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in Sichtweite vor ihm auf den Bodenfliesen lag.

      Von dem Flittchen dagegen, das sich in Luft aufgelöst zu haben schien, keine Spur.

      Und von Wischulke auch nicht, wie konnte es anders sein.

      Der Ohnmacht nah, bäumte er sich entschlossen auf, die Uniform, dereinst sein Ein und Alles, mit Blutspritzern übersät.

      Dafür würde die Kleine büßen, und wenn es das Letzte war, was er in diesem Leben tat. Ach woher, dafür würden ihm alle Frauen büßen.

      Wen genau er sich vorknöpfte, darauf kam es nun wirklich nicht mehr an.

      DIES IRAE

      Welch ein Zittern, welch ein Beben,

      wenn zu richten alles Leben,

      sich der Richter wird erheben!

      (Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem)

FREITAG, 20. SEPTEMBER 1940

      2

      Berlin-Köpenick, S-Bahnhof Rahnsdorf

      23:18 Uhr

      »Ist da noch frei, gnädiges Fräulein?«

      Da war etwas in ihr, was sie zögern ließ. Eine Art Vorahnung, flüchtig und nur schwer in Worte zu kleiden.

      Der Waggon war leer, wozu also das Getue. Von wegen gnädiges Fräulein. Die Zeiten waren längst vorbei. Wenn der Kerl mit ihr anbandeln wollte, den Zahn würde sie ihm ziehen. Von Männern hatte sie die Nase voll, und zwar ein für alle Mal. Egal wer, die konnten ihr gestohlen bleiben. Im Moment wollte sie nur noch eins, auf direktem Weg nach Hause. Ein, zwei Bissen essen und vor dem Zubettgehen eine rauchen. Zu mehr war sie heute Abend nicht imstande. Einfach nur heim, ab in die Falle, Augen zu und nichts mehr sehen oder hören. Und wenn es Willy Fritsch persönlich gewesen wäre, sie hätte ihrem Idol einen Korb gegeben.

      Vielleicht lag es ja am Alter, aber nach der Spätschicht kam sie sich wie gerädert vor. Was Wunder auch, wenn man tagtäglich bis zum Umfallen malochte. Die Männer im Betrieb hatten einrücken müssen, die Ledigen zuerst, als Nächstes die Familienväter und zuletzt die Kollegen um die dreißig, also genau nach Plan. Ersatz war nicht in Sicht, und was die Fremdarbeiter aus den Ostgebieten betraf, die dachten nicht daran, sich aus Anhänglichkeit zum Führer ein Bein auszureißen. Wären auch schön dumm gewesen, wenn man es neutral betrachtete.

      Und so war es gekommen, wie die Kolleginnen und sie es vorausgesehen hatten. Das Gros der Arbeit blieb natürlich an ihnen hängen, wie zu Hause, so auch am Fließband in der Fabrik. Jeder an seinem Platz, die Frauen an vorderster Front, und sei das Rad im Getriebe der Kriegsmaschinerie auch noch so klein. Allzeit bereit, um Führer, Volk und Vaterland zum Sieg über das perfide Albion zur verhelfen. Selbst dann, wenn man vor Müdigkeit kaum noch geradeaus gehen oder sich auf das, was um einen herum vorging, konzentrieren konnte.

      Schuften an der Heimatfront, für gerade einmal 32 Reichsmark die Woche, Nachtzuschlag inklusive. Krankenversicherung selbstredend nicht.

      Das hatte sie sich immer schon gewünscht.

      »Ich störe doch nicht, oder?«

      Obwohl, von Gefahr konnte keine Rede sein. Im Schein der Notlampen, die das Abteil in mattblaues Zwielicht tauchten, konnte sie den Mann auf dem Mittelgang zwar kaum erkennen. Aber das wollte nicht viel heißen, wer weiß, vielleicht war er ja ganz nett. Und was die abgedunkelten Fenster betraf, derentwegen man sich wie im Zoo vorkam, Vorschrift war nun mal Vorschrift. Ob es einem in den Kram passte oder nicht, die Devise lautete, friss oder stirb. Wenn es eine Lektion gab, die sie nach acht Jahren Nazi-Diktatur gelernt hatte, dann diese.

      Und überhaupt, die ganze hirnlose Propaganda, und das, ginge es nach Goebbels, von der Wiege bis ins kühle Grab. »Der Feind sieht Dein Licht – verdunkeln!«, so stand es auf den Plakaten im Wartesaal geschrieben. Oder, noch einfühlsamer: »Licht ist Dein Tod!« Mit Verlaub, das war ja wohl ziemlich daneben, wenn nicht gar makaber. Die Luftwaffe über London, und dann so etwas. Wer da nicht stutzig wurde, bei dem war alles zu spät. Entweder es stimmte und die Nazis waren auf der Siegerstraße, oder es handelte sich um billige Parolen. Wahr oder nicht, im Sprücheklopfen waren die Parteibonzen Meister, das musste ihnen der Neid lassen. Auch wenn es kein Mensch mehr hören konnte, sie selbst am allerwenigsten.

      Eins ließ sich nicht bestreiten, ob mit oder ohne rosa Brille. Der Krieg war längst noch nicht gewonnen, und wenn sich Goebbels auf den Kopf stellte, um den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Eines nicht allzu fernen Tages würde der Mephisto des Dritten Reiches die Quittung für das Blendwerk bekommen, darauf ging sie jede Wette ein.

      Gedämpftes Licht, so weit das Auge des Betrachters reichte. Und nur handtellergroße Gucklöcher, um einen Blick aus dem Abteilfenster zu werfen. Merkwürdig, dass sie gerade jetzt, kurz vor dem Einnicken, den Wunsch nach Kontakt zur Außenwelt verspürte. Das sollte mal jemand verstehen, zumal sie jeden Quadratmeter entlang der Strecke kannte. Der Mond, hier und da ein paar Sterne, eine Limousine mit Abblendlicht, wie ein Trugbild von der Dunkelheit verschluckt, Umrisse von Lagerhallen, Fabrikschloten und Mietskasernen, warmes Licht hinter notdürftig abgedunkelten Fenstern, mehr wäre nicht zu erspähen gewesen. Und trotzdem war da dieser Drang, aus dem hermetisch abgeschotteten Abteil zu verschwinden, in Karlshorst oder wo auch immer auszusteigen und den Rest der Strecke zu Fuß zu gehen.

      An sich war der Gedanke absurd, denn wer weiß, was für Typen sich da draußen rumtrieben. Ob an dem Gerücht, ein Serienmörder laufe immer noch frei herum, etwas dran war, nun ja, das wollte sie nicht herausfinden.

      Schuld an dem Schlamassel war der Krieg, mit der Meinung stand sie nicht allein. Selbst hier, in einem Abteil 2. Klasse auf der Strecke zwischen Erkner und dem Ostkreuz, hinterließ der Schlamassel seine Spuren. Um gegen Angriffe aus der Luft gefeit zu sein, so die Flut an Propagandaplakaten, dürfe kein Fitzelchen Licht aufblitzen. So weit, so gut. Das Gleiche galt für ihre Datsche, unweit des Betriebsbahnhofes in Rummelsburg gelegen und nur einen Katzensprung von der Haltestelle entfernt. Raus aus der S-Bahn, im Eiltempo durch die Unterführung, über die Fußgängerbrücke und den asphaltierten Weg am Rand des Bahndamms entlang. Und schon war sie in Nullkommanichts zu Hause. Dort, in der spartanisch möblierten Wohnlaube, hatte sie sich nach ihrer Scheidung mit den Kindern verschanzt, der Not gehorchend – und aus Angst, von einem Choleriker im Suff halb tot geprügelt zu werden.

      »Ihnen ist doch nicht etwa schlecht, oder?«

      Sie verneinte, und beim Klang der sonoren Stimme, Reminiszenz an den Kavalier alter Schule, löste sich ihr Unbehagen in Wohlgefallen auf. Der Mann würde ihr schon nichts tun, und wenn doch, sie würde sich ihrer Haut zu wehren wissen.

      »Bitte!« Zu mehr und einer halbherzigen Geste konnte sie sich nicht durchringen, und als habe er mit nichts anderem gerechnet, nahm der Mann auf der gepolsterten Sitzbank Platz.

      Gepflegte Manieren, stattlich, um nicht zu sagen attraktiv, vom Akzent her zwischen Masuren und Baltikum anzusiedeln, Arier wie aus dem Bilderbuch, dunkle Handschuhe, die Uniform der Reichsbahn tadellos in Schuss, kurzum: die Seriosität in Person. Von finsteren Absichten, geschweige denn Mordlust, keine Spur.

      Hinter allem und jedem den Teufel vermuten, das sah ihr wieder mal ähnlich. Nicht jeder Mann, der mit der S-Bahn fuhr, hatte es auf Frauen abgesehen. Und nicht jeder Mann war so brutal wie das versoffene Wrack, auf das sie vor achteinhalb Jahren reingefallen war.

      Das nur zum Thema Ängste, von denen sie ganze Arien schmettern konnte. Dass es jedoch Männer gab, die ihre schlimmsten Befürchtungen übertrafen, darauf wäre sie nie gekommen.

      Auch jetzt nicht, trotz ungutem Gefühl.

      Um auf Distanz zu gehen, warf sie einen Blick auf die Uhr. Im kalten Zwielicht, das dem Ambiente einen bizarren Beigeschmack verlieh, konnte sie die Ziffern zwar kaum erkennen. Doch die Geste erfüllte ihren Zweck.

      Zumindest vorübergehend.

      Schwarze Handschuhe, und das bei milden Temperaturen. Die rechte Hand deutlich größer als die linke, spitz wie die Klauen eines Wolfs. Und dann erst dieser Blick,

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