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des Bärenhotels. Das Publikum, obwohl schon zahlreich erschienen, wuselt nicht geschäftig herum. Der Altersdurchschnitt ist einfach zu hoch. So sagenhaft hoch, dass aus meinen farbigen Vorstellungen plötzlich Schwarzweißbilder werden. Vollends zeitversetzt fühle ich mich, als ich den Saal betrete, der ungefähr zweihundert Menschen Platz bietet. Von der Stuckdecke hängen Metall-Lüster, die schon auf der Titanic und der Queen Victoria geleuchtet haben. Überhaupt habe ich das Gefühl, mich im großen Saal eines gesunkenen Schiffes zu befinden. Einmal im Jahr feiern die Passagiere ihre Wiederauferstehung. Man findet sich zusammen, hängt ein paar Lampions in das Labyrinth der sepiadunklen Höhlen, leuchtet den Meeresboden aus und grinst mit den Muränen um die Wette. Beim Konzert flattern auch einige Menschen aus der Gegenwart herum. Besonders solche wie ich, die ohnehin nie wissen, in welcher Zeitzone sie sich gerade befinden.

      «Hab ich dich, du Kröte!», höre ich plötzlich die Stimme einer älteren Frau. Noch während ich mich umdrehe, bekomme ich einen dumpfen Schlag in die linke Niere, gleich darauf einen in die Leber und schließlich noch einen, den finalen und schwersten, in den Nacken. Ich gehe in die Knie und sinke langsam zur Seite, bis ich mit der rechten Wange auf dem Parkettboden aufklatsche. Dort sehe ich zwischen den kleinen, glitzernden Sternen, die überall herumschwirren, unzählige sauber polierte Konzertschuhe, deren Spitzen plötzlich alle in meine Richtung zeigen.

      «Ich wusste, dass er der Dumky-Falle nicht widerstehen kann», sagt die alte Dame grinsend, während sie mich mit groben Stricken fesselt. Die anderen Besucher, die mich lückenlos umringen, nicken zustimmend und ergötzen sich an dem Schauspiel, als hätten sie nur darauf gewartet. Die Frau, die mich wie ein Paket verschnürt, trägt den Hut eines Großwildjägers und hat eine brennende Zigarette im Mundwinkel.

      «Frau Eymann?», stammle ich in meinem Delirium, «Sind Sie das?»

      «Er hat gewildert», wendet sich die alte Jägerin an die Umstehenden, ohne auf meine Frage einzugehen, «in meinem Revier, an meinem schönen Wasser. Er und sein verbissener Komplize haben geglaubt, dass sie damit durchkommen.»

      Viele Menschen im Publikum schütteln ihre Köpfe, als könnten sie das Gehörte nur mit größter Mühe nachvollziehen. Manche der älteren Damen legen die Handfläche vor ihren Mund, der ihnen vor lauter Fassungslosigkeit offensteht. Frau Eymann, ich bin mir mittlerweile sicher, dass sie die Jägerin ist, steckt eine Stange durch meine gefesselten Hände und Füße, hebt mich in die Luft und legt sich die Stange auf ihre rechte Schulter, während ich hilflos herumbaumle wie ein Faultier an seinem Ast.

      «Platz machen!», befiehlt sie der Menge, die sich vor ihr teilt wie die Ozeanwände vor Moses. Mit mir als pendelndem Paket auf dem Rücken strebt sie der Bühne zu, die sie mit ein paar beherzten Schritten geradezu bespringt. Sie wirkt unglaublich vital. Auf der Bühne macht sie kehrt und wendet sich an die Anwesenden, die ihren Durchgang sofort wieder geschlossen haben und bis ganz an die Bühnenkante herangetreten sind. Aus dem Augenwinkel sehe ich etwas, das ebenso beunruhigend ist, wie die vielen alten Augen, die mit der glühenden Inbrunst erfolgreicher Jäger leuchten. Sie stehen kurz davor, das noch lebende Wild in Stücke zu zerlegen und an den ganzen Stamm zu verteilen.

      «Pergynti?», flüstere ich hängend und verblüfft in Richtung des Prangers, der neben mir und Frau Eymann auf der Bühne steht. Dieses Folterwerkzeug sieht aus wie eine Mischung aus einer Betbank und einem Kreuz. Aus den drei Löchern im Querbalken hängen seitlich Pergyntis Hände und in der Mitte sein Kopf. In seinem Gesicht spiegeln sich Angst, Panik und eine gewisse Ergebenheit, die ich, außer in seiner Jugend, noch nie an ihm wahrgenommen habe. Für mich war er immer der invasive Typ, aber in diesem Gestell erscheint er plötzlich selbst als Beute.

      «Wie haben sie dich denn gekriegt?», frage ich ihn keuchend, weil mich das Herumhängen anstrengt und die luftabschnürende Wucht der Schläge noch nachwirkt.

      «Im Flugzeug», presst er sich ebenso mühsam ab, «während des Fluges.»

      Auch seine Stimme klingt mitgenommen.

      «Wie bitte?», krächze ich.

      «Ja», bestätigt er angestrengt, «in zehntausend Metern Höhe. In der Luft rund um die BOEING waren plötzlich überall Besen, auf denen Frauen saßen. Angeführt von deiner Mentorin haben sie irgendwelche wahnsinnigen Tierlaute gebrüllt. Dann sind sie auf der Tragfläche gelandet und abgestiegen. Die Temperatur, der Luftzug, die Geschwindigkeit, die glatte Oberfläche der Flugzeugflügel, das alles hat ihnen überhaupt nichts ausgemacht. Und wie ich mir noch denke, gut, ihr seid auf dem Flugzeug, aber ich bin drinnen, lachen sie erst so richtig los. Mit ihren wehenden Haaren nicken sie mir zu, so nach dem Motto, fühl dich ruhig sicher. Drei Sekunden später haben sie ein Loch in die Außenwand gebissen, strecken ihre Hände durch, zerren mich aus meinem Sitz, fesseln mich und setzen mich hinterrücks auf einen ihrer Besen. Dann sind wir durch die Wolken hierher geritten.»

      «Und das Flugzeug?», frage ich verwirrt.

      «Was kümmert dich das verdammte Flugzeug?», keift er zurück.

      «Ist es weitergeflogen?»

      «Vermutlich. Aber wieso fragst du?»

      «Das muss ein ganz schön großes Loch gewesen sein. Ich meine, damit so ein Brocken wie du durchpasst, müssen die ganz schön was weggebissen haben.»

      «Ruhe», befiehlt uns Frau Eymann. Sie steckt die Stange, auf der ich hänge, in einen wuchtigen, hölzernen Ständer, sodass ich schräg vor und leicht über Pergynti pendle wie eine Karotte vor einem Esel. Dann wendet sie sich an die Menge und fragt, wer für die Höchststrafe ist. Alle Hände im Saal gehen sofort in die Höhe und stehen da wie Speere, die es gar nicht mehr erwarten können, geschleudert zu werden. Damit scheint der Fall für alle klar, außer für Pergynti und mich. Frau Eymann sieht ruhig und streng in unsere Richtung und vollstreckt das Urteil.

      «Die hier Versammelten werden euch jetzt die Leviten lesen. Die Leviten, versteht ihr! Das ist ein Gedicht, das ich vor Zeiten geschrieben habe, um auf die Zustände in meinem Forellenrevier aufmerksam zu machen, ein Revier, das ihr geschändet habt!»

      Noch während ich mich frage, welche Konsequenzen diese Schändung nach sich ziehen wird, breitet Lydia Eymann ihre Hände aus. Sie steht da wie eine Dirigentin, angespannt und hoch konzentriert. Aus den Augenwinkeln sehe ich unter den vielen Menschen auch die älteren Ehepaare, denen ich die Tür aufgehalten habe und die jetzt bis ganz an die Kante zur Bühne vorgerückt sind. Alle grinsen Pergynti und mich an, als hätten wir auch ihnen Goldfische aus dem Biotop gestohlen. Frau Eymann kostet die Stille vor der Bestrafung aus, die nach Genugtuung und Vorfreude schmeckt.

      «So wie damals den Spaniern flüssiges Gold in ihre unersättlichen Münder geschüttet wurde», erklärt sie, «werden wir euch jetzt goldene Verse in eure Ohrmuscheln träufeln. So lange, bis ihr das ganze Ausmaß eurer Sünde begriffen habt.»

      Dann gibt sie den Einsatz und zweihundert alte, aber hoch motivierte Kehlen legen los. Die ersten Worte erfüllen den Saal mit einer derartigen Wucht, dass ich nicht sofort mitbekomme, was hier gesprochen wird. Ich registriere nur, dass Frau Eymann gleichzeitig dirigiert und spricht. Ihre Stimme schwebt über dem Chor wie der Singsang einer Prophetin, die genau weiß, wie sie eine Menschenmenge in Raserei versetzt. Trunken vor gerechter Wut peitscht sie die ihr ergebene Meute an, während ich endlich anfange, die Worte zu verstehen, die hier in den Raum gehämmert werden.

      Leere Büchsen von Sardinen,

      Halbzerschlissene Gardinen,

      Knopf von einer Abee-Türe,

      Glas von Zwetschgenkonfitüre.

      Haufenweise Jätt vom Garten,

      Liebesbriefe, Ansichtskarten,

      Faule Aepfel ab der Hurd,

      Rosaroter Damengurt.

      Knüppel einer Wäscheleine,

      Abgehackte Güggelbeine,

      Deckel einer Zuckerdose,

      Fetzen einer Unterhose.

      Weißer Hafen für die Nacht,

      Röhrenteile

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