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Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke von Gottfried Keller
Год выпуска 0
isbn 9788027225873
Автор произведения Готфрид Келлер
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nicht nur unsere Neigung, sondern unsere ganze gegenseitige Art war zu ernst und zu tief, als daß ein so frühzeitiges unbeschränktes Liebkosen, Herzen und Küssen derselben hätte entsprechen können; wir waren keine Kinder mehr, und doch lagen noch zu viele Jugendjahre vor uns, deren allmähliche Blüten voraus zu brechen unsere Natur zu stolz war. Meine Phantasie war zwar schon seit geraumer Zeit, eigentlich von jeher wach; allein abgesehen davon, daß zwischen Phantasie und Wirklichkeit eine jähe Kluft liegt, hatte ich, wenn mich verlangte, schöne Frauen zu liebkosen, immer mir sonst gleichgültige, meist nicht ganz junge Weiber im Sinne, nicht ein einziges Mal aber Anna, welcher immer nah zu sein und sie mein eigen zu wissen mein einziger Wunsch war. Um wieviel mehr mußte sie betroffen sein, welche ein Mädchen und dazu tausendmal feiner, reiner und stolzer war als alle anderen! Indem ich sie so gewaltsam an mich drückte und küßte und sie in der Verwirrung dies erwiderte, neigten wir den Becher unserer unschuldigen Lust zu sehr; sein Trank überschüttete uns mit plötzlicher Kälte, und das fast feindliche Fühlen des Körpers riß uns vollends aus dem Himmel. Diese Folgen einer so unschuldigen und herzlichen Aufwallung zwischen zwei jungen Leutchen, welche als Kinder schon genau dasselbe getan ohne alle Bekümmernis, mögen vielen närrisch vorkommen; uns aber dünkte die Sache gar nicht spaßhaft, und wir saßen mit wirklichem Grame an dem Wasser, das um keinen Grad reiner war als Annas Seele. Unsere Lage war um so peinlicher, als wir uns diese Rechenschaft darüber damals nicht zu geben vermochten. Ich meinerseits befand mich in der völligsten Verwirrung. Daß wir etwas Unrechtes getan, konnte mir nicht einfallen; ich glaubte daher, daß der Vorfall irgend etwas Fremdes, Unheimliches zwischen uns ans Licht geführt, gar gezeigt hätte, daß eines von uns das andere nicht liebe; und doch fühlte ich wahrer als je meine Liebe und wagte auch nicht zu denken, daß Anna mich nicht lieben sollte. Den wahren Grund der schreckhaften Begebenheit ahnte ich gar nicht; denn ich hatte keine Ahnung davon, daß in jenem Alter das rote Blut weiser sei als der Geist und sich von selbst zurückdämme, wenn es in ungehörige Wellen geschlagen worden. Anna hingegen mochte sich hauptsächlich vorwerfen, daß sie nun doch für ihr Nachgeben, dem Feste beizuwohnen, bestraft und ihre eigene Art und Weise, unser Verhältnis nach ihrem freien und zarten Fühlen sich entwickeln zu lassen, gewaltsam gestört worden sei. Wäre ich ein paar Jahre älter gewesen als sie, so hätte ich ein gewisses Recht und damit auch die Kraft und Sicherheit gehabt, ihre Sprödigkeit zu überwinden und zu beruhigen; so aber vermehrte meine eigene Ratlosigkeit die Vorwürfe, die sie sich machte, während doch alle Schuld auf mir lag. Ja, es schien nun ausgemacht, daß eigentlich mein Plan, daß sie heute die Bruneckerin vorstellen sollte, während ich den Rudenz machte, das Ereignis herbeigeführt und daß unsere Küsse in den seltsamen Kleidern wohnten, welche wir anhatten. Jedenfalls hätte ich ohne diesen Umstand noch lange warten können, bis uns eine solche Vertraulichkeit widerfahren wäre.
Ein gewaltiges Rauschen in den Baumkronen rings um uns weckte uns aus der melancholischen Versenkung, die eigentlich schon wieder an eine andere Art von schönem Glück streifte; denn meiner Erinnerung sind die letzten Augenblicke, ehe uns der starke Südwind wachrauschte, nicht weniger lieb und kostbar als jener Ritt auf der Höhe und durch den Tannenwald. Auch Anna schien sich zufriedener zu fühlen; als wir uns erhoben, lächelte sie flüchtig gegen unser verschwindendes Bild im Wasser, doch schienen ihre anmutig entschiedenen Bewegungen zugleich zu sagen Wage es ferner nicht, uns berührend zu begegnen, bis die rechte Stunde gekommen!
Die Pferde hatten längst zu trinken aufgehört und standen verwundert in der engen Wildnis, wo sie zwischen Steinen und Wasser keinen Raum fanden, zu stampfen oder zu scharren; ich legte ihnen das Gebiß an, hob Anna auf den Schimmel, und denselben führend, suchte ich auf dem schmalen, oft vom Flüßchen beeinträchtigten Pfade so gut als möglich vorwärtszudringen, während der Braune geduldig und treulich nachfolgte. Wir gelangten auch wohlbehalten auf die Wiesen und endlich unter die Bäume vor dem alten Pfarrhause. Kein Mensch war daheim, selbst der Oheim und seine Frau waren auf den Abend fortgegangen, und alles still um das Haus. Derweil Anna sogleich hineineilte, zog ich den Schimmel in den Stall, sattelte ihn ab und steckte ihm sein Heu vor. Dann ging ich hinauf, um für den Braunen etwas Brot zu holen, da ich auf ihm noch dem Schauspiele zuzueilen gedachte. Auch forderte mich Anna gleich dazu auf, als ich in die Stabe kam. Sie war schon umgekleidet und flocht eben ihr Haar etwas hastig in seine gewohnten Zöpfe; über dieser Beschäftigung von mir betroffen, errötete sie aufs neue und ward verlegen. »Reut dich denn«, sagte ich, »dieser Tag so ganz und gar?« – »O nein!« erwiderte sie, auf ihr Kostüm deutend, welches schon zusammengelegt auf dem Tische lag, die Krone obenauf, »ich will auch diese Sachen aufbewahren, und sie sollen nie mehr getragen werden!«
Ich ging hinab, den Braunen zu füttern, und während ich ihm das Brot vorschnitt und ein Stück um das andere in das Maul steckte, stand Anna an dem offenen Fenster, ihr Haar vollends aufbindend, und schaute mir zu. Die gemächliche Beschäftigung unserer Hände in der Stille, die über dem Gehöfte lagerte, erfüllte uns mit einer tiefen und von Grund aus glücklichen Ruhe, und wir hätten jahrelang so verharren mögen; manchmal biß ich selbst ein Stück von dem Brote, ehe ich es dem Pferde gab, worauf sich Anna ebenfalls Brot aus dem Schranke holte und am Fenster aß. Darüber mußten wir lachen, und wie uns das trockene Brot so wohl schmeckte nach dem festlichen und geräuschvollen Mahle, so schien auch die jetzige Art unseres Zusammenlebens das rechte Fahrwasser zu sein, in welches wir nach dem kleinen Sturme eingelaufen und in welchem wir bleiben sollten. Anna gab ihre Zufriedenheit