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seine Schwestern ihm folgten, wozu es oft überhaupt nicht kam, weil Mary Ann in dieser Hinsicht nicht sein Beispiel nachahmte: Sich auf dem Boden herumzuwälzen, zog sie jedem anderen Zeitvertreib vor. Wie ein bleiernes Gewicht ließ sie sich fallen, und wenn es mir mit vieler Mühe gelungen war, sie hochzuziehen, musste ich sie immer noch mit einem Arm aufrecht halten, während ich mit der anderen Hand das Buch hielt, aus dem sie ihre Lektion lesen oder buchstabieren sollte. Wenn das ganze Gewicht des großen sechsjährigen Mädchens für den einen Arm zu schwer wurde, hielt ich sie mit dem anderen, oder, wenn beide von der Last lahm waren, schleppte ich sie in eine Ecke und sagte ihr, sie dürfe aufstehen und herauskommen, wenn ihr klar geworden wäre, wozu Füße zu gebrauchen seien; aber im Allgemeinen blieb sie lieber bis zum Mittagessen oder Tee wie ein Hund dort liegen, um dann – ich konnte ihr ja nicht die Mahlzeiten vorenthalten und musste sie gehen lassen – mit einem triumphierenden Grinsen auf ihrem runden, roten Gesicht hervorzukriechen. Oft weigerte sie sich hartnäckig, ein bestimmtes Wort ihrer Lektion auszusprechen; und heute tut es mir leid um die vergebliche Mühe, die mich der Versuch gekostet hat, ihren Starrsinn zu brechen. Wenn ich alles als nebensächlich behandelt und übergangen hätte, anstatt, wie ich es tat, umsonst zu versuchen, die Schwierigkeiten zu überwinden, wäre es für beide Seiten besser gewesen. Aber ich hielt es für meine unbedingte Pflicht, diese schlechte Veranlagung im Keim zu ersticken, und das war es ja auch, wenn ich es nur vermocht hätte; und wären meine Befugnisse nicht so begrenzt gewesen, hätte ich sicher Gehorsam erzwingen können, aber wie die Dinge lagen, war es ein einziger Machtkampf zwischen ihr und mir, aus dem sie im Allgemeinen siegreich hervorging, und jeder Sieg trug dazu bei, sie für den nächsten Zwist zu ermutigen und zu stärken. Vergebens argumentierte, schmeichelte, flehte, drohte, schimpfte ich; vergebens hielt ich sie im Haus und vom Spiel fern oder lehnte es ab, wenn ich dazu gezwungen war, sie mit nach draußen zu nehmen, mit ihr zu spielen, freundlich mit ihr zu sprechen oder überhaupt etwas mit ihr anzufangen; vergebens versuchte ich, ihr die Vorteile vor Augen zu führen, die es für sie hätte, wenn sie gehorchte und dafür geliebt und gut behandelt würde, und die Nachteile, wenn sie auf ihrem dummen Eigensinn bestünde. Wenn sie mich manchmal bat, das eine oder andere für sie zu tun, antwortete ich:

      »Ja gern, Mary Ann, wenn du nur erst das Wort sagst. Komm, am besten sagst du es gleich und hast keinen Ärger mehr damit.«

      »Nein.«

      »Dann kann ich natürlich auch nichts für dich tun.«

      Als ich so alt war wie sie oder noch jünger, war es die schlimmste aller Strafen für mich, wenn man sich nicht um mich kümmerte und mir die Zuneigung entzog, aber auf sie machte derlei keinen Eindruck. Manchmal, wenn ich mich bis zum Äußersten verausgabt hatte, schüttelte ich sie heftig bei den Schultern, zog an ihrem langen Haar oder stellte sie in die Ecke, wofür sie mich mit lautem, schrillem Geschrei bestrafte, das wie ein Messer in meinen Kopf stach. Sie wusste, dass ich das hasste, und wenn sie aus Leibeskräften geschrien hatte, sah sie mich mit rachsüchtiger Genugtuung an und rief: »Na, sehen Sie, das ist für Sie!« Und dann schrie sie immer wieder, bis ich mir die Ohren zuhalten musste. Dieses fürchterliche Gekreische veranlasste Mrs. Bloomfield häufig, heraufzukommen und zu fragen, was denn los sei.

      »Mary Ann ist ein ungezogenes Mädchen, Madam.«

      »Aber weshalb dieses schreckliche Geschrei?«

      »Sie schreit aus Zorn.«

      »Noch nie habe ich ein so fürchterliches Gebrüll gehört! Sie werden sie noch umbringen. Warum ist sie nicht mit ihrem Bruder draußen?«

      »Ich kann sie nicht dazu bringen, ihre Aufgaben zu beenden.«

      »Aber Mary Ann muss doch ein braves Mädchen sein und ihre Aufgaben machen.« Dies sagte sie in sanftem Ton zu dem Kind. »Und ich werde hoffentlich nie mehr ein derart schreckliches Geschrei hören!«

      Und dann heftete sie ihre kalten, starren Augen mit einem unmissverständlichen Blick auf mich, schloss die Tür und ging wieder.

      Ab und zu versuchte ich, das kleine störrische Wesen zu überrumpeln, und fragte beiläufig nach dem Wort, während sie an etwas anderes dachte, und häufig fing sie auch wirklich an, es auszusprechen, um dann plötzlich mit einem herausfordernden Blick innezuhalten, der zu besagen schien: »Pah! Für Sie bin ich doch etwas zu schlau, und Sie kriegen es auch mit List nicht aus mir heraus.«

      Bei einer anderen Gelegenheit gab ich vor, das Ganze zu vergessen, und redete und spielte mit ihr wie immer bis zum Abend, als ich sie zu Bett brachte. Während sie zufrieden lächelnd und gut gelaunt dalag, beugte ich mich, bevor ich ging, über sie und sagte so heiter und freundlich wie zuvor:

      »Komm, Mary Ann, sag das Wort, und dann gebe ich dir deinen Gutenachtkuss; du bist jetzt ein braves Mädchen und willst es bestimmt sagen.«

      »Nein, ich will nicht.«

      »Dann kann ich dir auch keinen Kuss geben.«

      »Das macht mir nichts aus.«

      Umsonst brachte ich meinen Kummer zum Ausdruck; umsonst wartete ich auf ein Zeichen von Reue. Es machte ihr wirklich nichts aus, und ich ließ sie im Dunkel allein, während mich dieser letzte Beweis gefühlloser Halsstarrigkeit am allermeisten beschäftigte. Ich konnte mir keine schmerzlichere Strafe in meiner Kindheit vorstellen, als wenn meine Mutter mir den Gutenachtkuss verweigert hätte; allein der Gedanke war schon schrecklich. Und mehr als den Gedanken daran hatte ich nie kennengelernt, denn zum Glück hatte ich nie einen Fehler begangen, der einer solchen Strafe für wert erachtet worden wäre; aber ich erinnere mich, dass meine Mutter es einmal für angebracht gehalten hatte, wegen eines Vergehens meiner Schwester diese Strafe über sie zu verhängen: Was sie fühlte, weiß ich nicht; aber meine Tränen des Mitgefühls mit ihr werde ich nicht so bald vergessen.

      Ein anderer störender Zug an Mary Ann war ihr nicht zu bändigender Hang, ins Kinderzimmer zu laufen und mit ihren kleinen Schwestern und dem Kindermädchen zu spielen. Das war ganz normal, aber da es gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Mutter geschah, verbot ich es ihr natürlich und tat mein Möglichstes, sie bei mir zu halten. Aber das erhöhte nur ihre Freude am Besuch des Kinderzimmers, und je mehr ich mich bemühte, sie von dort fernzuhalten, umso öfter ging sie hin, umso länger blieb sie: zum großen Missfallen von Mrs. Bloomfield, die, wie ich wohl wusste, mir die Hauptschuld daran anlasten würde. Eine weitere Plage war das morgendliche Ankleiden: Einmal wollte sie sich nicht waschen lassen, ein andermal nicht anziehen, wenn sie nicht ein ganz bestimmtes Kleid tragen durfte, von dem ich aber wusste, dass ihre Mutter nicht wollte, dass ich es ihr gab; ein drittes Mal schrie sie und lief weg, wenn ich versuchte, ihre Haare auch nur anzurühren. Wenn ich es schließlich mit viel Mühe und Anstrengung geschafft hatte, sie hinunterzubringen, war das Frühstück oft schon halb vorüber, und finstere Blicke von »Mama« und gereizte Bemerkungen von »Papa« in meine Richtung, wenn nicht direkt an mich gerichtet, waren gewiss mein Lohn; denn nur wenig ärgerte Letzteren so sehr wie der Mangel an Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten. Zu den kleineren Ärgernissen zählte schließlich mein Unvermögen, Mrs. Bloomfield hinsichtlich der Kleidung ihrer Tochter zufriedenzustellen; und das Haar des Kindes »konnte man einfach nicht ansehen«. Manchmal, und darin lag ein ausdrücklicher Vorwurf gegen mich, übernahm sie höchstpersönlich das Amt der Ankleidefrau, wobei sie sich bitterlich über die Mühe beklagte, die sie das kostete.

      Als die kleine Fanny mit ins Schulzimmer kam, hoffte ich, dass wenigstens sie lieb und harmlos wäre, aber ein paar Tage, ja, ein paar Stunden genügten, um meine Illusion zu zerstören: Ich merkte, dass sie ein boshaftes, unlenksames kleines Geschöpf war, das bereits in diesem zarten Alter mit Lüge und Betrug vertraut und darauf versessen war, ihre beiden Lieblingswaffen Angriff und Verteidigung einzusetzen, nämlich denjenigen ins Gesicht zu spucken, die sich ihren Unwillen zuzogen, und wie ein Stier zu brüllen, wenn ihre unsinnigen Wünsche nicht erfüllt wurden. Da sie sich normalerweise in Gegenwart ihrer Eltern ganz ruhig verhielt und diese den Eindruck hatten, sie wäre ein ausgesprochen braves Kind, glaubten sie ihrer Scheinheiligkeit bereitwillig, und ihr lautes Gebrüll weckte in ihnen den Verdacht, dass ich sie grob und ungerecht behandelte. Wenn dann schließlich selbst die Eltern in ihrer Voreingenommenheit auf den schlechten Charakter des Kindes aufmerksam wurden, spürte ich, dass sie alles mir zuschrieben.

      »Was

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