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> Der neue Sonnenwinkel – 81 –

      Ein anhaltendes Schrillen zerriss die Stille des Augenblicks. Es hörte einfach nicht auf. Und genau das war es, was die junge Ärztin Roberta Steinfeld in die Realität zurückbrachte. Sie öffnete beinahe widerwillig ihre Augen. Und da wurde Roberta bewusst, dass sie in ihrem Bett lag. Sie schreckte hoch. Aber wieso? Da konnte etwas nicht stimmen. Was hatte das zu bedeuten?

      Wimmernd sank sie zurück auf ihr Kissen. Ihre Gedanken begannen, sich im Kreis zu drehen, flatterten durcheinander wie aufgescheuchte Hühner, in deren Stall ein Fuchs eingedrungen ist. Ihr Herz klopfte laut und unregelmäßig.

      Das Telefon klingelte unaufhörlich, schrill und fordernd. Roberta nahm es noch immer nicht bewusst wahr. Sie begriff immer mehr, dass es keine wundervolle Wirklichkeit gab, sondern, dass es nicht mehr gewesen war als ein Traum, aus dem sie am liebsten niemals mehr aufgewacht wäre. Lars war bei ihr gewesen. Lars, die Liebe ihres Lebens, ihr Seelenmensch. Und jetzt war er nicht mehr da. Sie war allein und fühlte sich unendlich einsam, schutzlos, verlassen.

      Frau Dr. Roberta Steinfeld war eine sehr erfolgreiche, toughe Ärztin, die mitten im Leben stand und so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen war. Sie gehörte zu den Menschen, die alles im Griff hatten. Jetzt stand sie total neben sich, hatte den Boden unter den Füßen verloren.

      Wie war es möglich gewesen, einen derart realistischen Traum gehabt zu haben?

      Roberta atmete ganz tief durch, versuchte, sich an die Ereignisse der letzten Stunden zu erinnern. Es hatte damit begonnen, dass sie ins Bett gegangen war, nachdem sie einen entspannten und sehr ruhigen Abend verbracht hatte, vollkommen unaufgeregt.

      Später war sie ins Bett gegangen und war auch sofort eingeschlafen. Irgendwann mitten in der Nacht war sie durch einen Anruf ihrer Freundin Nicki aufgeweckt worden. Nicki war von ihrer Reise aus Japan zurück und hatte noch vom Flughafen aus angerufen. Sie hatte nicht warten können. Sie musste ihrer Freundin Roberta sofort und voller Überschwang verkünden, dass für sie ein Traum in Erfüllung gegangen war. Sie hatte Lennart Hegenbach, den berühmten Bildhauer, nicht nur auf einer Geschäftsreise begleitet, nein, sie waren ein Paar geworden und Nicki war am Ziel ihrer Wünsche angekommen und glücklich wie nie zuvor. Es war doch klar, dass sie diese wundervolle Neuigkeit sofort mit ihrer allerbesten Freundin teilen musste, ganz gleichgültig, wie früh oder spät es auch war. So war sie halt, die Nicki. Roberta konnte ihr deswegen auch überhaupt nicht böse sein. Sie hatte sich mit Nicki aufrichtig gefreut. Bis dahin war alles gut gewesen. Doch was war danach geschehen?

      Wirklichkeit und Traum begannen sich miteinander zu vermischen. Roberta hatte sehr große Mühe, es auseinanderzuhalten. Doch das konnte ihr nur gelingen, wenn sie ganz ruhig blieb, ihre Gedanken wieder auf die Reihe brachte. Einfach war es nicht. Und irgendwie war sie auch sauer auf sich, weil dieser Traum, und mehr war es ja leider nicht gewesen, sie so sehr aus der Spur brachte. Also, noch einmal ganz von vorne und ganz ruhig!

      Das mit dem zu Bett gehen konnte sie sich ersparen, auch Nickis Anruf. So weit wusste sie ja Bescheid.

      Doch danach? Was war dann gewesen? Verflixt noch mal, sie wiederholte sich. Darüber musste sie sich wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Sie hatte noch ein wenig an Nicki gedacht, an das, was ihre Freundin hervorgesprudelt hatte. Sie hatte über deren glückliche Aufgeregtheit gelächelt, sich von ganzem Herzen für sie gefreut, und dann … dann war sie wieder eingeschlafen.

      War dieses Telefonat vielleicht der Auslöser für das, was danach geschehen war?

      Roberta kannte sich mit sehr vielem aus. Träume, Traumdeutungen, Auslöser für Träume gehörten nicht dazu. Aus diesem Grund verwarf sie diesen Gedanken auch sofort wieder. Es gab keinen Zusammenhang. Zu träumen, das war nicht außergewöhnlich. An manche Träume erinnerte man sich, an manche nicht. Es gab also überhaupt keinen Grund dazu, jetzt einen Film daraus zu machen. Doch so leicht ließ es sich nicht beiseiteschieben. Es beunruhigte Roberta ziemlich, weil es ein so realistischer Traum gewesen war, in dem sie zunächst aufgestanden war, sich geduscht und Kaffee gekocht hatte. Und dann hatte es an der Haustür geklingelt. Sie war zur Tür gegangen, hatte die geöffnet …

      Robertas Herzschlag beschleunigte sich erneut. Sie stockte, schluckte, begann zu zittern. Es war kaum auszuhalten. Ihre Augenlider begannen zu flattern. Sie war nicht mehr sie selbst. Dennoch hielt sie es aus. Sie musste es erneut erleben.

      Lars hatte vor der Haustür gestanden. Sie hatte ihn regelrecht ins Haus gezerrt. Das sah sie so deutlich vor sich, als sei es gerade erst geschehen. Verrückt, dass sie an eine solche Banalität dachte. Mehr noch erinnerte sie sich allerdings an das, was danach geschehen war … Lars und sie hatten sich ganz tief in die Augen geschaut, danach waren sie sich in die Arme gefallen. Und die Worte, die Lars dann zu ihr gesagt hatte, würde Roberta niemals mehr in ihrem Leben vergessen. Die hatten sich unauslöschlich in ihr eingebrannt.

      »Nur die Gedanken an dich haben mich leben lassen, du Liebe meines Lebens.«

      Danach hatten sie sich wie zwei Verdurstende geküsst, und die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen. Alles war vergessen, es gab nur noch sie, sonst nichts, und das war mehr als genug gewesen.

      Ging es eigentlich überhaupt noch deutlicher? Konnte man so etwas träumen? Nein, das erlebte man, das war Wirklichkeit.

      Normalerweise, musste sie leider sofort einschränken, denn es war leider dennoch nur ein wunderschöner Traum gewesen, der für einen Moment wie wirklich erlebt für sie gewesen war. Der Traum lebte in Roberta nach. Wenn sie die Augen schloss, spürte sie Lars, seine Nähe, ja sogar seine Wärme, seine ganze unglaubliche Präsenz, die sie immer in ihren Bann gezogen hatte, weil Lars ein besonderer Mensch gewesen war.

      Sie musste damit aufhören! Aber jetzt dachte sie schon wieder als Vergangenheit von ihm.

      Man ging nicht mit geschlossenen Augen durchs Leben. Und man flüchtete sich nicht in das, was es nicht gab, nicht geben konnte. In diesem Moment war Roberta nicht die erfolgreiche, kluge Ärztin, nicht die hervorragende Diagnostikerin, die häufig selbst ihre Kolleginnen und Kollegen verblüffte. Sie war eine Frau, die die Liebe ihres Lebens verloren hatte, die für einen Wimpernschlag, wenn auch nur im Traum, zu ihr zurückgekehrt war.

      Lars … Lars … Lars …

      Die Realität sah völlig anders aus. Da hatte er sich davongemacht. Und das auf eine Weise, die zu ihm passte. Er war einfach verschwunden, irgendwo im Nirgendwo, inmitten seiner geliebten Eisbären, über die er geforscht, über die er geschrieben hatte und die ihm vermutlich am Ende zum Verhängnis geworden waren.

      »Nur die Gedanken an dich haben mich leben lassen, du Liebe meines Lebens.«

      Sie hielt sich die Ohren zu!

      Roberta konnte es nicht verhindern, dass ihre Gedanken in eine Richtung gingen, die nicht gut für sie war. Sie konnte es einfach nicht lassen.

      Und wenn dieser Traum nun so etwas wie ein Hilferuf gewesen war? Wenn Lars wollte, dass wieder nach ihm gesucht wurde?

      Seelen, die miteinander verbunden waren, konnten auch miteinander kommunizieren. Zumindest war Nicki felsenfest davon überzeugt.

      Roberta wusste, dass solche Gedanken mehr als gefährlich waren, weil sie einen aus der Realität herauskatapultierten. Alles, was ihr jetzt durch den Kopf schoss, war Wunschdenken. Die Realität war eine ganz andere, denn man hatte nach Lars gesucht, lange und gründlich, vergebens. Man hatte nichts von Lars und seinem Begleiter gefunden.

      Es war so gewesen, als wären sie niemals dort gewesen, wo sie hätten sein sollen.

      Solveig, seine Schwester, seine einzige Angehörige, die Lars wirklich sehr geliebt hatte, war schließlich irgendwann realistisch genug gewesen, Lars für tot erklären zu lassen. Er lebte nicht mehr. Das musste Roberta sich vor Augen führen, und das war es doch auch, was sie vor diesem irritierenden Traum akzeptiert hatte, wenn auch schweren Herzens.

      Aber wenn dieser Traum nun doch etwas wie Wahrheit war?

      Ihre Freundin Nicki warf mit Begriffen wie ›ein Zeichen‹, ›Vorbestimmung‹ und ähnlichem nur so herum. Roberta hatte das immer belächelt. War sie voreilig gewesen? Wenn es ein Zeichen gewesen war? Wenn man nur zugänglich sein musste für das Unvorstellbare?

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