerdings auf Gegenseitigkeit.

      »Nein danke, ich muss leider«, sie verabschiedete sich schnell, damit Prinz erst gar nicht in Versuchung kam, jämmerlich jaulend hinter seinem Frauchen herzulaufen. Zudem hatte sie aus dem Fenster den blau-silbernen Streifenwagen gesehen, der sie abholen und zum Flughafen Fuhlsbüttel in den Norden der Stadt bringen sollte. Die beiden jungen Kollegen, die sie fuhren, kannte sie nicht. Sie hatte Mühe, die beiden zu überzeugen, erst auf der Elbchaussee Blaulicht und Sirene einzuschalten und nicht die gesamte Nachbarschaft zu beschallen.

      »Wir haben unsere Anweisungen«, beharrte der Fahrer, normalerweise würde die Fahrt fast eine Dreiviertelstunde dauern. Rike war froh, dass sie sich zumindest noch kurz vorbereiten konnte. Viele Informationen hatte ihr Roths Sekretariat nicht zukommen lassen. Es ging um einen männlichen Toten, Verdacht auf Fremdeinwirkung. Das war alles, was über den Fall in den Unterlagen stand. Die Wasserschutzpolizei hatte nicht ausrücken können, da zu diesem Zeitpunkt Ebbe war und sie die Insel daher nicht mit dem Schiff erreichen konnten. Stattdessen hatte der Ortsvorsteher, das war so eine Art Bürgermeister, den Tatort abgesperrt. Dieser Kai-Uwe König war ihr Ansprechpartner für alle Fragen der Unterbringung und Logistik. Sie und ihre Kollegen sollten für die Zeit der Ermittlungen im Leuchtturm wohnen, wo der Hamburger Senat über eine eigene Etage verfügte. Roths Sekretärin hatte noch einige Seiten mit allgemeinen Informationen über die Region hinzugefügt.

      Der Streifenwagen hielt am grauen Hangar der Hubschrauberstaffel, und Rike sah, dass die »Libelle 1«, einer von zwei Helikoptern, schon abflugbereit vor der Halle stand und bereits den Rotor angeworfen hatte. Sie bemerkte, dass der Kriminaltechniker Volker Hendrichs auf einem der drei Passagiersitze Platz genommen hatte. Der Flugtechniker nahm ihr das Gepäck ab und bat sie, schnellstmöglich ihren Platz einzunehmen. Er half ihr, sich anzuschnallen und die Kopfhörer aufzusetzen, ohne die man sich an Bord wegen des Lärms nicht verständigen konnte. Über Funk begrüßte sie der Pilot und erklärte, dass er in wenigen Minuten starten werde. Gerade hatte der Tower den Abflug freigegeben, da sich der Wind vorübergehend gelegt hatte. Rike hatte über Funk gefragt, ob der Hubschrauber nicht auf die beiden Kollegen warten könne. Der Pilot erklärte, dass der Hubschrauber wegen der Technik nur drei Passagiere mitnehmen könne. Er musste ohnehin zweimal fliegen und dabei auf dem Rückweg auch den Toten nach Hamburg transportieren. »Voraussichtliche Flugzeit 30 Minuten, ich wünsche einen guten Flug«, hörte sie über Funk.

      Der Helikopter stieg steil nach oben und folgte der Elbe, überflog Cuxhaven, die Elbmündung, bis sie schließlich das dunkelblaue aufgewühlte Wasser der Nordsee unter sich sahen. Der Pilot meldete sich nochmals:

      »Vor uns bei ein Uhr können wir die Insel Helgoland sehen, unser Reiseziel liegt jetzt genau unter uns. Vorbereitung zur Landung.«

      Der Hubschrauber flog einen Bogen um ein fast viereckiges Landstück unter ihnen, das langsam größer wurde. An einem Ende sah sie einen weißen Turm, der aussah wie ein Fernsehturm, an der Südseite einen burgartigen roten Klinkerturm mit einer grünen Kuppel, einer davon musste der Leuchtturm sein, in dem sie auch wohnen sollten. Sie erkannte eine Handvoll Häuser, die wie bunte Bauklötzchen um den Rand der Insel wie hingestreut lagen, in der Mitte rannten Kühe und Pferde wohl wegen des Geräuschs panisch über die Wiesen. Direkt neben dem roten Turm setzte die »Libelle« auf einem gepflegten Grasplatz sanft ihre Kufen auf.

      Kaum war der Rotor zum Stehen gekommen, näherte sich ein etwa 50-jähriger Mann mit Cowboyhut, Reithose und Wachsjacke.

      »Frau von Menkendorf?«, fragte er und stellte sich als Inselbürgermeister Kai-Uwe König vor. Dann sah er sie und ihren Kollegen ratlos an. »Wen wollen sie denn zuerst verhören?«

      Rike schüttelte den Kopf. »Wir würden uns gerne schnellstmöglich den Tatort ansehen, solange es noch hell ist.«

      Kapitel 5

      Noch immer stand Andrej vor dem Absperrband am Weg hinter dem Deich und ließ die Besucher erst auf ausdrückliche Anweisung seines Chefs passieren. Als Rike den angenagelten Schädel sah, ahnte sie, dass dies alles andere als ein netter Ausflug werden würde. Sie versuchte, sich auf die Schnelle alte Fälle ins Gedächtnis zu rufen, es war selten, dass die Täter ihre Opfer zerstückelten. Fälle mit abgetrennten Köpfen hatten sie nur theoretisch in der Polizeischule behandelt.

      »Was für eine Tatwaffe wurde wohl hier benutzt?«, fragte sie Volker Hendrichs. Der kleine rundliche Mann mit Vollbart, der in einem weißen Overall steckte, zuckte mit den Schultern. Geschwätzigkeit konnte man ihm nicht gerade vorwerfen. Das war Rike aber allemal lieber als die makabren Witze, die einige Kollegen gerne rissen, am Tatort oder bei der Obduktion. Wohl ihre Art, Distanz zu den Ereignissen und den grausamen Schicksalen zu schaffen, aber Rike konnte mit diesem Versuch, die schrecklichen Bilder ihres Berufes zu verarbeiten, nur wenig anfangen.

      Der Inselbürgermeister riss sie aus ihren Gedanken. »Das war noch nicht alles.« Er führte sie über die Brücke, an deren Geländer der Schädel aufgespießt war, auf einen kleinen Friedhof, auf dem Holzkreuze um einen Gedenkstein mit einer Inschrift standen, und zeigte ihr den Körper dahinter. »Kennen Sie den Mann?«, fragte sie König.

      »Das ist nicht schwierig bei 30 Einwohnern.«

      Rike wurde ungeduldig: »Name, Alter, Anschrift – ginge es denn bitte etwas genauer?«

      König schüttelte entschuldigend den Kopf. »Sie müssen wissen, das ist mein erstes Mal … äh, mein erster Mord … als Bürgermeister. Hier passiert sonst nicht viel.« Er zeigte auf den Toten: »Das ist Peter Hein, er betrieb den Laden und die Gastronomie am Leuchtturm. Geschieden.« Rike notierte die Personalien und die Namen der Angehörigen, nachdem sie die Taschen des Opfers durchsucht hatte. Kein Handy, keine Papiere, kein Portemonnaie.

      »Wir müssen den Toten abkleben, um die Faserspuren zu sichern«, sagte sie zu Hendrichs. »Er muss noch heute Abend nach Butenfeld, wenn wir hier fertig sind.« Das war ihr interner Name für die Gerichtsmedizin, nach der rückwärtigen Anfahrtsstraße für die Leichenwagen am Universitätsklinikum Eppendorf benannt, wo die Klienten der Mordkommission eingeliefert wurden. Der Hubschrauber stand bereits auf dem Landeplatz bereit, sie hatte die beiden Kollegen Robert Galinowski und Mareike Schmidt nur kurz empfangen und dann damit beauftragt, Wohnung und Arbeitsort des Opfers auf mögliche Kampfspuren und Auffälligkeiten zu überprüfen und dann zu versiegeln. Der Inselcowboy hatte die beiden zu dem Haus gebracht, das sich direkt neben dem Leuchtturm befand. Volker Hendrichs war noch damit beschäftigt, die Faserspuren am Körper des Toten zu sichern und den Tatort aus allen Perspektiven aufzunehmen. Sie würde die unangenehme Aufgabe übernehmen, die Angehörigen zu benachrichtigen und außerdem die Personendaten des Opfers prüfen.

      Auf dem Weg zum Leuchtturm, wo sie wohnen und ihr provisorisches Büro einrichten sollten, überlegte sie. Was für ein schauriger Ort, dieser Friedhof der Namenlosen. Der Inselbürgermeister hatte ihr erklärt, dass dort bis zum Zweiten Weltkrieg alle Toten bestattet worden waren, die das Meer an den Strand der Insel

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