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ion> Mami Bestseller – 55 –

      Imposanter, eindrucksvoller und herrlicher denn je wölbte sich die mächtige Vorderfront des Reichenbachschen Palais’ in der untergehenden. Sonne.

      Unweit des Rondells, mit seinen Springbrunnen, seinem sanften Vorfrühlingsgrün und seinen gepflegten weißen Kieswegen, verborgen hinter einer Taxushecke, stand eine Frau und starrte zu den unzähligen rund gebogenen, glänzenden Fensterscheiben hinüber.

      Zwanzig Jahre lang war sie nicht hier gewesen. Zwanzig Jahre lang hatte sie das Reichenbachsche Palais nicht gesehen. Zwanzig Jahre lang hatte sie die Erinnerung daran verdrängt.

      In der Tat, sie hatte es fast vergessen gehabt.

      War das Rondell damals schon ein öffentlicher Park gewesen? Sie zuckte unwillkürlich die Schultern und seufzte leicht. Sie wußte es nicht mehr, nein, sie wußte vieles nicht mehr. Zu intensiv hatte das Leben nach ihr gegriffen in diesen zwanzig Jahren.

      Zu sehr war sie bestrebt gewesen, das Palais hinter sich zu lassen und damit die Menschen, die es bewohnten.

      Noch einmal schweifte ihr Blick über die blaßgelbe Fassade, das besonnte Rondell mit den Springbrunnen und den leicht begrünten Rosenbüschen, dann wandte sie sich ab. Der Wagen wartete an der nächsten Straßenecke.

      »Wenn ich nur wüßte«, sagte ihr Begleiter halb zu sich selbst, »was dich bewogen hat, heute hierher zurückzukehren.«

      »Wenn ich das wüßte, Fedja«, seufzte die Frau und ließ sich in die dunklen Polster fallen, »dann wäre mir auch wohler. Es trieb mich hierher, mehr kann ich dir nicht sagen. Ich habe das Gefühl, es kommt etwas auf uns zu.«

      »Deinem Tonfall nach zu urteilen«, unterbrach sie der Mann am Steuer, »etwas Unangenehmes?«

      »Unangenehm?« sagte sie gedehnt. »Das ist nicht das richtige Wort. Etwas Schicksalhaftes, Fedja, etwas, was sich nicht aufhalten läßt.«

      »Hör mal«, murmelte er und sah sie kopfschüttelnd von der Seite an, »so habe ich dich noch nie reden hören, in diesem Ton, meine ich. Das paßt so gar nicht zu dir – das ist doch sonst nicht deine Art.«

      Sie lächelte vor sich hin.

      »Du kennst mich eben erst seit zwanzig Jahren. Aber vorher – hier im Palais – da war ich immer schon schicksalsgläubig. Heute ist mir wieder so zumute. Wahrscheinlich hat mich der bloße Anblick der Fassade in die Vergangenheit zurückversetzt.«

      »Dann laß dir sagen«, versetzte der Mann und startete den schweren Wagen, »daß du gut daran tust, jetzt schleunigst wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Wir haben nur drei Stunden Weg bis nach Hause.«

      Im Westen ging die Sonne unter und tauchte das Palais in strahlend goldenes Licht »Nach Hause«, wiederholte die Frau und hüllte sich fester in ihre Stola, »ja, nach Hause.«

      Sie sah sich nicht mehr um.

      *

      »Wendi«, segte Wendi Lippit und betrachtete ihr Gesicht im Ankleidespiegel, »was ist das bloß für ein Name. Hast du ihn jemals gehört, Lisette?«

      »Na, jeden Tag hundertmal, seit wir dich im Haus haben«, entgegnete die alte Frau mit dem weißen Löckchenkranz trocken, »genügt dir das nicht?«

      »Ach was, Lisette, du weißt genau, was ich meine. Niemand außer mir heißt so.«

      »Wer heißt heutzutage schon Lisette? Ich habe in den letzten dreißig Jahren auch keine getroffen, die diesen Namen trägt, außer mir natürlich. Und das reicht für mich allemal.«

      »Aber Lisette heißt Elisabeth, das weiß doch jeder. Kannst du mir sagen, was Wendi heißen soll?«

      Die alte Frau schaute etwas ratlos in den Spiegel und begegnete Wendis dunkelblauen runden Augen.

      Kinderaugen, auch heute noch, da sie zweiundzwanzig war. Kinderaugen, Märchenaugen, mal glänzend, mal trüb, mal verträumt, mal verschmitzt. Aber immer gläubig, vertrauensvoll, arglos. Kinderaugen…

      Lisette seufzte ein bißchen und legte den Stapel Wäsche aus der Hand, den sie gerade gebügelt hatte.

      »Tante Nora weiß es auch nicht«, murmelte Wendi und verrieb dabei Sonnenöl auf Stirn und Wangen, »sie meint, meine Mutter sei sehr jung und sehr kindlich gewesen, damals. Anders könne sie sich diesen ulkigen Namen nicht erklären.«

      »Mag sein, mag sein«, sagte Lisette hastig, um das Thema abzuschließen, das ihr, ganz im Gegensatz zu ihrer Chefin, immer noch peinlich war.

      Wenn’s nach ihr gegangen wäre, hätte Wendi nie erfahren, daß sie adoptiert worden war. Keiner hätte das jemals gemerkt. Sie wuchs als Kind des Hauses auf, und Lisette fand das nicht ganz in Ordnung, daß Nora Lippit mit Wendi von Zeit zu Zeit ganz unbefangen über die Tatsache sprach, daß sie nicht ihre leibliche Tochter war.

      So was tat man doch nur, wenn man damit rechnen mußte, daß Wendi dies von anderer Seite erfahren würde. Da aber außer ihr, der Lisette, niemand etwas darüber wußte, hätte Frau Lippit wahrhaftig nicht die Katze aus dem Sack zu lassen brauchen. Sie, Lisette, hätte sich eher die Zunge abgebissen, als jemals ein Sterbenswort über Wendis Herkunft verloren.

      »Wendi«, sagte Wendi abschätzend zu ihrem Spiegelbild, »wenn schon sonst nichts, einen vernünftigen Namen hätte sie mir wenigstens mitgeben können ins Waisenhaus.«

      Lisette zuckte ein wenig zusammen, wie sie es immer tat, wenn davon die Rede war.

      »Wenn dir so viel daran liegt«, meinte sie und kramte in Wendis Schmuck herum, der unaufgeräumt war wie immer, »dann bitte doch Frau Lippit, dir einen anderen Namen zu geben.«

      »Nein, Lisette, das geht nicht. Wenn sie das gewollt hätte, dann hätte sie es gleich getan, als sie mich adoptierte. Aber das wollte sie eben nicht. Sie nennt das Pietät meiner Mutter gegenüber, die mir diesen seltsamen Namen gab. Wenn eine Frau schon nicht die Möglichkeit hat, sagt Tante Nora, ihr Kind aufzuziehen, dann hat sie wenigstens das Recht, ihm einen Namen zu geben, den es sein Leben lang trägt.«

      »Also, ich weiß nicht«, murmelte Lisette aus den Tiefen des Schrankes, »eine Mutter, die ihr kleines Kind aussetzt, hat überhaupt keine Rechte auf irgend etwas, wenn du mich fragst. Ich finde das sündhaft.«

      »Aber Lisette, sie hat mich nicht ausgesetzt. Sie hat anscheinend alles versucht, um mich zu behalten, aber dann ging’s wohl nicht mehr. Als ich ein halbes Jahr alt war, brachte sie mich ins Waisenhaus, na ja, sie ließ sich natürlich auf nichts ein. Keine Fragen und so. Sie gab mich ab, samt meiner Babywäsche und dem Zettel mit meinem Vornamen, eben Wendi, und meinem Geburtsdatum, was ich wirklich nett finde, denn sonst wüßte ich ja gar nicht, wann ich Geburtstag hätte und wie alt ich genau wäre. Dann allerdings verschwand sie rasch und spurlos. Jesses, Lisette, was sollte sie denn machen? Sich ausfragen lassen? Sie war bestimmt in einer üblen Situation, sonst hätte sie mich behalten.«

      »Meinst du?«

      »Na klar. Tante Nora hat mir das erklärt. Früher war es eine schreckliche Schande für ein junges Mädchen, ein Baby zu bekommen. Denk nur dran, wie viele ins Wasser gegangen sind! Sie war sehr jung, das steht in meinen Akten, und sehr verzweifelt.

      Na siehst du, was sonst hätte sie mit mir machen sollen? Mich verhungern lassen? Nein, ich bin da nicht so. Ich nehme ihr das nicht übel. Tante Nora meint, es wäre noch das beste gewesen, mich dort abzugeben, wo ich wenigstens zu essen bekam.«

      Wendi drehte eine silberblonde Locke um den Finger und starrte nachdenklich auf ihre kleine Stupsnase.

      Die schemenhaften Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit hatten ihren Schrecken verloren.

      Auch das hatte Tante Nora erreicht. Aber die endlosen Korridore, die farblosen Wände, die ständig wechselnden Gesichter und Stimmen waren nie spurlos aus Wendis Leben verschwunden. Sie standen im Hintergrund ihres Herzens, nicht mehr bedrohlich, nicht mehr bedrückend, aber sie waren da.

      Das ewige Kinderweinen um sie herum, die Trostlosigkeit in den kleinen Gesichtern der anderen, die sie ihre eigene Trostlosigkeit ahnen ließ, all das war ihr unauslöschlich eingeprägt.

      »Laß nur«, pflegte Tante

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