Скачать книгу

der Toten sorgfältig mit der Frömmigkeit der Tochter. Ihre größte Angst war, sie ewig zu suchen und nie zu finden.

      Irgendwann tauchten die Namen ihrer Eltern schließlich doch auf. Peis erster Gedanke galt ihr selbst: dass sie nun nicht mehr »politisch geschwärzt« war, dass sie jetzt das Land verlassen durfte. Chang Yong und Chang Anyi waren beide rehabilitiert, zweiundzwanzig Jahre nach ihrem Verschwinden. Ihre Namen fanden sich in einer Liste in der Zeitung, in der Spalte mit den politisch Geläuterten, und ein offizieller Brief vom Büro für öffentliche Sicherheit folgte.

      Pei Xing fühlte nichts, als sie ihn endlich las. Sie beantragte die Rückgabe ihres Eigentums und Bodens und erhielt stattdessen eine kleine Summe. Dann schrieb sie ihrem Bruder in Australien und fragte ihn, ob sie zu ihm kommen dürfe. Als sie zur Behörde in Xuijiahui ging, um Papiere für sich und ihren Sohn zu besorgen, fiel es ihr schwer, von einem »Familientreffen« zu sprechen, ohne sich ihre Aufregung anmerken zu lassen. Der Beamte hinter dem Schreibtisch, ein Mann so dürr wie ein Stecken und mit dem Gesicht eines vertrockneten Pfirsichs, notierte ihr Geburtsdatum – 26. Dezember, der Geburtstag des großen Vorsitzenden Mao –, hob eine Augenbraue und lächelte. Pei Xing war Bemerkungen über ihr verheißungsvolles Geburtsdatum gewohnt. Doch der Beamte sagte nichts. Er unterzeichnete die Papiere und reichte sie ihr. Pei Xing verließ rasch die Behörde, ohne ihm zu danken.

      Doktor Shiwago ist voller Schnee. Shiwago reist mit seiner Frau Tonja in einem Güterwaggon, und die Reise ist deshalb bemerkenswert, weil der Schnee ihr Fortkommen beeinträchtigt und in Form von Metaphern Eingang in die Gedanken des Helden findet. Zunächst sind die Schneeflocken wie Wolle, verdichten sich dann aber zu einem weißen Bühnenvorhang, so breit wie die Straße, er wird langsam herabgelassen und schwingt an den Rändern. Im Scheinwerferlicht des Zuges wird Schnee zum lodernden Feuer, und er bedeckt das Land wie eine Daunendecke den Kopf eines Kindes in der Wiege. Und dann war da ein Abschnitt, den ihr Vater vorgelesen hatte. Shiwago liegt in dem feststeckenden Zug, hört ein Geräusch wie von einem Wasserfall und merkt, dass urplötzlich Frühling in der Luft liegt, die Zeit, in der Schneeflocken noch im Fallen schwarz werden.

      Der Dichter denkt: etwas Durchsichtiges, Duftendes. Faulbaumblüten!

      Pei Xing erinnerte sich an diesen Satz, weil ihr Vater ihn ihr wie ein Gedicht beigebracht hatte, nachdem er mit ihr über die Übersetzung von »Schnee« gesprochen hatte. Wenn sie in Not war, sagte sie ihn auf: etwas Durchsichtiges, Duftendes. Faulbaumblüten! Da waren so viele – vor allem unwahrscheinliche – Wörter für Schnee; die Satzmelodie gab ihr auf geheimnisvolle Weise Nahrung und Kraft.

      Hier, hier und jetzt, gab es keine Not. Da waren nur die ungebetene Erinnerung und die vorüberfliegenden Vorstädte. Aber was Pei Xing vom Zug aus sah, war größtenteils unschön. Die Rückseiten der Häuser mit ihren klapprigen Zäunen, die Stromleitungen, das Graffiti, die flüchtigen Einblicke in von Hypotheken belastete Leben. Da waren verrostete Autokarosserien, Unkrautgestrüpp, drumherum Abfall, aufrührerische Vegetation und üppige urbane Brachflächen. Ein Einkaufswagen war mit schuldbewusster Hast in einen Rinnstein geschoben; aus dem vorüberrasenden Zug sah er aus wie ein Tierkäfig. Noch mehr Graffiti, gekritzelte, rätselhafte, unleserliche Botschaften. Ein junger Mann, vielleicht ein mutiger junger Mann, war nachts über den Maschendrahtzaun geklettert und hatte die Stadt mit egomanischen Zeichen versehen, einer protzigen Signatur, zur Aneignung.

      Pei Xing hatte keine Freude an der Fahrt und vergrub sich meist in der Lektüre. Aber die Bewegung gefiel ihr. Sie mochte das Gefühl, sich fortzubewegen.

      Catherine Healy erwachte an jenem Morgen in blendendem Licht. In einer so strahlenden Stadt zu sein. Einer so leuchtenden Stadt. Sie stand auf dem kleinen Balkon, von warmer Luft umfangen, das Gesicht dem Sonnenschein zugeneigt. In Dublin gab es solches Licht nie. Nicht einmal am sonnigsten Tag.

      In der Wohnung in Darlinghurst, die hinter einer riesigen Coca-Cola-Werbetafel lag, war Catherine um acht Uhr aufgewacht. Von hier aus sah man die William Street, die in die Stadt führte, aber nicht zum Hafen. Hier fragte jeder: Haben Sie Hafenblick?

      Sie wollte Luc anrufen, nur um zu sagen: Ach, wie schön die Sonne scheint!

      Und im Dunkeln ist da diese Werbetafel, altmodischer Kitsch, eine leuchtende Wand aus beweglichen roten Streifen und geschwungener weißer Schrift, wie aus einem typisch amerikanischen Film, in der Regie von Altman … und man sieht sie meilenweit entfernt, mein persönlicher Orientierungspunkt, meine eigene elektrische Werbung – und wer hätte das gedacht, ein Mädchen aus dem Pearse Tower, ein Mädchen aus Ballymun…

      Dieseldämpfe und Benzingestank hingen in der Luft, und der Verkehr toste die abschüssige William Street rauf und runter, ins Zentrum und wieder hinaus. Catherine war erst seit zwei Wochen in Sydney, und ihre Unterkunft war geborgt und provisorisch. Jemand aus der Redaktion hatte sie eingeladen, auf die Wohnung aufzupassen; schon bald würde sie mit der Suche nach einer eigenen Bleibe beginnen. Einstweilen aber gefiel ihr diese künstliche Form des Campens, das Leben mit den unvertrauten Möbeln und dem Kleinkram und der Kleidung einer anderen Person im Schrank. Es war wie Urlaub oder ein Traum, etwas, das ihr gestattete, spontan und ungebunden zu sein. Wenn sie an ihre vier Schwestern, ihre Mutter in Dublin und an ihren lieben Bruder Brendan dachte, Gott hab ihn selig, glaubte sie, frei zu sein. Die Einzige, die entkommen war.

      Catherine stand auf, duschte und zog sich ein weites dunkelblaues Sommerkleid über den Kopf. Sie betrachtete sich kurz im Spiegel und entschied sich gegen Lippenstift. Sie würde auf der Macleay Street frühstücken und dann zum Bahnhof laufen. Sie wollte zum Circular Quay, wollte Samstagstouristin werden. Sie würde sich einen Sonnenbrand holen.

      Neben einem Brunnen, der einer Pusteblume glich, einer Kugel unter Wasser, lodernd und extravagant, trank Catherine ein Glas Soja-Latte und pickte an einem krümeligen Croissant. Da war eine Kellnerin mit Dreadlocks und schwarzer Hose, die ungezwungen fröhlich wirkte. Die Kundschaft bestand aus gut aussehenden, hauptsächlich jüngeren Paaren, Leuten, die den Tag im Fitnessstudio begannen oder schnellen Schritts ein Hündchen Gassi führten. Jogginganzüge, Pferdeschwänze, eine kleine kecke Kappe – es gab sie überall, diese Sorte, in Ranelagh und Rathgar, in Camden und Notting Hill, mit der Samstagszeitung in der Sonne in Potts Point.

      Catherine saß still da und dachte daran, was für ein Glück sie hatte, als würde ein Teil von ihr glauben, sie habe es nicht verdient, es sei reiner Zufall, wie ein Lotteriegewinn, durch den sie plötzlich reich geworden war. Sie genoss das unglaubliche Wetter und ihre Freiheit. Durfte sich eine Auswanderin so fühlen? Trotz allem, was sie hinter sich herzog, verlorene Familien und Länder, so gab es doch auch das Gefühl, ein neuer Himmel könne ein Licht der Offenbarung auf sie werfen. Neben Catherine blitzte der Brunnen, und sie fand ihn sehr beschaulich. Mammy hätte er sehr gefallen. Und Mary. Und Philomena. Und Claire. Und Ruthy. Ganz besonders Ruthy. Und Brendan auch, bevor ihn der Unfall aus dem Leben riss und er lange vor seiner Zeit auf dem Glasnevin Cemetery landete.

      Catherine hatte plötzlich Lust auf Rührkuchen und Kartoffeln und sah die Ringstraße vor sich, grau und trist und voller riesiger Laster, die halsbrecherisch durch Regen und Nebel rasten.

      Der Mann, der Catherine am nächsten saß, schlug seine Zeitung auf, und sie betrachtete die Titelseite. Wieder waren irgendwo Bomben explodiert. So viel wusste sie, dass es immer irgendwo einen Bombenanschlag gab. An Catherines zehntem Geburtstag, am 12. Oktober 1984, hatte die IRA einen Anschlag auf das Grand Hotel in Brighton verübt, in der Hoffnung, Margaret Thatcher zu ermorden, und seither war ihr Geburtstag immer mit dieser Geschichte verbunden, die Politik und die Männer und der absolute Wahnsinn dieser ganzen Bombenlegerei hatten sich ihrer bemächtigt. Tagelang waren die Zeitungen und das Fernsehen voll davon – fünf Tote, natürlich war das nichts im Vergleich mit dem Irak jetzt –, aber Catherine hatte damals entdeckt, dass all das, wonach sie sich an ihrem Geburtstag sehnte, im Großen und Allgemeinen gar nichts bedeutete. Die zweitjüngste von fünf Schwestern zu sein, war schlimm genug; sie würde sich immer von anderen und deren Plänen überrannt fühlen. Doch an diesem Tag fing sie an, über Politik nachzudenken, an eine Geschichte, die anders war als Irish Eyes Are Smiling. Sie und Brendan – sie waren sich sehr

Скачать книгу