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      Der Bus kam und ich stieg ein. An der nächsten Ampel bog er auf die Bundesstraße ab. Sie führt zweispurig durch ein Waldgebiet hinunter ins Ruhrtal. Essener nennen diesen Streckenabschnitt gerne Werdener Berg.

      Als der Bus nach wenigen Stopps die Ruhrbrücke erreichte, erhaschte ich linkerhand einen Blick auf die Brehminsel, die den Fluss an dieser Stelle in einen Haupt- und einen Nebenarm teilt. Sie ist vom Ufer aus über eine Fußgängerbrücke erreichbar und stellt so etwas wie den Werdener Stadtpark dar. Mit ihr verbinde ich eine sehr persönliche Erinnerung, die ich mit Lotte teile. An der mir zugewandten Schmalseite der Insel, wo eine niedrige Mauer eine Art Aussichtsplattform im Dreiviertelkreis einfasst, hatte ich meine spätere Frau in einem Anflug tiefster Zuneigung zum ersten Mal geküsst. Die Erinnerung daran zauberte mir tatsächlich ein kleines Lächeln auf die Mundwinkel. Wie ein Trottel war ich gestern Nacht in die Bude gestolpert. Lottes aufbrausende Reaktion war aus nüchternem Blickwinkel betrachtet nur zu verständlich.

      Beinahe hätte ich in meinem Anflug von Romantik versäumt, den Bus am Werdener Markt zu verlassen. Im letzten Moment sprang ich durch die sich bereits schließende Tür. Knapp geschafft.

      Direkt neben der Bushaltestelle führt eine Treppe zur Kirche St. Ludgerus hinauf, deren Vorläufer bereits im 9. Jahrhundert als Abteikirche errichtet worden war. Das wusste ich, weil ich mich mal für die frühe Geschichte Essens mit ihren beiden historischen Kernen interessiert hatte, dem Stift Essen, das für die Töchter des sächsischen Adels gegründet worden war und in der City zu verorten ist, und eben die Abtei in Werden. St. Ludgerus selbst versteckte sich hinter hohen Bäumen.

      Lotte und ich unternehmen häufiger Spaziergänge hier im Stadtteil. Allerdings vom Markt aus auf die Altstadt und den Baldeneysee zu. Die Straße, zu der ich heute aufbrach, lag in entgegengesetzter Richtung. Dort war ich tatsächlich bisher nie gewesen. Nicht einmal zu meiner aktiven Zeit bei der Polizei.

      Ich folgte dem Klemensborn. Am Ende der Mauer, die das höher gelegene Gelände am linken Straßenrand abfängt, führte mein Weg am barocken Torhaus der ehemaligen Abtei vorbei. Sie beherbergt heute einen Teil der Folkwang Universität der Künste. In ihrer wechselhaften Geschichte waren die Räumlichkeiten der Abtei auch schon mal als Gefängnis genutzt worden.

      Wenige Schritte weiter erreichte ich mein Ziel, die Abzweigung in den Wesselswerth. Dort verlangsamte ich mein Tempo und schlenderte die Häuserzeilen entlang. Die Baustile hier zogen alle Register von historisch bis modern. Stuckfassaden wechseln sich mit geglätteten Fronten gleicher Baujahre, unverputzten Ziegelwänden und Nachkriegsbauten aus verschiedenen Jahrzehnten ab.

      Das gesuchte Haus lag im letzten Drittels der Straße. Ich stand vor einem Gebäude der vorletzten Jahrhundertwende. In der ersten Etage war vor nicht allzu langer Zeit ein Mord verübt worden. Seitlich führte eine Einfahrt auf einen Garagenhof. Die Haustür war relativ neu – Kunststoff mit Verzierungen, die historische Formen imitierten.

      Den Namen »Gertrud Fenger« fand ich unter der oberen Türklingel. Arnfried Nußbaum erwähnte das messingfarbige Täfelchen nicht. Vor der Haustür lag tatsächlich eine Fußmatte. Es kribbelte mir in den Fingern. Ob sie dort immer noch den Schlüssel verwahrten?

      Sollte ich … Wie könnte ich dann in die Wohnung von Gertrud Fenger gelangen? Einen Nachbarn unter irgendeinem Vorwand hinausklingeln? Ihn auf die naive Art ausquetschen, um sachdienliche Informationen einzuholen? Leider besaß ich keinen Dienstausweis mehr, der mir Türen und Menschen öffnete.

      Ich bremste mich selbst. Was trieb ich hier eigentlich? Meinen Dunstkopf spazieren tragen, ja. Aber was weiter? Was versprach ich mir von diesem Ausflug zum Tatort irgendeines Mordes? Eine plötzliche Entdeckung, auf die der gesamte Polizeiapparat bisher nicht gestoßen war? Eine geniale Momenteingebung?

      Sigi Siebert, du bist ein Träumer! Der Alkohol vom gestrigen Abend hat deine Sinne vernebelt. Du bist raus! Die Essener Kapitalverbrechen gehen dich nichts mehr an. Du hast in diesem Haus, in der Wohnung, in der Gertrud Fenger ermordet worden ist, überhaupt nichts zu suchen. Keine Tatortinspektion, keine Zeugenaussagen aufnehmen, keine Beweismittel sichern. Vorbei.

      Hin- und hergerissen zwischen diesen Polen, lungerte ich im Wesselswerth herum. Anscheinend machte mich dieses Verhalten verdächtig. Natürlich sind die Leute nach einem Verbrechen, wie es hier verübt worden war, alarmiert und beobachten das Geschehen vor ihren eigenen vier Wänden genauer als sonst. Ein Fenster rechts von der Haustür öffnete sich. Der Mann, der seine Rübe hinausstreckte, war vielleicht fünf Jahre älter als ich. Er musterte mich von oben bis unten. Ich nahm an, es handelte sich um den Großvater der Kinder, für die der Schlüssel unter der Fußmatte lag.

      »Was suchen Sie hier?«

      Die Wortwahl seiner Frage war unfreundlicher als sein Tonfall. Der Mann ertappte mich auf dem linken Fuß. Mit einer solchen Begegnung hatte ich nicht gerechnet.

      Instinktiv trat ich die Flucht nach vorn an. Zu verlieren hatte ich schließlich nichts. »Ich möchte zu Herrn Nußbaum. Der wohnt doch unter dieser Adresse, oder? Ich habe bei Fenger geklingelt, aber da macht niemand auf.«

      »Der sitzt«, klärte mich der Mann knapp und nicht ganz korrekt auf.

      Ich spann den Faden meiner Scharade weiter. »Wie, der sitzt? Wo sitzt er denn?«

      »Im Bau.«

      »Um Himmels Willen. Meinen Sie im Gefängnis?«

      »Genau.«

      Mir gelang es leidlich, den Ahnungslosen zu mimen. »Das ist ja schrecklich. Was wirft man ihm vor?«

      »Der hat seine Alte abgemurkst. Erschossen.«

      Die Feststellung des liebenswerten Nachbarn traf die Sache natürlich nicht wirklich. Soweit mir Erich gestern Abend erklärt hatte, war Arnfried Nußbaum nachweislich kein Mörder. So schnell verselbständigte sich die Gerüchteküche! Das war mir keinesfalls fremd und in meinem Beruf immer wieder begegnet. Es verriet mir immerhin, dass dieser Wachhund nicht auf Arnfried Nußbaums Seite stand.

      Ich blieb bei meiner Strategie, den Mann mit gespielter Ahnungslosigkeit zu locken: »Gibt es denn eine Frau Nußbaum? Ist Arnfried – oder war er etwa – verheiratet?«

      »Nee. Verheiratet waren die nich. Vor ungefähr einem Jahr ist der bei Gertrud eingezogen. Gertrud Fenger. Wo Sie geklingelt haben.«

      »Und Frau Fenger ist tot?«

      »Genau. Die hat er auf dem Gewissen.«

      »Ermordet?«

      »Sie sagen es.«

      Ich kratzte mich am Nacken und zog die Augenbrauen hoch. Zweite Klasse Laienschauspielschule.

      »Sind Sie sicher, dass Arnfried etwas mit dem Mord zu tun hat? Wie ich den kenne, kann der keiner Fliege etwas zuleide tun.«

      »Hat er aber wohl. Sonst hätten ihn die Bullen kaum in den Bau gesteckt.«

      »Wann soll das passiert sein?«

      »Zwei, drei Wochen ist das vielleicht her. Warten Sie. Ja genau, Ende Mai war das. Die Zeit rast …«

      »Sie müssen verstehen, ich habe Arnfried lange nicht gesehen. Durch Zufall habe ich seine Adresse herausbekommen. Und nun erfahre ich so was …«

      »War ein richtiger Schock. Mord unter dem eigenen Dach. Da läuft es einem kalt den Rücken runter.«

      »Und sie? Ich meine diese Fenger. Wie lange hat die hier gewohnt?«

      »Die war schon hier, als ich mit meiner Frau vor sieben Jahren eingezogen bin. War eine ganz Umgängliche. Manchmal war sie ein bisschen komisch. Wer ist das nicht? Wenn die Kinder im Hof gespielt haben und der Ball aus Versehen gegen ihre Karre flog, dann konnte sie richtig ausrasten. Das war das Einzige, was sie wirklich interessiert hat, diese Maschine. So ein dickes Motorrad, ’ne Honda, glaub ich. Ist jetzt verschwunden.«

      »Gestohlen?«

      »Keine Ahnung.«

      »Wo stand es denn?«

      »Das,

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