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section> Kinderärztin Dr. Martens – 65 –

      Still und zurückgezogen lebte Roxanne Runge seit ein paar Wochen mit ihrer achtjährigen Tochter Jennifer in ihrem Elternhaus und führte ihrem Vater den Haushalt. Kaum einmal verließ sie das Haus, weil sie die mitleidigen Blicke der Menschen, die sie von klein auf kannte, einfach nicht ertragen konnte. Es war nicht immer so gewesen. Bis vor vier Monaten war sie eine glückliche und zufriedene Frau gewesen. Ein Mann, der sie und den sie liebte, dazu Jennifer, die achtjährige Tochter, eine heile, schöne Welt, die nichts je hätte trüben können, das war ihr Leben. So hatte sie jedenfalls geglaubt.

      Wie hatte sie eigentlich begonnen? Wie schon oft zuvor gingen Roxannes Gedanken auch an diesem milden Frühlingsabend in die Vergangenheit zurück, und wie ein Film liefen die Ereignisse vor ihrem inneren Auge vorbei.

      Roxanne Runge stand am Fenster der im dritten Stock gelegenen Wohnung und schaute ungeduldig hinunter auf die Straße. Es war nun schon das dritte Mal in dieser Woche, daß ihr Mann nicht pünktlich von seinem Dienst nach Hause kam. Rüdiger wußte doch, daß sie mit dem Essen auf ihn wartete. An diesem Tag brutzelte das Essen schon wieder seit über einer Stunde auf dem Herd, denn es war inzwischen fünfzehn Uhr vorbei. Es war eigentlich überhaupt nicht Rüdigers Art, wenn er schon mal Überstunden machen mußte, nicht Bescheid zu geben. Und nun in einer Woche gleich dreimal.

      Um achtzehn Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Als Roxanne öffnete, wirbelte ein zierliches Mädchen mit dunklem, naturkrausem Haar in die Wohnung. Es war Jennifer, die achtjährige Tochter Roxannes.

      »Schau nur, Mutti, was ich heute bei der Inka gemacht habe. Gefällt es dir?« Mit glänzenden Augen hielt sie ein kleines Bastkörbchen hoch. »Habe ich ganz allein gemacht.«

      »Das hast du aber wirklich sehr hübsch gemacht. Bist auch mein liebes Mädchen.«

      »Wo ist Vati? Ich muß ihm das Körbchen doch auch sofort zeigen.«

      »Vati ist noch nicht daheim, Schatz. Er muß heute wieder länger arbeiten. Du kannst es ihm ja später zeigen.«

      »Schon wieder muß er länger arbeiten, Mutti? Warum muß Vati das jetzt immer? Vati brauchte doch sonst auch nie so oft länger zu bleiben.«

      »Warum das so ist, da müssen wir den Vati fragen. Er wird bestimmt bald kommen. Bis zum Abendbrot ist es noch eine Stunde Zeit. Geh noch ein wenig in dein Zimmer und spiele. Ich rufe dich, wenn Vati inzwischen nach Hause kommt.«

      Es wurde neunzehn, es wurde zwanzig Uhr und für Jennifer Zeit fürs Bett. Rüdiger aber war immer noch nicht da.

      Eine innere Scheu hielt Roxanne davon ab, einmal in Rüdigers Firma anzurufen. Sie wollte bei ihm auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie würde ihn kontrollieren wollen. Dabei begann sie inzwischen, sich Sorgen zu machen. Ihm würde doch wohl nichts passiert sein? Aber in einem solchen Fall wäre sie bestimmt benachrichtigt worden.

      Es ging schon auf zweiundzwanzig Uhr zu, als sich endlich von außen der Wohnungsschlüssel im Schloß drehte, und wenig später Rüdiger das Wohnzimmer betrat.

      »Guten Abend, Roxi.«

      »Guten Abend, Rüdiger. Heute ist es ja wirklich reichlich spät geworden. Habt ihr so viel zu tun?« Fragend sah Roxanne den großen blonden Mann an, der irgendwie verlegen zu sein schien.

      »Muß ja wohl, sonst wäre ich ja früher gekommen«, antwortete er kurz und streifte ihre Wange mit einem flüchtigen Kuß.

      Darüber wunderte sich Roxanne noch mehr, denn normalerweise begrüßte er sie immer sehr zärtlich. Hatte sie ihn etwa verärgert?

      »Was ist, habe ich was Falsches gesagt, Rüdiger? Du bist auf einmal so anders.«

      »Unsinn, das bildest du dir nur ein. Ich bin heute nur ziemlich geschafft. Es war für mich ein anstrengender Tag. Entschuldige, aber ich werde mich sofort hinlegen. Wecke mich bitte morgen früh wie immer.«

      »Und dein Essen, Rüdiger?« fragte sie betroffen.

      »Ich habe keinen Appetit. Ich lege mich jetzt hin. Gute Nacht, Roxanne.«

      Ein paar nüchterne Worte, ohne die weiche Zärtlichkeit, die die junge Frau sonst von ihrem Mann gewohnt war.

      Ratlos und hilflos sah Roxanne auf die Tür, die sich hinter Rüdiger schloß. Sie fühlte sich verletzt. Erst viel später suchte sie das Schlafzimmer auf und ging zu Bett. In ihrem Herzen hoffte sie, daß am nächsten Tag alles wieder wie immer sein würde. Vielleicht war Rüdiger wirklich nur überarbeitet.

      Roxannes Wunsch erfüllte sich nicht. Der erste, noch feine Riß in ihrer heilen Welt war da, denn von nun an kam Rüdiger jeden Tag später. Nur am Samstag und am Sonntag blieb er daheim, aber er ging ihr aus dem Weg und beschäftigte sich nur mit Jennifer. Am Sonntagabend, Jennifer schlief schon, faßte sich Roxanne endlich ein Herz.

      »Können wir miteinander reden, Rüdiger? So geht es nicht weiter. Was habe ich bloß falsch gemacht, was ist nur auf einmal mit dir los?«

      »Kannst du mich nicht wenigstens den Film zu Ende sehen lassen?«

      »Nein, ich will jetzt mit dir reden. Ich will endlich wissen, was los ist. Wenn es an mir liegt, daß du dich so seltsam verhältst, habe ich ein Recht, es zu erfahren.«

      »Gut, reden wir, Roxanne.« Rüdiger erhob sich und schaltete den Fernseher aus. »Es liegt nicht an dir, es liegt nur an mir. Ich wollte dir nicht weh tun, und ich habe es nie für möglich gehalten, daß mir so etwas passiert. Aber es ist geschehen, und ich kann mich nicht dagegen wehren. Es tut mir leid.«

      »Ich verstehe dich nicht. Was soll das alles, Rüdiger? Kannst du dich nicht etwas deutlicher ausdrücken? Was tut dir leid? Was versuchst du, mir zu sagen?«

      »Ich werde dich verlassen, Ro­xanne. Ich liebe eine andere Frau. Ich kann ohne sie nicht mehr leben. Bitte, verzeih mir, aber ich kann nicht anders.«

      Roxanne starrte ihn mit verständnisvollen Blicken an. Aus ihrem Gesicht wich jeder Tropfen Blut. Mit zitternden Lippen stammelte sie dann: »Sag, daß es nicht wahr ist, daß das alles nur ein Scherz ist.«

      »Es ist kein Scherz, es ist die Wahrheit. Du wolltest ja unbedingt wissen, was mit mir los ist. Jetzt kennst du die Wahrheit.«

      »Bitte geh, laß mich allein«, kam es tonlos über Roxannes Lippen. Sie fühlte sich auf einmal leer und ausgehöhlt. Ihre schöne heile Welt war plötzlich nur noch ein Scherbenhaufen. Hastig wandte sie sich ab, denn sie fühlte die Tränen in sich hochsteigen. Sie biß die Zähne so heftig aufeinander, daß es leise knirschte. Nein und nochmals nein, er sollte ihre Tränen nicht sehen.

      Hinter Roxanne klappte leise eine Tür zu. Rüdiger war gegangen. Erst jetzt verlor sie ihre Fassung und schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. Acht lange Jahre und noch etwas mehr, und mit einem Schlag war alles vorbei.

      In dieser Nacht gab es für Roxanne keinen Schlaf. Irgendwann hörte sie die Wohnungstür zuklappen. Es konnte nur bedeuten, daß Rüdiger die Wohnung verlassen hatte. So eilig hatte er es auf einmal, daß er noch nicht einmal bis zum Morgen warten konnte, um sich von seinem Kind zu verabschieden. Der Gedanke an Jennifer, die völlig ahnungslos oben in ihrem Zimmer schlief, ließ die junge Frau erneut verzweifelt die Hände vor das Gesicht pressen.

      Jennifer. Wie sollte sie nur ihrem kleinen Mädchen beibringen, was geschehen war? Wie würde das Kind, das in abgöttischer Liebe an ihrem Vater hing, auf alles reagieren?

      Erst als das erste Licht des beginnenden Tages seinen Weg durch das Fenster ins Haus suchte, ging sie mit müden und schleppenden Schritten nach oben ins Schlafzimmer. Sie sah den weißen Bogen Papier sofort, der auf ihrem Nachttisch lag. Es waren nur ein paar hastig aufgeschriebene Worte, und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, als sie las:

      Verzeih, Roxanne, aber es ist wohl besser, ich gehe sofort. Um die finanzielle Seite braucht ihr Euch keine Sorgen zu machen. Geld für Euren Lebensunterhalt überweise ich auf unser Konto, das Dir wie bisher zur Verfügung steht.

      Rüdiger.

      Das war also das Ende all ihrer Träume. Was blieb, war ein Scherbenhaufen.

      In der folgenden Zeit durchlebte Roxanne

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